Was ich will

Hamburg, im Oktober 2013


Völlig verwirrt und ohne jeden Plan, wo ich jetzt überhaupt hin wollte, saß ich eine Stunde später am Jungfernstieg und starrte auf das ruhige Wasser der Binnenalster.
Die Anderen mussten doch jetzt denken, dass ich vollkommen den Verstand verloren hatte, so grundlos und blitzschnell wie ich da gerade vom Frühstückstisch geflüchtet war. Wie sollte ich denen mein plötzliches Verschwinden bloß erklären, wenn ich heute Abend wieder zurück ins Hotel kommen würde?
„Hey Leute, da bin ich wieder. Ich musste einfach mal kurz raus, weil ich nur noch daran denken konnte, wie ich meinen Schwanz im Mund von Lukas versenke. Der Kleine hat mir mit seiner Banane nämlich ganz schön eingeheizt."
Das konnte ich wohl eher nicht sagen.

Ich hatte doch solche Fantasien, beziehungsweise Träume, eigentlich nur, wenn ich schlief. Warum musste ich jetzt auf einmal auch wach an so etwas denken? Im Schlaf konnte man das ja noch locker sehen, denn wie Marcel am Telefon schon sagte, haben Traumsymbole oft eine völlig andere Bedeutung, als es auf den ersten Blick scheint.
Aber was war dann die Entschuldigung für meine Fantasien im Wachzustand?

Als ich feststellte, dass meine Zigarettenschachtel schon wieder leer war, erhob ich mich von der Treppe, auf der ich fast die ganze letzte Stunde gesessen hatte und machte mich langsam und gemächlich auf die Suche nach dem nächsten Kiosk.
Während ich so am Wasser entlang schlenderte, dachte ich über das Verhalten von Lukas vorhin nach.
Er hatte sich ja schon irgendwie komisch benommen, als ich ihn nach seinem Verschwinden in der Nacht gefragt hatte. Er wirkte irgendwie so seltsam nervös und hatte auch total herum gestottert, als er mir erklärte, dass er nur gegangen war, weil er eine Kopfschmerztablette brauchte. Da steckte doch mit Sicherheit noch etwas Anderes dahinter. Aber was war das nur? Was könnte ihn denn so furchtbar nervös machen?
Gott, bestimmt hatte ich während meines Traumes irgendwas mit ihm gemacht. Was, wenn ich ihn im Halbschlaf wirklich geküsst hatte und es jetzt bloß nicht mehr wusste!
Ich stöhnte verzweifelt auf und zog mir meine Kapuze vor lauter Scham so tief ins Gesicht, dass ich gerade so noch etwas sehen konnte.

Andererseits schien sich Lukas in meiner Anwesenheit heute Morgen nicht besonders unwohl gefühlt zu haben. Er hatte zwar etwas gestottert bei seiner Antwort auf diese eine Frage, aber ansonsten hatte er sich doch normal verhalten, normal mit mir geredet und mich ganz lässig angegrinst.
Bei dem Gedanken an sein Grinsen stockte ich kurz. Da war ja noch was.
Mir war meine Kaffeetasse aus der Hand gerutscht und auf Stefan gestürzt, weil Lukas sich fast schon lasziv auf die Unterlippe gebissen hatte, während er mir in die Augen sah.
Soweit ich wusste, taten das doch neuerdings bloß die ganzen Mädels, die seit sie „Shades of Grey" gelesen hatten, dachten, dass das wohl besonders sexy wirkt, wenn man sich bei jeder Gelegenheit die Lippen zerbeißt.
Und was war das denn bitte außerdem für eine Nummer mit der Banane? Da konnte mir doch jetzt echt keiner erzählen, dass er die ganz normal gegessen hat. Normalerweise beißt man sich doch einfach ein Stück ab und schiebt sich nicht erst in Zeitlupe das halbe Teil in den Hals.
Hatte Lukas da etwa versucht, mit mir zu flirten? Wollte er mich damit anmachen?
Das war doch lächerlich. Seit wann analysierte ich eigentlich jede Bewegung und jedes Wort eines anderen Menschen, als wäre ich ein Weib?

Ich presste mir meinen Schal fest an den Mund und ließ einen kleinen, gefrusteten Schrei los, während ich an den nächstbesten Mülleimer trat, den es sofort aus der Verankerung riss.
„Reiß dich doch mal zusammen, du Depp", murmelte ich zu mir selbst, während ich an einer geschockten alten Frau vorbei ging, die direkt einen kleinen Hüpfer nach hinten machte, damit sie nicht das nächste kleine Objekt werden würde, das ich aus dem Weg kickte.

