2. Kapitel: Verborgenes
»Wohin gehen sie?« Ein Sturm war aufgekommen und zerrte an Asches Pelz, während sie Fliehender Rauch, Springender Rabe und der Fremden, Wirbelndes Laub, hinterher sah. Die Drei waren soeben aus dem Lager in Richtung des Risses im Boden aufgebrochen, den Asche und ihre Wurfgefährten am Tag zuvor gefunden hatten.
Zwischen den Baumwipfeln hindurch sah sie ab und an Blitze über den Himmel zucken, fernes Donnergrollen war zu hören, doch noch war das Gewitter weit entfernt.
»Sie suchen nur etwas «, antwortete Wolke, die neben Asche inmitten des Lagers stand.
Hinter ihnen turnten Wind und Käfer auf den katzenhohen Felsbrocken herum.
»Suchen sie nach Beute?«, wollte Wind wissen.
»Ich habe Hunger!«, maunzte Asche und sprang zu ihren Brüdern auf den höchsten der Felsbrocken.
Wolke tapste über die Lichtung in Richtung des Brombeerbaus. »Es wird bestimmt bald wieder etwas zu essen geben. Aber jetzt kommt erst einmal mit, hier draußen wird es langsam zu kalt und im Brombeerbau ist es wärmer. Ihr wollt doch bestimmt den Rest der Geschichte hören.«
»Ja, natürlich!«, rief Wind und stürmte gefolgt von ihren Wurfgefährten hinter Wolke her.
***
Asche kuschelte sich in ihrem Moosnest gegen die Kälte dicht an Wolkes Pelz. Der Wind pfiff durch die Lücken zwischen den Brombeerranken; sie zu stopfen hätte sich nicht gelohnt, denn sie befanden sich ohnehin nur auf der Durchreise.
Diesmal warteten die Jungen still darauf, dass Wolke mit ihrer Geschichte fortfahren würde. Eine Weile lag sie mit geschlossenen Augen da, schien sich die Szenen aus ihrer Vergangenheit wieder ins Gedächtnis zu rufen. Dann ließ sie ihren Blick noch einmal über die drei Jungen schweifen, die sie aufmerksam beobachteten, bevor sie zu erzählen begann.
»Die Stimme meines Vaters irgendwo im Lager riss mich an diesem Morgen aus dem wohltuenden Schlaf, der für so viele Sonnenaufgänge meine einzige Möglichkeit gewesen war, den Schmerzen zu entkommen. Beim ersten Mal, dass ich in Heilender Ahorns Höhle erwacht war, hatten meine Augen gebrannt wie Feuer. Kaum ein Kraut hatte die Schmerzen lindern können. Mit meinen verzweifelten Versuchen etwas zu sehen - einfach nur irgendetwas - hatte ich alles nur noch schlimmer gemacht. Heilender Ahorn hatte behauptet, ich würde für den Rest meines Lebens blind sein und so wie es aussah, sollte sie damit recht behalten. Mein Bruder hatte mir daraufhin erzählt, dass ich auf unserem heimlichen Ausflug beinahe verblutet wäre, während er noch verzweifelt nach Hilfe gesucht hatte. Zum Glück hatte mich mein Vater rechtzeitig gefunden. Ich hörte kaum zu, viel zu stark waren meine Schmerzen und die Angst davor, dass all meine Träume sich in Luft auflösen würden.
Kiesel hatte noch versucht mich zu beruhigen, doch ich hatte ihn nur angefaucht. Dennoch war er in dem ganzen Mond, der seither vergangen war, nicht von meiner Seite gewichen. Auch jetzt war er hier neben meinem Nest. Ich gähnte und stellte erleichtert fest, dass meine Wunden kaum noch schmerzten.
›Tut es noch weh?‹, fragte Kiesel leise.
Ich schüttelte den Kopf.
›Dann kannst du den Heilerbau bestimmt bald wieder verlassen.‹
›...und mit euch gemeinsam trainieren‹, ergänzte ich begeistert.
