Der dritte Auftrag

Wind strich durch den Düsterwald und ließ die Bäume mit ihren spitzen Wipfeln hin und her schaukeln. Ein Rabe breitete seine Schwingen aus. Die schwarzen Federn leuchteten im Mondlicht silbern auf und erinnerten an das Spiegelbild der Sterne in einem klaren Fluss. Genau wie der, über den der Vogel hinwegflog. Die Wellen brachen sich sanft an den Felsen, die aus dem Wasser emporragten, und bedeckten es mit einer weißen Schicht.

Der Rabe flog weiter, bis er über einer kleinen Lichtung schwebte. Shadow betrachtete das schwarze Tier, das in seiner Familie als Bote des Schicksals bekannt war.

Wie passend..., dachte der Kater verdrossen und richtete seinen Blick wieder auf seine Pfoten. Seit drei Sonnenaufgängen war seine Mutter von ihm gegangen, doch es kam ihm vor, als wäre er gerade von ihrer letzten Ehre gekommen. Er erinnerte sich noch genau, wie Donner und Gewitter Finsternis in das Loch in der Erde getragen und schließlich begraben hatten.

Seufzend sah Shadow sich im Lager um. Keiner wagte es, sich ihm zu nähern. Nur ab und zu kamen Black und Dunkelheit vorbei und boten ihm etwas zu fressen an. "Du verhungerst noch.", hatte sein Freund ihm gesagt.

Aber Shadow war nicht nach fressen zumute. Es fühlte sich falsch an, unter den Lebenden zu weilen, während seine Mutter es nie wieder konnte.

Auf einmal tippte ihn jemand an der Schulter an und er sah überrascht auf. Dunkelheit lächelte ihm aufmunternd zu. "Düster hält gleich seine Ankündigung. Er sagt, dass du trotz...trotz der Umstände teilnehmen musst.", miaute sie sanft. "Hör zu, ich weiß, dass im Moment alles schwierig ist. Doch du musst nach vorne sehen! Das würde Finsternis wollen."

Shadow antwortete nicht. Erzähl du mir nicht, was sie gewollt hätte.

Mit einem aufmunternden Nicken drehte Dunkelheit sich um und tappte zu Schatten, die ihr eifrig über die Stirn leckte. Shadow knurrte in sich hinein. Wenn Finsternis nur hier wäre...

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"Seit ewigen Blattwechseln lebt der Stamm der Nacht jetzt schon in diesen Gebieten. Wir kämpften, wir töteten und wir gaben unsere Leben." Düster ließ seinen Blick über den Stamm der Nacht gleiten. Shadow schluckte, als er diese Worte hörte. Wie können wir das nur jeden Mond wiederholen? Wie lange wird es dauern, bis jemand wieder sein Leben für diesen Irrsinn lässt? Vielleicht hat das auch schon längst jemand, es wird nur nie wieder gesagt. Sterben nicht sowieso schon genug Katzen?

"Doch diese Nacht", fuhr Düster fort, "Werden wir kein Blut vergießen. Dieses Mal werden wir uns für unsere Sicherheit innerhalb des Territoriums einsetzen. Wir werden auf Eulenjagd gehen!"

Aufgeregtes Jubeln ertönte, doch Shadow sah den dunklen Kater zweifelnd an. Er hatte bereits von der Eulenjagd gehört, doch soweit er wusste, war die letzte schon ein paar Blattwechsel her. Dennoch konnte Düster es schönreden, wie er wollte. Es war nach wie vor eine Jagd, nur dieses Mal nicht nach Katzen. Zum Ende hin würde so oder so Blut an jeden Pfoten kleben.

Ein paar Schwanzlängen neben Shadow saß Mond. Ihr Verhältnis hatte sich auch nach Finsternis Tod nicht verbessert. Wieso denn auch? All die anderen liegen falsch, wenn sie sagen, dass uns der gemeinsame Tod einer geliebten Katze wieder zusammenbringen wird. Was für ein Fuchsdung! Sie tun so, als ob ihr Tod etwas Gutes war, aber das war es nicht. Nichts daran war gut und nichts wird je wieder gut sein!