Die folgenden Stunden verbrachte ich einfach nur damit, mir die Stadt in Ruhe anzusehen und durch die vielen Straßen und Gassen zu schlendern. Ab und zu setzte ich mich zum Rauchen an einen besonders schönen Platz, ging in irgendwelche Geschäfte oder aß und trank etwas, wo es mich gerade ansprach. Alles, was ich nicht tat, war auf mein Handy zu schauen, das unaufhörlich in meiner Hosentasche vibrierte. Erst mal musste ich mir einen guten Grund überlegen, der mein Verschwinden so erklärte, dass nicht viele Nachfragen gestellt wurden.

Erst, als es draußen schon langsam dämmerte, stieg ich am Hauptbahnhof in die S11, die mich zu unserem Hotel im szenigen Schanzenviertel zurückbrachte. Eine plausible Erklärung war mir nicht eingefallen, darum beschloss ich, es einfach auf die Drogen zu schieben, die ich am frühen Morgen schon grundlos eingenommen hatte. Da ich das manchmal tatsächlich tat, würde man mir das schon abkaufen, auch wenn es heute mal nicht stimmte.
Am Hotel angekommen, zündete ich mir noch eine letzte Zigarette an und sammelte mich.
Ich sagte mir, dass alles, was ich da dachte, nur bedeutungslose Hirngespinste waren. Ich redete mir ein, dass alles, was ich da fühlte nur irgendwelche Nebenwirkungen von Drogen wären, von denen ich in letzter Zeit sowieso nicht gerade wenig konsumiert hatte. Ich redete mir ein, dass das Verhalten von Lukas einfach nur an seiner unbedarften, jugendlichen Art lag und dass er sich dabei rein gar nichts dachte. Er war ja gerade mal vierundzwanzig geworden und somit ganze sechs Jahre jünger, als ich. Zwar wirkte er im Allgemeinen schon sehr reif für sein Alter, aber trotzdem war er manchmal noch etwas flapsig.
Als meine Zigarette aufgeraucht war, war es an der Zeit, endlich wieder zu den Anderen zu gehen und mich wieder normal zu verhalten.
Also ging ich hoch, nahm noch einen tiefen Atemzug und öffnete dann die Tür zu Bennis Hotelzimmer, wo ich auch schon die Stimmen der Anderen vernahm.

„Timi, da bist du ja wieder", kommentierte Stefan mein Erscheinen.
Ich grinste und sah mich im Raum um. Wie der Zufall es so wollte, war das Dreiersofa natürlich vollständig belegt und es blieb nur noch ein Platz bei Lukas auf diesem winzigen anderen Teil übrig, von dem keiner so recht wusste, ob es ein Sofa für zwei extrem schmale Menschen, oder ein Sessel für einen breiten war.
Gerade, als ich mich doch lieber aufs Bett setzen wollte, löste Lukas sich aus seinem Schneidersitz und rückte ein Stückchen zur Seite. Dann musste ich mich wohl doch neben ihn setzen. Aus welchem Grund sollte ich das jetzt auch nicht tun?

„Wo warst du denn den ganzen Tag, Timi? Wir haben dich vermisst", sagte Lukas und gab sein typisches, angetrunkenes Kichern von sich.
„Ach ich war nur mal so ein bisschen unterwegs. Ich hatte heute Morgen eine Nase Speed und musste dann ganz dringend was unternehmen. Ihr wisst ja, wie das ist."
Stefan seufzte tief. „Hättest du was gesagt, hätte ich doch mitgemacht."
„Beim nächsten Mal", sagte ich und lächelte ihn versöhnlich an. Damit war das Thema dann auch schon gegessen.

„Da du Dreck nicht da warst, haben wir schon ohne dich beschlossen, dass wir heute nochmal feiern gehen", teilte mir Benni mit.
„Alles klar, heute bin ich aber nicht der Aufpasser. Ich werde heute keine Kotze wegwischen und ich trage auch keine Leute nach Hause."
Nur für ein paar Stunden mal den Kopf abschalten...
„Das hast du gestern aber schön gemacht", meinte Lukas und legte mir seinen Kopf auf die Schulter. Als ob das noch nicht reichen würde, streichelte er dazu noch sanft meinen Unterarm.
Ich konnte jetzt nicht schon wieder die Flucht ergreifen. Das wäre doch dann mehr als auffällig. Daher entschied ich mich für die Flucht nach vorne und gab Lukas einen lauten Schmatzer auf die Stirn. „Für dich doch immer, mein Schätzchen."