›Ja‹, stimmte Kiesel zu, wenngleich er kurz zögerte. ›Laub und ich haben bestimmt keinen großen Vorteil dir gegenüber. Deinen Langen Namen wirst auch du dir schon noch verdienen. Wahrscheinlich sogar noch eher als ich. Hier unten sehen alle Katzen nicht viel.‹
Und trotz der Dunkelheit können FinsterClan-Katzen hier jagen und kämpfen, wenn es sein muss, fügte ich in Gedanken hinzu. All die Patrouillen mögen in den Territorien der Licht-Clans stattfinden, der drei Clans an der Erdoberfläche, doch ich bin eine Katze aus der Finsternis. Was ich hier unten schaffe, ohne zu sehen, schaffe ich auch dort oben!
Aber ich wusste auch, dass es noch eine weitere Möglichkeit gab, auch wenn diese mir so ganz und gar nicht gefiel. Ich sollte lernen, unsere Ahnen, die Wisperkatzen zu sehen, wie es die Katze gesagt hatte, die mich verletzt hatte. Und wie es auch später Heilender Ahorn vorgeschlagen hatte. Dann würde ich die nächste Sehende des FinsterClans sein. Wenn ich denn überhaupt das Talent hatte, das dafür nötig sein würde - was ich nicht so recht glauben konnte. Seufzend rollte ich mich in meinem Nest auf die andere Seite. Ich wollte nicht werden wie Sehender Schatten, diese verrückte Alte, die in ihrer eigenen Welt lebte. Zum Glück war mein Vater Anführer, ich würde also nur mit ihm reden müssen, um meine Ausbildung zur Kriegerin beginnen zu dürfen.
›Alle Katzen, die alt genug sind, außerhalb der Höhlen durchs Tageslicht zu wandern, fordere ich auf, sich hier zu einem Clantreffen zu versammeln.‹ Überrascht spitzte ich die Ohren. Gerade hatte ich noch an meinen Vater gedacht und schon rief der den Clan zu einer Versammlung zusammen. Bestimmt stand er jetzt auf dem Felsvorsprung, von dem vor vielen, vielen Blattwechseln einmal einen Wasserfall in das inzwischen ausgetrocknete Flussbett herab gerauscht war.
Ich sprang in meinem Moosnest auf und stolperte über den unebenen Boden in Heilender Ahorns Bau in Richtung der Stimme meines Vaters. Doch schon nach wenigen Schritten verfing ich mich mit meiner Pfote hinter einem Stein, knickte um und stürzte unsanft zu Boden.
›Au!‹, zischte ich leise.
›Lass uns einfach hier sitzen bleiben.‹ Kiesels Schritte verstummten neben mir und bald darauf spürte ich sein Fell neben meinem.
Etwas widerwillig nickte ich, während mein Vater zu sprechen begann. ›Katzen des FinsterClans! Wir leben in schweren Zeiten. Groß Teile der Licht-Clans sind inzwischen nicht mehr bereit, an etwas zu glauben, was nie eine Katze ihres Clans zu Gesicht bekommen hat. Sie verlieren den Glauben an ihre Ahnen und wenden sich auch vom FinsterClan ab. Damit wir auch weiterhin die Erlaubnis haben, in ihren Territorien zu jagen, müssen wir uns mehr denn je beweisen. Deshalb freue ich mich, dass wir uns in Zukunft auf die Hilfe zweier weiterer Clanmitglieder verlassen können! Laub und Kiesel, ihr werdet nun zum ersten Mal eine Patrouille ans Tageslicht begleiten. Von nun an werden euch unsere Krieger alles beibringen, was ihr wissen müsst. Jede Katze mit einem langen Namen soll ihre wertvollsten Talente an euch weitergeben, sodass auch ihr zu vollwertigen Kriegern heranwachst.‹
›Kiesel! Laub!‹ Meine Mutter war die erste, die die Namen der beiden rief und ein paar Herzschläge später schloss sich auch der restliche Clan an.
Nur ich blieb stumm; meine Kehle war wie zugeschnürt. Erstarrt saß ich da, mit jedem Wort, das mein Vater gesprochen hatte, war meine Bestürzung gewachsen. Meine Geschwister würden das Lager verlassen und oben an der Erdoberfläche Abenteuer erleben. Aber ich würde nicht dabei sein.
