6 | Heute nicht

Die letzten Stunden waren wie ein zäher Kaugummi an mir vorbei gegangen. Obwohl ich eine erwachsene Frau war, hatte ich so viel wie ein Neugeborenes geheult.

Immer wieder machte ich mir Vorwürfe, weil ich Ida bei Niklas gelassen hatte. Wie es ihnen wohl erging? Ob es meiner Tochter gut ging? Wenn ich nur an sie dachte, dann verzweifelte ich schon wieder. Mein Puls schnellte in die Höhe, und mein Blutdruck schien den Krankenschwestern hier sowas von gar nicht zu gefallen.

Zum Glück hatte ich aber endlich meine letzte Untersuchung hinter mir. Mein behandelnder Arzt riet mir zu mindestens einer Woche Krankenstand, viel Ruhe, und Schmerzmitteln, sollte ich welche brauchen. Eine Gehirnerschütterung hatte ich mir keine zugezogen, wenn, dann nur eine sehr leichte. Dafür hatte meine Platzwunde am Kopf genäht werden müssen, wobei sie mir ein bisschen was von meinen Haaren wegrasieren hatten müssen. Anscheinend sah man nichts von der Rasur, weil meine restlichen Haare die Stelle überdeckten, dennoch hatte diese Tatsache nur zu einem weiteren Weinanfall geführt.

Ich bin doch kein Baby mehr! Reiß' dich etwas zusammen, Cara!

Natürlich wusste ich, dass mein Nervenzusammenbruch hauptsächlich daran lag, weil Ida nicht bei mir war, und ich keine Ahnung hatte, wie es ihr ging. Sie war mein Alles! Ich könnte es nicht ertragen, wenn ihr etwas passierte. Noch dazu, wo ich eigentlich niemandem vertraute - den Pädagoginnen musste ich wohl oder übel vertrauen, aber ansonsten schaffte ich es einfach bei niemandem, und dennoch war sie jetzt bei Niklas!

Mittlerweile stand ich vor der automatisch öffnenden Tür des Krankenhauses, und wartete auf mein Taxi. Die Fahrt nach Hause würde gute fünfzig Minuten dauern. Mit dem Rettungswagen war ich natürlich schneller gewesen, aber die hatten auch das Blaulicht eingeschalten gehabt. Wenn ich nur an heute Vormittag zurückdachte, wurde mir ganz anders.

Endlich kam das Taxi, und ich konnte einsteigen. Während der Fahrt zurück zu meinem trauten Heim schaute ich größtenteils aus dem Fenster. Ich hatte Niklas Nummer nicht, deshalb konnte ich ihn nicht einfach anrufen, und nach Ida fragen. Außerdem wurde es schon dunkel, und ich war sicher, dass Ida bald schlafen gehen wollte. Entweder das, oder sie war zu aufgelöst, um überhaupt ein Auge zuzutun.

Seufzend betrachtete ich die Straßenlaternen, die in diesem Moment angingen, und die Fahrbahn beleuchteten.

Als das Taxi nach einer viel zu langen Autofahrt endlich bei dem Mehrparteienhaus ankam, in welchem ich wohnte, bezahlte ich, und stieg aus. Doch als ich in meiner Handtasche nach meinem Schlüssel kramte, konnte ich ihn einfach nicht finden.

Vielleicht habe ich mir doch eine Gehirnerschütterung zugezogen?

Verzweifelt stand ich vor dem Gebäude, kramte wie Gollum, der seinen wertvollen Schatz finden wollte, darin herum. Aber erfolglos!

Sollte ich klingeln? Etwas anders blieb mir nicht übrig, oder? Aber sollte Ida schon schlafen, dann würde ich sie definitiv gleich wecken ...

Ich habe dir meine Visitenkarte in die Tasche gesteckt.

Niklas Worte ploppten wie aus dem Nichts in meinem Kopf auf. Außerdem fiel mir plötzlich auch ein, dass er meinen Schlüssel behalten hatte. Seufzend fuhr ich mir über das Gesicht, war von dem heutigen Tag einfach zu sehr ausgelaugt und fertig. Eigentlich wollte ich nur noch schlafen ...