Als ich Lukas dann zwei Stunden später in dem Nachtclub, für den wir uns entschieden hatten, eng mit einer schwarzhaarigen Sexbombe tanzen sah, fiel mir auf, wie lächerlich meine ganzen Befürchtungen, dass Lukas etwas Komisches von mir wollen könnte, eigentlich waren.
Er stand doch nun wirklich nicht auf Männer. Wann immer wir unterwegs waren, flirtete er, was das Zeug hielt, knutschte ungehemmt herum oder verschwand mit irgendwelchen Frauen in Hotelzimmern oder versteckten Ecken.
In letzter Zeit, besonders seit sein Soloalbum so dermaßen eingeschlagen hatte und er damit bekannter geworden war, machte er das zwar etwas diskreter, um sich keinen schlechten Ruf einzuhandeln, aber trotzdem tat er es noch.
Erleichtert beobachtete ich ihn noch kurz dabei, wie er die Dame immer näher an sich ran drückte und sie schon mit seinen Blicken fickte. Als ich genug gesehen hatte, ließ ich mich von Benni und Stefan zum koksen zu den Toiletten ziehen und alle meine Gedanken lösten sich in Luft auf. Die kommenden Stunden tanzten wir wie die Wilden und zogen direkt nach, sobald die Wirkung auch nur ein bisschen nachließ.

Als mein Rausch in den frühen Morgenstunden wieder abgeklungen war, sammelte ich die anderen Vier wieder ein. Igor war noch völlig auf irgendeinem Trip unbekannten Ursprungs, Lukas war wieder mal sehr betrunken und auch Benni und Stefan hatten später noch ordentlich gesoffen, weswegen ich jetzt schon wieder derjenige war, der am zurechnungsfähigsten war und deshalb die Heimfahrt organisieren musste. Ich wunderte mich sehr darüber, dass das bereits zum zweiten Mal in Folge so war, denn normalerweise war doch ich der, auf den man aufpassen musste.

Während wir vor dem Club auf unser Taxi warteten, balancierte Igor lachend auf einer Mauer herum, Stefan und Benni rauchten sich mit einem Joint runter und Lukas hing permanent an mir.
„Ich hab dich soooo lieb, Timi! Weißt du das eigentlich?", sagte er gerade, während er sich mit seinem ganzen Körpergewicht an meinen Rücken drückte.
„Ähh ja, Lukas. Du hast es mir in der letzten halben Stunde so tausend Mal gesagt."
„Nur tausend Mal", stieß er total überrascht aus. „Dann reicht das ja noch lange nicht!"
„Wenigstens kotzt du heute nicht", meinte ich nur.
„Du hast mir mein vollgekotztes Hemd gestern ausgezogen. Das war ja soooo lieb von dir, Timi", schwärmte Lukas. „Oh, unser Taxi kommt, ich will bei dir sitzen!"
Lukas war gerade schon ziemlich lustig drauf, aber gleichzeitig auch total anstrengend. So war er zwar immer wieder mal, wenn er viel getrunken hatte, aber ob es sonst mit der Anhänglichkeit so extrem war wie heute, konnte ich nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen.
Kaum saßen wir im Taxi, schlang Lukas seine Arme um meinen Hals und legte eins seiner Beine über meine.
„Alter, nehmt euch ein Zimmer", kommentierte Benni diese Szenerie.
Lukas schien an dem Gedanken großen Gefallen zu finden und grinste Igor an. „Oh ja. Du gehst heute Nacht zu Stefan! Ich will zu Timi."
Igor hatte offenbar überhaupt keinen Bock auf Diskussionen. „Okay, mir egal. Hauptsache, ich liege."

Langsam fragte ich mich, ob das alles doch so normal war, wie ich glauben wollte. Erst recht, als Lukas begann, über meine Brust zu streicheln und mir einen Kuss auf den Hals drückte.
„Was habt ihr dem denn gegeben?", fragte ich hilflos.
Lukas löste sich von mir und setzte sich plötzlich ganz normal hin. „Ach Timi, ich mach doch nur Spaß", meinte er und kicherte vor sich hin.

Die Aussage, dass er unbedingt mit mir ins Zimmer wollte, war dagegen offenbar kein Spaß gewesen. Kaum im Hotel angekommen, krallte sich Igor völlig widerstandslos seinen Kram und verzog sich in Stefans Zimmer, während Lukas mit seinen Sachen in mein Zimmer umzog.

„Und, ähm... warum wolltest du jetzt zu mir?", fragte ich zögerlich und legte mich in mein Bett, nachdem ich mich umgezogen hatte.
„So", antwortete Lukas und knöpfte sich sein Hemd auf. Ich warf einen ganz kurzen Blick auf seinen Haarstreifen, wendete meine Augen dann jedoch direkt wieder ab. Warum musste ich da ständig hingucken?
Heute entschied sich Lukas zum Glück dafür, mit Shirt zu schlafen, also lief ich nicht mehr Gefahr, wieder ins Starren zu verfallen. Dann machte er auch schon das Licht aus und legte sich in sein Bett.
„Bist du sehr betrunken?", fragte ich ihn und rollte mich auf die Seite, um ihn im schwachen Licht der Straßenlaterne sehen zu können.
Lukas lachte und drehte sich ebenfalls zu mir um. „Schon!"
„Du hast mir gestern auf dem Flur dieses Lied kurz vorgesungen. Streets of London. Erinnerst du dich?"
„Ganz schwach."
„Würdest du mir das irgendwann mal ganz vorsingen? Das war schön gestern, aber wir wären bestimmt raus geflogen, wenn du weiter gemacht hättest."
Lukas setzte sich hin, streckte sich und holte sich dann direkt die Gitarre.
„Das muss nicht jetzt sein, Lukas. Irgendwann."

