Von quietschenden Federn und Chaos im Kopf

Chemnitz, 02. November 2013

„Ich kann ja immer noch nicht so ganz glauben, dass du mich einfach die ganze Nacht lang auf diesem Scheißboden liegen gelassen hast", meckerte Lukas vor sich hin, als er seine Klamotten in den Kleiderschrank unseres neuen Hotelzimmers, welches wir zusammen in Chemnitz bezogen hatten, räumte.

Da Igor, Stefan und Benni erst am frühen Morgen vom Feiern zurückgekommen waren, hatten wir uns erst am späten Abend auf den Weg von Mannheim nach Chemnitz machen können. So richtig fit war niemand von uns, da auch Lukas und ich die Nacht zuvor sehr dem Alkohol zugesprochen hatten und aus diesem Grund war die Fahrt auch vollkommen untypisch für uns alle verlaufen.
Nämlich ganz normal, ohne irgendwelche erwähnenswerte Vorkommnisse, wenn man von dem kleinen Missgeschick, welches Benni passiert war, mal absah. Diesem war irgendwann total schlecht geworden und er hatte sich heimlich in Igors Hut übergeben, der neben ihm lag. Igor hatte im Anschluss an einer Raststätte seinen Hut aufgesetzt und die ganze Kotze von Benni lief ihm über Gesicht und Körper, sodass die Pause etwas länger dauerte, weil er noch ungeplant dort duschen musste, bevor wir endlich weiterfahren konnten.
Ansonsten war aber wirklich nichts weiter passiert.

Ich grinste und setzte mich auf das Fensterbrett, um Lukas beim Ausräumen seiner Tasche zuzusehen. Ab und an drehte ich mich um und schaute aus dem Fenster hinaus. Wir befanden uns in einem sehr günstigen Hotel, welches weitab vom Schuss in irgendeiner Seitenstraße gelegen war, weswegen es jetzt mitten in der Nacht auch absolut nichts interessantes da draußen für mich zu sehen gab.

Nachdem Lukas fertig war, ließ er sich erschöpft ins Bett fallen. Die Federn des in die Jahre gekommenen Bettgestells quietschten dabei so erbärmlich laut, dass es einem schon fast in den Ohren weh tat.
„Wo sind wir denn hier eigentlich gelandet?", nuschelte Lukas in sein flaches, von tausend anderen Gästen zuvor platt gelegenes Kissen hinein.
„Naja, es geht jetzt dem Ende entgegen. Vermutlich ist die Kohle alle", sagte ich schulterzuckend und zündete mir ohne schlechtes Gewissen einen Joint im Zimmer an. Auf ein bisschen Rauch kam es hier wohl wirklich nicht mehr an. Die Luft roch abgestanden und ich hatte noch irgendwas anderes in der Nase, über das ich mir lieber keine genaueren Gedanken machen wollte.

„Jetzt zurück dazu, dass du mich auf dem Boden liegen gelassen hast. Mir tut alles weh, Mann. Und in diesem Bett hier kann ich meinen armen, geschundenen Knochen nicht mal ein bisschen Erholung davon gönnen."
Nach einem tiefen Zug blies ich den Rauch durch das Fenster hinaus, welches ich zuvor dann doch, ohne groß darüber nachzudenken, geöffnet hatte. Lukas, der kleine Sauberkeitsfanatiker, hatte sich mit seinen ständigen Ermahnungen wohl schon langsam bis in mein Unterbewusstsein vorgearbeitet.
„Sorry, ich war halt auch nicht mehr so ganz auf der Höhe."
„Toll und jetzt kannst du es nicht mal mit deinem geilen Körper gutmachen, weil dieses Bett einfach lauter quietscht als sonst was."
„Bist du eigentlich jemals zu kaputt, um spitz zu sein?", fragte ich amüsiert.
„Ja, gestern war ich das offenbar."
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass es noch zur Sache gegangen wäre, wenn du irgendwann mal aus dem scheiß Shirt raus gekommen wärst."
„Da ist wohl was Wahres dran."

Lukas erhob sich schwerfällig wieder aus dem Bett und kam zu mir rüber. Er stellte sich zwischen meine Beine und schlang seine Arme um mich. „Mir sticht auf meiner Seite irgendwas von der Matratze ins Kreuz."
„Dann nehme ich halt zur Entschädigung deine Seite."
„Aber nur, wenn deine nicht noch schlimmer ist!"
„In Ordnung."

