5 | Absolutes Neuland

Ich stand einige Minuten lang unschlüssig in Caras Wohnung herum. Noch immer starrte ich die offene Wohnungstür an, durch welche die Sanitäter mit meiner sonst so fröhlichen Nachbarin verschwunden waren.

Nachdem ich einen tiefen Atemzug nahm, schaute ich auf das Chaos zurück, welches Cara unbeabsichtigt angerichtet hatte. Wieso war der Sessel bloß umgefallen?

Darauf würde ich wohl keine Antwort finden, denn der Stuhl schien vollkommen intakt zu sein, weshalb ich in meine Wohnung zurückging, deren Haustür ebenfalls sperrangelweit offen stand, um dort meine Putzsachen zu holen. Zuerst fuhr ich meinen Laptop aber runter, brachte ihn zurück in mein Wohnzimmer, wo es sich mein Kater mittlerweile schon wieder auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte. Der alte Herr schien den ganzen Tag nur mehr zu schlafen. Recht hat er.

Als ich fertig ausgestattet war, meine Haustür dieses Mal hinter mir schloss, eilte ich mit dem Eimer und den Reinigungsmitteln in Caras Wohnung zurück. Dort beseitigte ich das blutige Durcheinander, damit es keine Flecken hinterließ, und sich Ida natürlich auch nicht erschrecken konnte. Als ich damit fertig war, begutachtete ich die Glühbirne, welche auf dem Boden lag. Sie war unbeschädigt, weshalb ich mir den am Boden liegenden Sessel schnappte, mich darauf stellte, und die Glühbirne auswechselte. Danach brachte ich den Stuhl zu den anderen neben dem Esstisch zurück.

Meine Augen wanderten verstohlen zu dem Regal, wo meine Bücher sorgsam aufgereiht standen. Ich sollte nicht schnüffeln, aber ich konnte einfach nicht anders. Cara liest meine Bücher! Meine!

Mir fiel auf, dass sie meine Neuerscheinung noch nicht besaß, weshalb ich mir vornahm, dies zu ändern. Außerdem befanden sich nur meine Romane in dem Regal, kein anderer Autor hatte es dorthin geschafft. Irgendwie gefiel mir das, und puschte mein Ego ganz schön auf. Ja, ja, meinem Selbstwertgefühl gefiel das wirklich gut.

Wieso leugnete sie bloß jedes Mal vehement, meine Krimis zu lesen? Das war eine Frage, derer ich bestimmt noch auf den Grund gehen würde.

Mein Blick wanderte zur Wanduhr, wo ich feststellte, dass ich mich langsam auf den Weg machen sollte, um Ida vom Kindergarten abzuholen. Ich wollte etwas früher dort sein, weil ich den Pädagoginnen die momentane Situation erklären wollte, und außerdem war ich unsicher, wie Ida reagieren würde. Ich ahnte zwar, dass sie mich mochte, aber würde sie mit mir nach Hause gehen? Schließlich war ich kein Vertrauter, sondern nur der Nachbar von nebenan.

Da ich keinen Kindersitz besaß, Cara kein Auto fuhr, und ich nicht wusste, wie ich Ida sonst transportieren sollte, ging ich die fünfzehn Minuten zu Fuß. Frische Luft tat mir außerdem auch sehr gut, und ließ mich vielleicht an etwas anderes als an meine Nachbarin denken. Denn immer wenn meine Gedanken zu ihr schwebten, dann überkam mich ein ungutes Gefühl, weil ich mir solche Sorgen um sie machte. Wie es ihr wohl ging? Ob sie mich anrief, wenn sie meine Hilfe brauchte? Wann sie überhaupt entlassen wurde?

Ich legte den Weg schneller zurück, als ich dachte. Nun stand ich vor dem Eingang des Kindergartens, hatte dieses Gebäude noch nie betreten. Mein Herz hämmerte irgendwie schneller gegen meinen Brustkorb, ich konnte es nicht steuern. Bevor ich mir irgendetwas anders überlegen konnte, öffnete ich die Tür, wo mir sofort das Lachen und Gekreische einiger Kinder entgegenschallte. Augenblicklich schlich sich ein Grinsen auf mein Gesicht.

"Hallo, Herr Rott", begrüßte mich eine ältere Pädagogin sofort freundlich. Ich kannte sie, was bei einem Dorf natürlich nicht verwunderlich war.