›Nein!‹ Fallender Steins Schrei übertönte die Jubelrufe meiner Clangefährten und riss mich aus meiner Starre. ›Du kannst sie noch nicht auf Patrouille mitnehmen! Du hast selbst gesagt, dass die Licht-Clans uns Probleme machen. Wir müssen endlich anfangen, unsere Jungen hier zu trainieren, wo sie in Sicherheit sind, bevor sie unser Territorium das erste mal verlassen.‹
Augenblicklich wurde es still in der Höhle. Jeder wusste, warum gerade Fallender Stein diejenige war, die so heftig widersprach. Keine vier Sonnenaufgänge war es her, dass sie ihren Sohn bei einem Kampf auf NebelClan-Territorium verloren hatte.
Einige Herzschläge lang blieb alles still und ich dachte schon, niemand würde es wagen, zu widersprechen, als Rennender Fuchs rief: ›Sie werden von den älteren Katzen beschützt. Natürlich ist die Gefahr dort größer als hier, doch ist es nicht genau das, was sie als Krieger erwartet, das worauf sie vorbereitet werden sollen?‹
›Vorbereitet durch Training! Training hier in der Höhle! Sollen sie dort draußen sterben, ohne nie wirklich trainiert zu haben, nur weil sie von der Kinderstube direkt in feindliches Territorium geschickt werden?‹
›Fremdes Territorium, kein feindliches‹, verbesserte Rennender Fuchs. ›Außerdem...‹
›Rennender Fuchs hat Recht‹, schnitt ihm Jagender Sturm das Wort ab. ›Es war immer schon die Tradition unseres Clans, den Jungen in Laubs und Kiesels Alter das Jagen und Kämpfen beizubringen. Das ist oben im Tageslicht leichter als hier unten in der Finsternis. Außerdem werden sie beschützt und sind nicht dort, um in Schlachten zu kämpfen. Meine Entscheidung steht fest, die Versammlung ist beendet.‹
Überall im um mich herum diskutierten meine Clangefährten über die erste Patrouille meiner Wurfgefährten, doch nur im Flüsterton. Niemand widersprach mehr laut.
›Vater!‹ Ich tastete mich durch unser Lager voran, dorthin, wo ich Jagender Sturm vermutete. Am liebsten wäre ich gerannt. Wenn ich nur hätte sehen können, wohin ich meine Pfoten setzte! ›Jagender Sturm!‹
›Was ist denn los?‹ Ich zuckte zusammen, als ich Jagender Sturms Stimme direkt neben mir hörte.
›Ich will mitkommen ans Tageslicht. Es ist nicht fair, dass ich hier bleiben muss.‹
›Es ist schrecklich, wenn Träume platzen‹, miaute mein Vater. ›Aber ich denke, es ist das Beste für dich, wenn du Sehende wirst, Wolke. Möglicherweise haben die Ahnen dieses Schicksal für dich bestimmt.‹
›Meine Zukunft nehme ich lieber in die eigenen Pfoten‹, knurrte ich aufgebracht, ›als sie von etwas namens Schicksal bestimmen zu lassen.‹
›Du musst der Wahrheit ins Auge blicken...‹
›...dass ich keine andere Wahl habe, als eine Sehende zu werden?‹, unterbrach ich meinen Vater. Ich spuckte die Worte aus wie ein Stück Krähenfraß. ›Das scheint mir auch so, denn schließlich gibt man mir nicht einmal eine Möglichkeit, etwas anderes zu versuchen... Ich dachte, du würdest mich verstehen. Oder es zumindest versuchen. Aber offenbar habe ich mich da geirrt.‹
›Es wäre eine große Ehre die Sehende des FinsterClans zu sein.‹ Ich knurrte leise, doch Vater schien es nicht zu bemerken, er redete unbeirrt weiter. ›Unser Clan ist der einzige, der eine Sehende hat. Nur wir können mit unseren Ahnen, den Wisperkatzen, kommunizieren. Jede Prophezeiung die die anderen Clans betrifft, müssen wir ihnen überbringen. Und das ist auch gut so. Was sollte die Licht-Clans sonst dazu bringen, uns in ihren Territorien jagen zu lassen? Was sollte sie sonst dazu bringen, uns nicht einfach verhungern zu lassen?‹
›Es gibt genug andere Katzen hier. Warum können die nicht einfach Sehende werden?!‹ Wütend wirbelte ich herum und stolperte über den unebenen Boden davon, als ich hinter mir ein Seufzen hörte. ›Nun gut. Du sollst deine Chance erhalten. Du darfst mit deinen Geschwistern trainieren, solange es nicht gleich in den LichtClan-Territorien ist. Vorausgesetzt, du bittest Sehender Schatten, dich zu unterweisen und machst auch in ihrem Unterricht Fortschritte.‹
›So machen wir es‹, stimmte ich zu, auch wenn ich noch immer nicht ganz zufrieden war. Ich hatte erwartet, dass ich bei diesem Gespräch mehr erreichen würde.