Trotzdem riskierte der schwarze Kater einen kurzen Blick über die Schulter. Mond schien zu seiner Überraschung beruhigt darüber, dass sie auf Eulenjagd gehen würden. Könnte das mit ihren Gefühlen zusammenhängen? Macht sie sich um jemanden Sorgen? Shadow hatte sich daran gewöhnt, dass seine Schwester nichts mehr mit ihm teilte, doch was sie fühlte, konnte sie nicht vor ihm verbergen - ob er es wollte oder nicht.

"Ihr werdet in mehreren Gruppen losziehen." Düsters Augen leuchteten erwartungsvoll auf. "Nur die Beschützer, die Jungen, die Ausbilder, die Hüter und ich werden hierbleiben, damit niemand das Lager überfällt. In jeder Gruppe werden etwa gleich viele sein, also hat jeder die gleichen Chancen."

"Die gleichen Chancen wofür?", rief Tornado.

Düster lächelte begeistert, als hätte er darauf gewartet, dass jemand diese Frage stellen würde. "Die Gruppe, die die meisten Eulen tötet, muss nächsten Neumond nicht losziehen."

Fassungsloses Tuscheln ertönte und Shadow könnte hören, wie die Katzen bereits darum stritten, wer mit wem in eine Gruppe durfte.

"Ruhe!" Düsters bestimmtes Miauen ließ den Stamm der Nacht verstummen. "Ich teile die Gruppen ein."

Shadows spürte, wie sich ein warmes Gefühl in ihm breit machte. Erleichterung. Anders hätte niemand mit ihm arbeiten wollen und auch wenn es vielleicht nur Einbildung war, hatte er das Gefühl, als hätte Düster genau das gewusst. Jedoch widersprach es ihm, auch nur einen Funken Glückes zu verspüren und sofort erlosch die Wärme in seinem Bauch.

"In der ersten Gruppe sind Rauch, Eule, Klaue, Dunkelheit und Dark. In der zweiten Schatten, Narbe, Blut, Wolf und Mond. In der dritten sind Tunnel, Donner, Krähe, Gewitter und Dunkelheit. Und in der letzten Tornado, Rabe, Shadow, Sichel und Natter.

Es herrschte Schweigen. Jeder schien in Gedanken seine Mitglieder durchzugehen und sich seine Chancen zu berechnen. Dann, nach ein paar weiteren Herzschlägen, stürmten die Katzen wild durcheinander. Shadow stolperte überrascht zurück, als einige sich grob an ihm vorbeidrängten. Ohne sich groß angestrengt zu haben, wurde der Kämpfer zu Rabe durchgeschoben, der ihn rasch an den Rand führte.

"Sichel, Tornado, Natter? Wir sind hier!", rief der schwarz-getigerte Kater über den Lärm hinweg. Shadow blinzelte, um sich einen Überblick zu verschaffen. Die Gruppen hatten sich inzwischen recht gut aufgeteilt, nur ab und zu huschte noch jemand über die Lichtung, da er sich vermutlich vertan hatte.

Vor Shadow hatten sich ebenfalls die restlichen Gruppenmitglieder versammelt. Sichel drehte sich zu ihm um und nickte aufmunternd. Der schwarze Kater dankte Düster im Stummen, dass er ihn nicht mit Mond oder Krähe zusammengetan hatte.

"Also" Düster richtete sich auf und bedeutete den Katzen, ihm zuzuhören. "Jede Gruppe wird gleich nacheinander losziehen, sodass ihr euch möglichst nicht in die Quere kommt. Wer bis Sonnenaufgang nicht hier ist, der..." Er machte eine Pause und warf den einzelnen Gruppen warnende Blicke zu. "Der wird für drei Nächte auf das Territorium vom Stamm des Lichtes verbannt."

Shadow keuchte entsetzt. Die meisten Katzen - abgesehen von den besten Kämpfern des Stammes - taten es ihm gleich. Wie sollte er das überleben?

"Dürfen wir in der Gruppe bleiben?", fragte Dark nervös.