"Hallo, ich ..." Ich räusperte mich kurz, war seltsam nervös. Dabei war ich normalerweise die Ruhe in Person! "Ich soll Ida heute abholen, weil Cara, also Frau Meier, ins Krankenhaus musste."

"Oh. Ist etwas passiert?", wollte die Pädagogin besorgt wissen.

"Ja, aber ich hoffe, dass es nichts Ernstes ist", antwortete ich so vage wie möglich. Ich wusste nicht, ob Cara es gutheißen würde, wenn ich die Mitarbeiterinnen hier über ihre Kopfwunde aufklärte. "Ich habe einen Zettel mit ihrer Unterschrift bekommen, dass ich Ida heute mitnehmen darf. Wir sind Nachbarn, wohnen uns gegenüber."

Die ältere Frau nahm mir den Zettel ab, las ihn durch, und nickte. "Ist gut. Wissen Sie über Idas Allergie Bescheid?"

"Ja, ich weiß, dass sie eine Nussallergie hat."

"Gut. Wissen Sie auch wie sie das Medikament nehmen soll, falls es doch zu einem Allergischen Schock kommen sollte?"

"Uhm." Jetzt war ich definitiv überfordert, schluckte schwer, und schüttelte langsam den Kopf. "Das weiß ich leider nicht."

"Ich zeige es Ihnen. Kommen Sie mit." Also folgte ich ihr, während ich die vielen bunten Zeichnungen der Kinder an den Wänden des Kindergartens betrachten konnte. "Sie hat das Medikament immer in ihrem Rucksack. Wir haben selbstverständlich auch welche im Kindergarten lagernd, und ihre Mutter mit großer Wahrscheinlichkeit zuhause."

Ich war der Pädagogin wirklich sehr dankbar, dass sie mir alles genau erklärte. Danach ließ sie mich jedoch kurz alleine im Flur stehen, weil sie meinte, zuerst alleine mit Ida sprechen zu wollen.

Jetzt wo ich wie bestellt und nicht abgeholt im Flur stand, kehrte die Nervosität zurück. Ich hatte absolut keine Ahnung von Kindern, kannte Ida nur von den Gesprächen im Treppenhaus. Oft war sie aufgrund meines Katers ganz aus dem Häuschen, aber viel hatte ich mit dem jungen Mädchen eigentlich nicht zu tun. Ob sie mit mir nach Hause ging? Viel weinte, weil ihre Mama nicht da war? Überhaupt nicht weinte, aber nicht wusste, was sie mit mir machen sollte? Ich nicht wusste, was ich mit ihr machen sollte?

Verdammte Scheiße! Vielleicht hätte ich nochmal etwas intensiver darüber nachdenken sollen. Eventuell auch meine Schwester miteinbringen sollen, denn die verstand immerhin ein bisschen was von Kindern. Für mich hingegen war das ziemliches Neuland.

Ich stand bestimmt schon gute zehn Minuten hier, guckte mir immer wieder die Zeichnungen an, hörte das Lachen der Kinder, und wurde zunehmend unsicherer. Bestimmt war es eine absolut blöde Idee von mir gewesen, aber Cara war mir in dem Moment so verzweifelt erschienen, dass ich über meinen Vorschlag nicht nachgedacht hatte.

Was, wenn ich es komplett verbockte? Schließlich hatte ich mit Kindern wirklich nichts am Hut. Ich mochte die Kleine zwar, sie quasselte auch immer richtig viel, aber, dass sie auch noch eine Allergie hatte, machte die Situation für mich nicht leichter.

Was, wenn ich etwas falsch machte? Gott, all diese Gedanken trieben mich gerade in den Wahnsinn.

"Hallo", hörte ich plötzlich Idas Stimme hinter mir. Hastig wandte ich meinen Blick von der kunterbunten Elefantenzeichnung ab, um mich umzudrehen. Die Pädagogin stand mit Ida vor mir, welche mich ebenso verkrampft musterte, wie ich mich fühlte.

"Hey, Kleine." Fraglich huschte mein Blick zu der Pädagogin, da ich nicht wusste, wie viel sie ihr schon erzählt hatte. Zum Glück erkannte diese meinte stumme Frage.

"Sie weiß, dass ihre Mama im Krankenhaus ist, und Sie sie nach Hause bringen", eröffnete sie mir. Eine schwere Last fiel von meinen Schultern, denn ich hätte im Moment echt nicht gewusst, wie ich der Fünfjährigen das halbwegs gut erklären hätte können.