***
›Jagender Sturm hat mir befohlen, dich zu bitten, mich zu unterweisen.‹ Es war bereits Sonnenuntergang, als ich mich endlich dazu durchgerungen hatte, mit Sehender Schatten zu sprechen.
›Mir befohlen, dich zu bitten‹, widerholte Sehender Schatten. ›Eine recht merkwürdige Bitte, wie mir scheint.‹
Ich hörte ihre Schritte, als sie um mich herum tappte; ein kühler Luftzug streifte mein Fell. ›Willst du nun von mir lernen oder nicht?‹
›Ich möchte Kriegerin werden, aber Jagender Sturm...‹, begann ich.
›Kein Ausreden‹, schnitt mir Sehender Schatten das Wort ab. ›Wenn dich die Ausbildung zur Sehenden nicht interessiert, können wir uns die Mühe auch gleich ersparen. Reagierst du auf jedes meiner Worte mit Ablehnung - und das wirst du, so wie ich das sehe - dann wirst du auch nichts lernen. Nein, so werde ich dich nicht unterrichten. Und nun geh.‹
›Aber...‹
›Kein Aber. Ich sagte geh! Du darfst wiederkommen, wenn du von deinem Vorhaben auch wirklich überzeugt bist. Vorher will ich nichts mehr von dir hören.‹
Schritte ertönten, wurden langsam leiser, während sie sich entfernten. Sehender Schatten ließ mich einfach dort stehen und ging. Mit jeder Mauselänge, die sie zurücklegte, schwand meine Chance, meine Wurfgefährten eines Tages als Kriegerin des FinsterClans in die LichtClan-Territorien begleiten zu können. Wütend sträubte ich mein Fell. Nicht nur, dass Jagender Sturm sich weigerte, mich mit meinen Wurfgefährten zu den Licht-Clans gehen zu lassen, nein, nun wollte noch nicht einmal mehr die Sehende mir helfen!
›Sehender Schatten!‹, brüllte ich, so laut ich nur konnte. Während ich auf eine Antwort wartete, stellte ich mir voller Genugtuung vor, wie sich alle Katzen in der Höhle neugierig zu mir umdrehten. Sollten sie ruhig merken, wie ungerecht ich behandelt wurde! Wenn mir niemand Aufmerksamkeit schenken wollte, würde ich eben darum kämpfen.
Niemand antwortete mir. Ich lauschte noch einen Augenblick dem Schweigen, dann fuhr ich fort: ›Gib mir doch wenigstens eine Chance! Was hast du denn zu verlieren?‹
Wieder folgte Stille. Gespannte, erdrückende Stille.
Dann endlich hallte Sehender Schattens Stimme durch die Höhle. ›Das klingt doch schon besser, etwas motivierter, wenngleich ich noch nicht überzeugt bin. Aber lass uns zu meinem Nest gehen, ich möchte dir eine Geschichte erzählen. Alles Weitere werden wir danach entscheiden.‹
Wenige Herzschläge später war die Sehende neben mich getreten, hatte mir den Schweif über den Rücken gelegt und führte mich über den unebenen Höhlenboden in Richtung Wisperstein, neben dem sich ihre Schlafkuhle befand.