Düster neigte zustimmend den Kopf und miaute: "Natürlich, schließlich wollen wir niemanden in den sicheren Tod schicken. Und wir wollen ja hoffen, dass es nicht soweit kommen muss."

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch reihten Shadow und seine Gruppe sich hinter denen von Rauch und Schatten ein. Natter trat an seine Seite, sodass sich fast ihre Felle streiften. "Ein falscher Schritt und du bist tot.", zischte sie ihm ins Ohr. Shadow schluckte. Er war noch nie ein Freund von Natter und ihrer bedrohlichen Art gewesen. Geschweige der von Wolf. Und seit Sashas Tod schienen die Geschwister ihn noch mehr zu hassen. Verständlich. Immerhin bin ich Schuld am Tod ihrer Schwester.

Während er sich fragte, ob Natter ihn wohl im Notfall retten würde, gab Düster der ersten Gruppe das Zeichen zum Start. Die fünf Katzen stürmten mit wehenden Fellen davon. Wahrscheinlich nicht., vermutete Shadow verdrossen. Doch er stellte sich vor, dass es schlimmeres geben könnte, als von einer Eule zerfleischt zu werden. Außerdem würde er dann endlich seine Mutter wiedersehen.

Trauer klammerte sich um sein Herz, als er sich vorstellte, zusammen mit seiner Mutter durch die Wälder zu laufen und sich keine Sorgen um Tod oder Hunger zu machen.

Plötzlich wurde Shadow von Rabe angestoßen, der ihn mahnend ansah. "Bleib konzentriert! Gleich sind wir dran."

Der schwarze Kämpfer riss überrascht den Kopf hoch. Tatsächlich lief bereits die zweite Gruppe los und verschwand aus dem Lager. "Ich habe nur-"

"Du musst mir keine Erklärung darbieten. Hauptsache, du nimmst das hier ernst, verstanden?", unterbrach der schwarzgetigerte Kater ihn barsch. Shadow nickte schnell, um den älteren Kämpfer nicht noch weiter zu erzürnen. Er wollte keine Probleme mit Rabe, auch wenn es ihn im Moment reizte, auf ihn loszugehen. Ich muss mich unter Kontrolle haben!

Dann kam das Zeichen. Düster schlug seinen langen Schweif zu Boden und die vier Katzen um Shadow herum rannten los, der schwarze Kater mit eingeschlossen. Sichel und Tornado bildeten die Spitze, hinter ihnen Rabe und Natter und ganz zum Schluss versuchte der ehemalige Stellvertreter, mit ihnen mitzuhalten.

"Schneller, wir müssen zum Nachtfall. Dort sind zu dieser Zeit besonders viele Eulen.", rief Tornado ihnen zu, ohne sich umzudrehen.

"Genau.", pflichtete Sichel ihm bei. "Und wenn wir Glück haben, sind die anderen nicht auf diese Idee gekommen."

Shadow bezweifelte zwar, dass sie die einzigen dort sein würden, behielt diesen Gedanken jedoch für sich. Zum Glück der Gruppe lag der Nachtfall nicht weit vom Lager entfernt, sodass sie bereits nach einem kurzen Lauf bei dem kleinen Wasserfall angekommen waren.

Keuchend blieb Shadow stehen und sah sich um. Er war schon mehrere Male mit seinen Ausbildern an diesem Ort gewesen, dennoch raubte er ihm immer wieder Atem. Das klare Wasser floss aus dem dunklen Spalt im Gestein, fiel ein paar Schwanzlängen und brach sich, sobald es auf den Boden traf. Feine Wassertropfen stoben empor, die fast genauso aussahen, wie Schneeflocken an den kältesten Tagen der Blattfrische.

Shadow sog tief die Luft ein. Vielleicht bildete er es sich nur ein, aber es kam ihm so vor, als würde der Geruch hier aus allen Teilen des Waldes bestehen. Er roch das Moos vom Düsterwald, die Frische vom Fluss sogar die Wärme vom Lager. Und den Duft seiner Mutter. Schmerzlich erinnerte er sich daran, dass seine Mutter diesen Ort liebte. Geliebt hatte..., korrigierte er sich in Gedanken.