Ida folgte mir ohne Protest aus dem Kindergarten raus. Ich wusste, wir waren etwas früher dran, aber das schien selbst der Pädagogin nichts ausgemacht zu haben.

"Was machen du und deine Mama immer, wenn sie dich abholt?", wollte ich von der Kleinen wissen. Eventuell konnten wir uns mit genau den gleichen Aktivitäten die Zeit bis zu Caras Rückkehr totschlagen.

"Zuerst essen wir."

"Ah, das ist eine gute Idee. Uhm ... bist du hungrig?"

"Ja."

"Dann sehen wir mal in eurer Küche nach, was ihr alles zuhause habt. Was isst du denn am liebsten?"

"Nudeln."

"Mhm, ja. Da kann man einige gute Gerichte machen."

Den Rest des Weges legten wir größtenteils schweigend zurück. Das sonst so plauderfreudige Mädchen redete kaum etwas, aber ich konnte es ihr nicht übel nehmen. Die Ungewissheit, was mit Cara los war, nagte selbst an mir.

Endlich kamen wir bei unseren Wohnungen an, wo ich gleich Caras Haustür ansteuerte, um Ida hinein zu folgen.

"Dann lass' uns mal sehen, was ihr alles zuhause habt", meinte ich euphorischer, als ich es in Wirklichkeit war. Ich war noch nie mit einem Kind alleine gewesen, was meine innere Unruhe erklärte.

Ich öffnete die Regale in der Küche, fand eine Packung geöffneter Nudeln, und hielt sie Ida triumphierend entgegen.

"Das mit den Nudeln bekommen wir gebacken. Was willst du für eine Soße?", fragte ich sie, während ich den Kühlschrank öffnete, um zu sehen, was sie alles zuhause hatten.

"Zucchini!", rief Ida sofort, was mich leicht schmunzeln ließ. Wenn sie jetzt anfing etwas aufzutauen, wäre mir das mehr als recht. Vielleicht ließ dann auch meine Anspannung etwas nach.

"Zucchini haben wir hier. Was soll noch in die Soße rein? Vielleicht Tomaten? Und Paprika?"

"Aber nur roter Paprika."

"Ach, mag da jemand keinen grünen Paprika?"

"Die sind bäh."

Ich lachte auf. "Sie schmecken wirklich nicht so gut, wie die roten, da kann ich dich also absolut verstehen. Ich stelle mal die Nudeln auf, und dann schneide ich das Gemüse her."

Während ich kochte, holte Ida aus einem Kasten ein Puzzle hervor. Sie zeigte es mir, und leerte es auf dem Küchenboden aus. Dann setzte sie sich neben meine Füße, und fing an, das Puzzle zu bauen.

Mir kam es sehr gelegen, dass sie nun eine Beschäftigung gefunden hatte. Innerlich seufzte ich schwerfällig auf, obwohl ich Ida ja wirklich mochte. Nur die ganze Situation stresste mich gerade massiv. Dennoch versuchte ich mein Gefühlschaos vor Ida zu verbergen.

Als ich die Nudeln mit der Gemüsesauce fertig hatte, aß Ida fleißig, als wäre sie wirklich schon sehr hungrig gewesen.

"Was tun deine Mama und du meistens nach dem Essen?", wollte ich als nächstes von ihr wissen.

"Wir gehen auf den Spielplatz, oder spielen und basteln daheim."

"Das Wetter sieht gut aus. Möchtest du denn auf den Spielplatz gehen?"

Ida schüttelte den Kopf. "Nein", nuschelte sie. Es entstand eine kurze Pause, ehe Ida fragte: "Wann kommt Mama wieder?"

Seufzend ließ ich mich tiefer in den Sessel sinken. "Ich weiß es nicht. Aber sollte sie bis morgen noch nicht hier sein, fahren wir gemeinsam ins Krankenhaus, und sehen nach ihr. Ist das in Ordnung?"

Sie zuckte nur mit den Schultern, und ich sah zu, wie sich ihre schönen blauen Augen mit Tränen füllten.

"Weißt du, Pirat wartet in meiner Wohnung sicher schon auf dich. Er freut sich immer sehr über deine Streicheleinheiten. Möchtest du mit rüber kommen?"