Meine Pfote blieb an einem Stück Moos hängen, ich stolperte und purzelte in Sehender Schattens Nest. Über mir hörte ich ein amüsiertes Schnurren.
›Das ist nicht witzig!‹, fauchte ich und schüttelte mir das Moos vom Leib, das mir ins Fell pikste.
›Entschuldige.‹
Unter meinen Pfoten bewegte sich das Nestpolster, dann spürte ich Sehender Schattens Pelz an meiner Seite.
›Wenn ich dich wirklich unterrichten soll, solltest du erst einmal erfahren, was es bei mir überhaupt zu lernen gibt‹, begann Sehender Schatten. ›Du hast doch bestimmt schon einmal von den Wisperkatzen gehört, oder?‹
›Natürlich habe ich das! Sie sind unsere Ahnen und du kannst mit ihnen sprechen.‹ Hielt sie mich für blöd? Jedes winzige Junge kannte Geschichten über die Wisperkatzen.
›Ja, da hast du recht. Ich möchte dir noch ein wenig mehr erzählen, eine alte Legende, die von Sehendem zu Sehendem, von Generation zu Generation weitergegeben wird...‹
Ich bezweifelte zwar, dass die Sehende mir etwas Spannendes erzählen würde, dennoch schwieg ich, wartete nur, bis sie fortfuhr.
›Alles begann vor vielen, vielen Blattwechseln im SonnenClan, im NebelClan, im FichtenClan und im BachClan, die wir heute als Licht-Clans kennen. Damals gab es ihr Gegenstück, den FinsterClan, noch nicht. Die Gründer dieser Clans brachten den Glauben an den SternenClan mit, Kriegerahnen, die am Silbervlies wohnten. Doch die Sternenahnen kamen von fremden Himmeln und schon bald merkten sie, dass hier etwas anders war als daheim. Eine unbekannte Macht zerrte sie zurück auf den Erdboden. Die Kraft des Wispersteins.
Dieser einfache Felsbrocken ermöglichte es den Kriegerahnen, dauerhaft unter den Lebenden zu wandeln und schuf so neben dem SternenClan ein weiteres Reich der Toten. Als dann nach einem schweren Unglück ein Großteil der Licht-Clans ihren Glauben an den SternenClan aufgab, folgten mehr und mehr SternenClan-Krieger dem Ruf des Wispersteins und stiegen für immer aus ihrem Land am Silbervlies hinab auf den Erdboden. Fortan wohnten Lebende und Tote im selben Lager, plauderten miteinander über Bedeutsames wie Belangloses und waren einander so näher als je zuvor. Einzig die SonnenClan-Ahnen waren am Silbervlies geblieben, denn im weiter außerhalb liegenden SonnenClan-Territorium war die Kraft des Wispersteins viel zu schwach.
Blattwechsel um Blattwechsel verstrich und die Ahnen am Erdboden wurden immer zahlreicher. So zahlreich, dass der Wisperstein am Ende nicht mehr genügend Macht für sie alle entbehren konnte. Mit jedem weiteren Tod verblassten die Ahnen ein Stück mehr und eines Tages wurden sie gar nicht mehr gesehen. Wer nun starb verschwand für immer aus dem Leben seiner Clangefährten.
Einzig und allein der SonnenClan hatte seine Ahnen nicht verloren. Vielleicht war es nur Neid. Vielleicht gaben die übrigen Licht-Clans vor lauter Unwissen aber auch dem SonnenClan die Schuld für das Verschwinden ihrer Toten. Was auch immer der Grund gewesen sein mag, schon bald befanden sich die Clans im Krieg. FichtenClan, NebelClan und BachClan hatten sich gegen den SonnenClan verbündet. Letzterem brachte es nicht viel, dass er als einziger noch auf die Hilfe seiner Kriegerahnen vertrauen konnte. Nach nur einer einzigen blutigen Schlacht war er geschlagen. Ein Teil der Unterlegenen floh, ein anderer wurde von den Siegern unter die Erde verbannt. Dies war der Ursprung des FinsterClans... Aber damals war unser Clan noch nicht der, der er heute ist. Inzwischen sind wir bei den Licht-Clans willkommene Gäste, doch damals hätte man jede Katze getötet, die versuchte, aus der Verbannung zurück ans Tageslicht zu kommen. Die Katzen hungerten, denn nur selten verirrte sich Beute in das Labyrinth aus Gängen und Höhlen, das fortan unser Territorium sein sollte.‹
›Ist das wirklich alles so geschehen?‹, unterbrach ich Sehender Schatten.