Ich holte mein Handy aus meiner Handtasche, ebenso wie Niklas Visitenkarte. Mit klopfendem Herzen starrte ich auf die Nummer in meinem Handy, als ich diese eingetippt hatte. Doch ich traute mich noch nicht, dort anzurufen. Für viel zu viele Sekunden starrte ich das Display einfach an, wusste selbst nicht so recht, was mit mir los war. Dieser Mann ging mir bis tief unter die Haut, und jetzt besaß ich auch noch seine Nummer. Zu allem Überfluss hatte er mir auch noch mit Ida geholfen, und sich sorgsam und liebevoll um mich gekümmert, als ich verletzt gewesen war. All diese Dinge ließen mein verräterisches Herz schneller klopfen, und mich aufgrund dessen warten, ehe ich den Mut aufbringen konnte, den Anruf durchzuführen.

"Rott, guten Abend", hob er bald darauf ab.

"Niklas, hi. I-ich ..."

"Cara, Gott sei Dank! Du meldest dich endlich!", unterbrach er mich, und wirkte sehr erleichtert.

"Ist mit Ida alles okay?", fragte ich sofort, weil bei seiner Aussage plötzlich alle Alarmglocken schrillten.

"Natürlich, Ida schläft. Wie geht es dir? Wann darfst du heim?"

"Ehrlich gesagt stehe ich vor der Haustür", antwortete ich.

"Vor unserer Haustür?"

"Ja. Uhm, kannst du mir öffnen? Ich habe keinen Schlüssel."

Keinen Augenblick später surrte es, und ich konnte die schwere Tür aufziehen.

"Danke", murmelte ich in den Hörer. Als ich die ersten Stufen nach oben ging, kam mir Niklas allerdings schon entgegen. Er hatte aufgelegt, wie ich feststellte, und lief die Treppe zu mir nach unten.

"Soll ich dich rauf tragen? Dich stützen?" Er musterte mich genau, ließ seine Augen über jeden Millimeter meines Körpers wandern.

"Es geht schon."

"Ich stütze dich", entschied er dennoch, worüber ich einerseits dankbar, aber andererseits auch komplett durcheinander war. Seine Hände an meinen Armen ließen meinen angeschlagenen Kopf nicht mehr klar denken.

Wir erreichten unser Stockwerk, und gingen auf Niklas Wohnung zu. Die Verwirrung stand mir wohl ins Gesicht geschrieben, denn mein Nachbar erklärte sich sofort.

"Ida ist mit Pirat in meinem Bett eingeschlafen."

"Oh, okay."

"Wie geht es dir? Ich warte den ganzen Tag auf ein Zeichen von dir, also bitte sag mir, wie geht es dir?", wiederholte er sich.

"Mir, uhm ..." Ich lachte leise auf, konnte die Tränen nicht zurückhalten. Verdammt, was war denn heute nur los mit mir?

"Hey." Niklas fuhr sanft mit seinen Fingern über meine Wange, hinterließ ein angenehmes Prickeln, wo auch immer er meine Haut berührte. Ich schluckte schwer, schaute in seine dunklen Augen, wo ich so etwas wie Zuneigung herauslesen konnte. Wie war das möglich?

"Der Tag war lang, aber es geht schon", wisperte ich, da ich meiner Stimme nicht allzu stark traute.

Wir standen mittlerweile im Vorraum, Niklas hatte die Tür hinter sich geschlossen.

"Ich werde dann wohl Ida ins Bett bringen." Ein schwaches Lächeln bildete sich um meine Lippen. Das erkannte auch mein Gegenüber, denn er erwiderte es ebenso dünn.

"Weißt du, Ida schläft ganz gut in meinem Bett. Willst du wirklich das Risiko eingehen, dass sie aufwacht? Natürlich würde sie sich freuen, dich zu sehen, aber auch du siehst sehr müde aus, hübsche Löwin."