Plötzlich ließ Rabe sich zu Boden fallen. "Aufpassen! Ich glaube, da ist eine."

Sofort taten Shadow und die anderen das gleiche. "Wo denn?", flüsterte Tornado. Rabe deutete mit einer leichten Kopfbewegung auf einen Baum, der etwas abseits vom Nachtfall stand.

Shadow kniff die Augen zusammen, um etwas zu erkennen. Tatsächlich. Ein schwarzer Vogel flatterte kurz mit seinen Flügel und drehte sich dann genau in die Richtung der fünf Katzen. Sein Blick traf genau den von Shadow. Mäusedreck! Er hat mich gesehen. Natter schien das ebenfalls bemerkt zu haben, denn sie zischte: "Achtung!"

Wie aufs Kommando stürzte die Eule sich von ihrem Ast und jagte kreischend auf die Gruppe zu. Sichel sprang auf. "In Kampfposition, schnell!"

Shadow blieb kaum Zeit zum Denken, da griff das Tier schon an. Ihre scharfen Klauen griffen nach Natter, die sich erschrocken zur Seite rollte. "Ihr müsst konzentriert bleiben.", rief Sichel und sprang nach oben, um die Eule festzuhalten. Doch die stieß nur einen wütenden Schrei aus. Der weißgrau-getigerte Kater fiel zu Boden.

Während Shadow noch nach Atem rang, setzte der Vogel erneut zum Angriff an. Er wirbelte herum und stieß Natter mit seinen Krallen zu Boden. Die überraschte Kätzin wurde zur Seite geschleudert. Shadow rannte entsetzt zu ihr. "Geht es dir gut?" Natter stöhnte wütend und versuchte ihn wegzustoßen, aber ihre Pfoten trafen ins Leere.

"Shadow, weg da!"

Sichels Ruf ließ ihn herumfahren. Mit Schrecken sah er zu, wie die Eule genau auf ihn zuflog. Verzweifelt stolperte er ein paar Schritte rückwärts. Wie sollte er es mit so einem großen Tier aufnehmen können?

In dem Moment stürmte Sichel vor ihn. Er sprang auf die Eule zu, schlug mit ausgefahrenen Krallen nach ihrem Kopf, ließ sich dann zu Boden fallen und trat ihr die Beine weg, wodurch sie verwirrt zu Boden fiel. Doch bevor Rabe und Tornado sich auf sie stürzen konnten, erhob sie sich wieder in die Lüfte.

Shadow stand da. Mit gesträubtem Fell und aufgerissenen Augen. Sein Herz raste in seiner Brust. Was wäre passiert, wenn Sichel ihn nicht gerettet hätte? Dankbar sah er zu dem Kämpfer rüber, der sich neben Natter hockte. "Das sieht nicht gut aus.", miaute er und betrachtete das Blut, das aus einer Kopfwunde sickerte. "Wir sollten umkehren."

Rabe peitschte verärgert mit dem Schweif. "Das können wir nicht. Wir haben keine einzige Eule töten können. Außerdem ist die Nacht noch lang."

Tornado warf dem schwarzgetigerten Kater mit den weißen Pfoten einen warnenden Blick zu. "Düster wird sich sicher nicht freuen, wenn sie stirbt. Sichel hat recht, wir sollten gehen."

Mit einem wütenden Knurren wandte Rabe sich ab. "Gut, aber du übernimmst die Verantwortung für den nächsten Vollmond.", erwiderte er und funkelte Sichel an.

Shadows Beine fühlten sich immer noch taub an, als die Gruppe durch den Düsterwald tappte. Sichel und Rabe hatten Natter auf ihren Rücken gehoben und Tornado lief voraus, um den Weg nach Gefahren abzusuchen. Ob ich wohl noch leben würde, wenn Sichel mich nicht gerettet hätte? Doch etwas störte den schwarzen Kater. Irgendetwas war seltsam, wenn er nur wüsste, was es war.

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