›Es ist nur eine alte Legende. Sie hat sicherlich einen wahren Kern‹, miaute sie. ›Aber lass mich weiter erzählen: Eines Tages wurde ein Kater namens Regen geboren, blind wie du und ich. Während seine Wurfgefährten sich an Schatten anschlichen und rauften, kletterte er am liebsten auf den Wisperstein, lag dort den Tag und Nacht und sprach mit unsichtbaren Katzen. Man hielt ihn für verrückt. Genauso wie man glaubte, unsere Ahnen seien für immer verloren.
Doch Regens Clangefährten irrten sich. Was er hörte, was er sogar sah waren die Wisperkatzen. Die Geister, die die Kraft des Wispersteins unter sich aufteilten. Sie waren niemals verschwunden gewesen, sie waren lediglich leiser geworden, leiser und blasser. Die Welt aber war laut und farbenprächtig und die Wisperkatzen waren in dieser Pracht, diesem Lärm einfach untergegangen. Du musst es dir so vorstellen...‹ Die Sehende senkte ihre Stimme zu einem Flüstern. ›... du verstehst mich, obwohl ich nur ganz leise spreche, denn um uns herum ist es still. Doch nun stelle dir einmal vor, dein Vater würde in diesem Moment erneut die erste Patrouille einiger Jungen ankündigen und die Jubelrufe würden von den Höhlenwänden wiederhallten. Du würdest mich nicht hören, obwohl meine Worte noch immer da wären, verborgen unter den Rufen deiner Clangefährten. Und so ist es auch mit der Welt der Wisperkatzen, die verborgen ist unter unserer Welt. Daher kommt auch der Name, Wisperkatzen, weil ihre Stimmen von beinahe allem übertönt werden.
Hier unten jedoch, wo der Lärm der Welt von Erde und Gestein über unseren Köpfen gedämpft wird, wo wir keine Farben sehen, weil kein Licht scheint - oder weil wir blind sind - wo der die Macht des Wispersteins am größten ist, wurden die Wisperkatzen von dem ersten Sehenden wiederentdeckt. Schließlich lernten die Sehenden sogar, in der Welt der Licht-Clans alles auszublenden, um auch dort die Fetzen des Wisperkatzen-Territoriums zu sehen, die noch geblieben sind.‹
Ich hatte Sehender Schatten aufmerksam zugehört. ›Und warum hast du mir all das nun erzählt?‹
›Ich werde dich nun in Heilender Ahorns Bau zu deinem Nest zurückführen. Denke nach, was es bedeutet, eine Sehende zu sein und ob wirklich von mir unterrichtet werden willst. Sobald du eine Antwort für mich hast, komm zu Wisperstein. Er sollte für dich am leichtesten zu sehen sein. Findest du den Weg allein, unterrichte ich dich.‹
***
›Wolke, da bist du ja! Ich habe auf dich gewartet. Ich werde gleich zu den Licht-Clans aufbrechen und wollte mich von dir verabschieden.‹ Bei meinem Nest wartete Kiesel bereits auf mich. Sehender Schatten verabschiedete sich von mir und ich stolperte die letzten paar Pfotenschritte allein zu meinem Bruder hinüber.
›Wenn es nach mir ginge, würdest du das nicht müssen, dann würde ich einfach mitkommen‹, knurrte ich.