Mein Herz machte bei seinen letzten Worten einen Hüpfer. Hübsche Löwin. Ich schaute in seine Augen, wusste plötzlich nicht mehr, wie man richtig atmete. Was machte dieser Kerl nur mit mir? Er ließ mich meine Vorsätze, keinen Mann zu wollen oder zu brauchen, beinahe über Bord werfen. Dabei wusste ich doch, dass er ein Playboy war. Ich sollte kein Gefühle für meinen gutaussehenden, wirklich liebevollen, sich um Ida und mich kümmernden Nachbarn entwickeln.

"Das ist lieb von dir, aber ich will nicht in getrennten Wohnungen schlafen", sprach ich etwas verspätet aus.

"So meinte ich das auch nicht. Du kannst dich zu ihr legen, mein Bett ist groß genug für euch beide ... und Pirat." Er lachte gedämpft in sich hinein. "Ich hätte sowieso auf dem Sofa geschlafen."

"Ich kann doch nicht in deinem Bett schlafen", murmelte ich verlegen, spürte eine zarte Röte in meine Wangen schießen.

"Wieso nicht? Du wirst es gemütlich finden, und außerdem siehst du erschöpft aus. Du brauchst den Schlaf, und wenn du Ida jetzt aufweckst, dann wärst du sicher noch länger munter. Aber es ist deine Entscheidung, ich will dir nichts aufzwingen, dir lediglich das himmlisch weiche Bett anbieten, auf dem du so gut schlafen wirst, wie sonst nirgendwo."

Ich schaute zur Seite, dachte kurz über seine verlockenden Worte nach, und musste mir eingestehen, dass ich seinem Angebot sehr gerne nachkommen wollte.

"Es ist wirklich okay für dich?", hakte ich mit klopfendem Herzen nach. Ich war wirklich sehr, sehr müde ...

"Ja."

"Hast du heute gar keinen Spruch auf Lager, weil ich nun in deinem Bett schlafen werde?"

Ein freches Grinsen schlich sich auf sein Gesicht, ehe er langsam den Kopf schüttelte.

"Heute nicht", raunte er nur.

Danach strich er mir sanft mit dem Daumen über die Wange, hinterließ dieses Mal kein Prickeln mehr, sondern ein regelrechtes Feuer. Für den Moment vergaß ich zu atmen, schmiegte mich gegen seinen Daumen, schloss kurz die Augen.

Ich war noch nicht ganz fit, nicht ganz bei mir. Ansonsten würde ich mich niemals so in seine Berührung fallen lassen, oder?

Viel zu lange hielt ich die Augen geschlossen, bis ich mir dessen überhaupt bewusst wurde. Sein Finger streichelte weiterhin meine zarte Haut, er hörte nicht mit dieser Liebkosung auf.

Als ich meine Augen wieder öffnete, blickte ich direkt in seine Milchschoko-Augen. Zum Dahinschmelzen! Ich konnte gerade so ein Seufzen unterdrücken.

"Ich bin wirklich müde", wisperte ich.

"Dann würde ich vorschlagen, dass du dich nun schlafen legst." Er ließ seine warme Hand sinken, und ich musste augenblicklich feststellen, dass mir diese Berührung fehlte.

"Mhm. Uhm, danke Niklas. Ich werde mich morgen erkenntlich zeigen. Heute bin ich irgendwie so durcheinander."

"Du musst dich gar nicht erkenntlich zeigen. Schlaf gut, schöne Löwin. Wenn du etwas brauchst, bin ich auf der Couch."

"Danke."

"Natürlich", flüsterte er leicht lächelnd. Danach führte er mich zu seinem Schlafzimmer, wo ich Ida auf seinem riesigen Boxspringbett liegen sah. Sie schlief fest, der Kater lag neben ihrem Brustkorb, was mich schmunzeln ließ. Meine Tochter nach diesem furchtbaren Tag zu sehen, tat mir so gut, dass erneut Tränen in meine Augen schossen.

Nachdem ich die Tür leise geschlossen hatte, legte ich mich mitsamt meiner Klamotten auf das Bett, starrte meine Tochter im Dunkeln noch eine Weile an, bis ich, begleitet von Niklas berauschendem Duft, in einen tiefen Schlaf fand.

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