Lukas grinste nur und begann dann auch schon, das von mir gewünschte Lied zu spielen. Während ich ihn betrachtete, wie er ganz in seinem Element versunken war, fiel mir wieder einmal auf, wie schön er war. Und in diesem Moment hatte ich auch überhaupt kein Problem damit, ihn so zu bezeichnen. Er hatte ein leichtes Lächeln im Gesicht und hielt die Augen die ganze Zeit über geschlossen. In seiner Stimme, die er nur mit ganz leisen Gitarrenklängen begleitete, lag soviel Ausdruck, Gefühl und Leidenschaft, dass es mir am ganzen Körper eine Gänsehaut bescherte. Ich konnte gerade echt verstehen, warum die Mädchen in der ersten Reihe, gerade bei den Akustikkonzerten, ihren Stuhl nass machten.

Als er das Lied zu Ende gespielt hatte, legte er seine Gitarre zur Seite und deutete eine leichte Verbeugung an.
„Das war echt gut", sagte ich, noch immer total fasziniert.
„Ach, das war doch nur so spontan dahin geklatscht", sagte er und fuhr sich schüchtern durch die Haare. „Gute Nacht, Timi."
„Schlaf gut, Lukas."

Kurze Zeit später hörte ich das ruhige, tiefe Atmen von Lukas, während ich total aufgekratzt an die Decke starrte. Ich versuchte, eine halbe Stunde lang erfolglos einzuschlafen, dann stand ich nochmal auf und verzog mich auf den Balkon, um zu rauchen.
Ich blies den Rauch in die klare Nacht hinein und dachte nach. Fakt war, ich fand Lukas schön. Fakt war, ich wurde neuerdings ganz schön nervös, wenn er in meiner Nähe war. Fakt war, ich hatte das Gefühl, dass er irgendwie meine Nähe suchte, vielleicht sogar mit mir flirtete.
Oder wollte ich das vielleicht nur glauben, weil ich es mir tief im Inneren so wünschte? Ich legte meinen Kopf auf das kühle Geländer des Balkons. Gab es da mit meinen dreißig Jahren wirklich noch Dinge, die ich von mir selbst nicht wusste? Gab es da wirklich noch andere Sachen, die ich wollte, von denen ich nie gedacht hätte, dass ich sie mal wollen würde?
Nach einer weiteren halben Stunde ging ich mit leicht unterkühltem Körper und noch immer ohne Antworten wieder hinein und legte mich ins Bett.

„Timi", murmelte Lukas irgendwann kaum hörbar. Eigentlich dachte ich, dass er schon tief und fest geschlafen hätte.
„Ja?"
„Kommst du zu mir?"
Das war nun wirklich das Letzte, mit dem ich gerechnet hätte. Was sollte ich bei ihm im Bett? Mein Herz setzte einen Moment lang aus und begann dann, wie wild zu rasen. Mein Atem beschleunigte sich und ich spürte, wie eine ganze Menge Blut in meine Mitte schoss. Ich erschrak mich zutiefst über diese unerwartete Reaktion meines Körpers. Gleichzeitig erfasste mich jedoch zu gleichen Teilen eine große Neugier.
„Und...dann?", fragte ich ihn leise.
„Dann bist du da", flüsterte er.
Ich wurde nervös, mein ganzer Körper begann zu kribbeln und mir wurde total heiß. Wollte ich wirklich wissen, was er mit mir in seinem Bett machen wollte? Ja.
„Und dann?"
Lukas sagte nichts mehr. Aber ich musste jetzt einfach wissen, was er sagen wollte. Das Prickeln meines Körpers steigerte sich immer mehr. Es war so unerträglich schön, dass ich fast laut aufgestöhnt hätte.
„Lukas? Was dann?"
Er atmete tief ein und aus, dann seufzte er. „Dann könnten wir..."
„Was könnten wir, Lukas?", fragte ich, während mir immer heißer wurde. Doch Lukas gab mir keine Antwort mehr. Er war einfach wieder eingeschlafen.
Bei mir hingegen war den Rest der Nacht an Schlaf nicht mehr zu denken. Ich war hellwach und starrte bis zum Morgengrauen stumm an die Decke.
Verwirrt, verstört, erregt.



Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top