›Bestimmt wird aus dir eines Tages eine große Kriegerin‹, miaute Kiesel. ›Vielleicht wartet Jagender Sturm nur noch etwas mit deiner Ausbildung.‹
Ich seufzte und begann ihm von meinem Gespräch mit unserem Vater zu erzählen und von den Aufgabe, die Sehender Schatten mir aufgetragen hatte. ›...Bestimmt habe ich diese Gabe, die Wisperkatzen zu sehen, gar nicht und dann kann ich nicht ausgebildet werden und Jagender Sturm erlaubt mir niemals, Kriegerin zu werden‹, schloss ich. In Gedanken verfluchte ich die Katze, die mir in dem Felsspalt aufgelauert hatte. Irgendwann, so schwor ich mir, würde ich mich dafür rächen!
›Hast du gesehen, wer mich verletzt hat?‹, fragte ich Kiesel leise.
Er war doch da gewesen, ich hatte ihn in dem ausgetrockneten Flussbett zurückgelassen, bevor ich der Stimme in den Felsspalt gefolgt war...
›Das war... also... nein‹, stotterte Kiesel. ›Ich... ich habe nichts gesehen. Aber ich muss jetzt auch los. Die Patrouille, wir wollten bald aufbrechen und... ich will sie nicht warten lassen.‹
Ich lauschte seinen Schritten, als er davon tappte und fragte mich, was er mir verschwieg. Er hatte sich auf einmal so nervös angehört. Irgendetwas wusste er und es machte ihm Angst...«
Wolke verstummte, den Blick in weite Ferne gerichtet. Einige Herzschläge verstrichen, dann erst musterte sie die drei Jungen, die ihr die ganze Zeit über gespannt gelauscht hatten. »In dieser Nacht dachte ich lange über meine Zukunft im FinsterClan nach. Und darüber, wie sehr ich es hassen würde, ein Leben als Sehende zu führen. Nach Abenteuern klang das nämlich nicht, es schien langweiliger zu sein als alles andere.«
Draußen auf der Lichtung trommelten Pfoten über den Boden.
»Wolke!« Die Panik in Fliehender Rauchs Stimme war nicht zu überhören. »Schnell! Wirbelndes Laub ist verletzt!«
Der Sturm, der noch immer am Brombeerbau rüttelte, trug den Geruch nach Blut und Angst zu Asche hinüber. Die Geschichte, die sie eben noch gehört hatten, war auf einmal nebensächlich.
Wolke war bereits aufgesprungen und eilte auf den Ausgang des Baus zu. Als die Jungen ihr folgen wollten, versperrte sie ihnen mit dem Schweif den Weg. »Ich mag blind sein, aber eure Schritte höre ich sehr gut. Ihr bleibt in eurem Nest.«
»Das ist unfair!«, maulte Wind.
Asche hingegen blieb still und wartete, bis Wolke aus dem Bau verschwunden war. Dann erst schlich sie an der Wand aus Brombeerranken entlang und spähte vorsichtig hinaus auf die Lichtung. Im Gras, nur wenige Fuchslängen entfernt, lag die graue Kätzin, die Wolke so ähnlich sah. Blut tropfte aus einer Wunde, die sich quer über ihren Bauch zog und hatte unter ihr bereits eine Pfütze im Gras gebildet. Noch schien Wirbelndes Laub zu atmen, doch möglicherweise war es auch nur ein Luftzug, der ihr durchs Fell fuhr. So genau konnte Asche das von ihrem Platz im Brombeerbau aus nicht erkennen. Angst packte sie. Wie eine scharfe Kralle schnitt sie in ihr kleines Herz, das immer schneller und schneller in ihrer Brust pochte.
Wolke und Springender Rabe drückten Spinnenweben auf Wirbelndes Laubs Wunden.
»Wer war das?«, wollte Wolke wissen.
»Fallender Stein, Rennender Fuchs und einige andere.« Springender Rabes Stimme zitterte. »Sie haben zuerst mich angegriffen. Wirbelndes Laub wollte mich retten.«
Clannamen!, stellte Asche fest. Schon seit Monden befanden sie sich auf der Flucht. Doch ihre Feinde waren nie aufgetaucht, ihre Verfolger waren nur schemenhafte Schattengestalten in Asches Fantasie gewesen. Nie hatte sich die Gefahr so real angefühlt. Nie hatte sie eine solche Angst davor verspürt, dem Grauen bald Auge in Auge gegenüberzustehen...
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