Ihre Augen nahmen einen neuen Glanz ein. Keiner, der dem Salz verschuldet war, sondern welcher, der Vorfreude offenbarte. Was war ich im Moment froh, mit einem Haustier punkten zu können.

"Lass' uns ein paar deiner Spielsachen mit rüber nehmen", schlug ich vor, nur um keine fünf Minuten später vollbepackt in die Wohnung gegenüber zu treten.

Mein einäugiger Kater lag, wie so gern, auf dem Sofa. Er hob den Kopf, als wir durch die Tür traten, legte sich dann aber wieder gemütlich auf seinen Platz. Ida war sofort von Pirat angetan, sodass ich ihre Spielsachen einfach auf dem Couchtisch lagerte, während sie durch das weiche Fell meines Katers strich. Katzen hatten zum Glück eine beruhigende Wirkung, was mir heute wohl zugute kam.

Wie so oft an diesem Tag checkte ich mein Handy nach neuen Nachrichten oder verpassten Anrufen, doch mir wurde nichts angezeigt. Dabei könnte ich einen Anruf ohnehin schlecht überhören, weil ich mein Handy seit heute Vormittag auf laut gestellt hatte.

"Möchtest du einen Film schauen?", fragte ich nach einer Weile. Inzwischen war es später Nachmittag geworden, und ich hatte Ida ein paar Snacks aus Caras Wohnung geholt. Zwar konnte ich auf ihr Wort vertrauen, dass sie nur Lebensmittel in ihrer Küche lagern hatte, die keine Nüsse beinhalteten, dennoch las ich mir jedes Mal die Zutaten gründlich durch, bevor ich Ida irgendetwas zu essen gab.

"Einen Disneyfilm?", fragte Ida, woraufhin ich leicht lächeln musste. Es erinnerte mich gerade an die Gesangseinlage ihrer Mama. Verdammt, was hatte diese Frau für eine schöne Stimme! Wenn ich die Augen schloss und mich konzentrierte, dann konnte ich sie noch immer singen hören. Scheiße, ich denke, ich bin ihr wirklich sowas von verfallen.

"Was möchtest du denn für einen sehen?" Schließlich hatte ich Disney+, somit konnte sich Ida tatsächlich jeden Disneyfilm aussuchen, den sie sehen wollte.

Nachdem wir uns zusammen Küss den Frosch gegeben hatten - erneut absolutes Neuland für mich -, schniefte Ida neben mir plötzlich auf. Ich schaute zu ihr, sah, dass sie wohl schon seit ein paar Minuten stumm weinte.

"Ida", murmelte ich bedrückt, rutschte etwas näher an sie heran. Mein Kater hatte sich vor gut einer Stunde in mein Schlafzimmer verflüchtigt, weshalb er mir beim Trösten gerade leider nicht helfen konnte.

"Ich vermisse Mama."

"Sie kommt bestimmt bald wieder. Und wie gesagt, ansonsten fahren wir morgen zu ihr ins Krankenhaus."

Schluchzend nickte sie, woraufhin ich ihr zaghaft meinen Arm um die Schultern legte, und sie sanft an mich drückte. Wir saßen einige Minuten lang so da, bis Ida sich etwas beruhigte.

"Wo ist Pirat?"

"Er ist ins Schlafzimmer gegangen. Möchtest du zu ihm?"

Sie nickte langsam. Deshalb führte ich Ida in mein Schlafzimmer, wo wir Pirat mitten auf meinem Boxspringbett schlafen sahen.

"Darf ich mich zu ihm legen?"

"Natürlich."

Während Ida auf meinem Bett lag, meinen Kater streichelte, und ich mir ständig Gedanken und Sorgen im ihre Mama machte, wurde es allmählich dunkel. Die Abenddämmerung hatte eingesetzt, was mich zunehmend ungeduldiger werden ließ. Wieso meldete sich Cara nicht?

Irgendwann stand ich vom Sofa auf, hatte genug von meinen Grübeleien. Ich schaute zu Ida und Pirat, stellte jedoch sofort fest, dass beide tief und fest schliefen. Meine Mundwinkel hoben sich augenblicklich ein Stück, dann schaltete ich das Licht aus, und ließ die beiden einfach schlafen. Wecken wollte ich nun wirklich keinen der beiden.

Weil mir gerade sehr danach war, schnappte ich mir eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, setzte mich zurück auf meine Couch, und dachte schon wieder nach. Fuck, heute wollten mich meine Gedanken einfach nicht in Ruhe lassen!

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