Wir umarmten uns eine ganze Weile einfach nur, während ich den Joint weiter rauchte. Ich bot Lukas einen Zug an, doch er lehnte ihn ab.
„Weißt du, was ich total krass finde?", fragte er mich irgendwann.
„Nee, aber ich vermute, du wirst es mir jetzt sagen."
Lukas nahm seinen Kopf ein wenig zurück und guckte mich schief an. „Du und dein Gelaber immer", meinte er und grinste. „Also, bei mir ist es jetzt gar nicht so außergewöhnlich, weil ich dir ja gesagt habe, dass ich schon ziemlich lang... Interesse an dir habe. Aber bei dir wundert es mich total, dass das jetzt alles so schnell ging."
„Wie meinst du das?"
„Na vor ein paar Tagen wusstest du nicht mal, dass du Bock drauf hast, auch mit nem Kerl ins Bett zu steigen. Und jetzt überleg dir mal, was wir innerhalb von nur so wenigen Tagen schon alles miteinander getrieben haben und wie schnell sich deine Meinung dazu geändert hat. Das find ich schon ziemlich krass, vor allem wenn ich daran denke, wie verrückt du dich gemacht hast und wie oft du verzweifelt bei Marcel angerufen hast. Und jetzt stehen wir hier und umarmen uns, als ob es das normalste auf der Welt wäre."

Ich strich Lukas eine Haarsträhne aus den Augen und grinste ihn an.
„Jetzt wo du das so sagst, klingt das schon echt strange. Ich weiß auch nicht, warum ich das so schnell akzeptiert habe. Wirklich nicht. Normalerweise kämpft man da wohl länger mit sich, als nur ein paar Tage. Ich hab keine Ahnung. Aber auf jeden Fall kann ich sagen, dass du es mir halt ziemlich leicht gemacht hast. Du hast mir die ganze Zeit über gesagt, dass es nicht schlimm ist, und dass ich mich ja nicht gleich als schwul bezeichnen muss und so."
„Ich hätte das echt nicht gedacht, so viel Drama wie du da noch vor kurzem gemacht hast", sagte Lukas grinsend.
„Ich ehrlich gesagt auch nicht. Aber... ach das hört sich jetzt bestimmt voll kitschig an... es fühlt sich mit dir irgendwie so normal an. Als ob alles okay ist, als ob es so sein soll."
„Das freut mich. Ich hoffe nur, dass du das noch genau so siehst, wenn wir erst einmal wieder im Alltag sind. Auf Tour ticken die Uhren ja sowieso anders, als dann später im normalen Leben."
„Und genau um das herauszufinden, sollst du ja noch ein bisschen zu mir kommen."
„Ich bin echt gespannt", sagte Lukas und küsste mich.

Ich seufzte zufrieden, zog noch ein letztes Mal an meinem Joint und ließ ihn dann hinter mir aus dem Fenster fallen. Dann legte ich meinen Kopf an Lukas Brust und ließ mir von ihm die Haare streicheln, während ich noch einmal über das nachdachte, worüber wir gerade gesprochen hatten.
Woher das kam, dass ich mich nach so kurzer Zeit schon nicht mehr verrückt deswegen machte, dass ich nun mit dreißig plötzlich auf einen anderen Typen stand, konnte ich wirklich nicht sagen.
Doch entgegen meiner sonstigen Art, alles zu Tode analysieren zu wollen, war mir das im Moment auch ziemlich egal.

Ich hatte Lukas die ganze Zeit während der Tour schon dafür bewundert, dass er sich einfach so akzeptierte wie er war und dass es ihn (bis auf wenige Ausnahmen) ziemlich wenig kümmerte, was andere dabei von ihm dachten. Er war durch und durch ein Künstler, der neben der Musik auch sein ganzes Leben nach seinen Vorstellungen gestaltete und formte, wie es ihm beliebte.
Vielleicht würde er mir diese Art zu leben, die so viel einfacher zu sein schien, als das was ich manchmal so verzapfte, in unserer gemeinsamen Zeit nach der Tour noch viel näher bringen können. Vielleicht würde Lukas mich sogar zu einem besseren Menschen machen.

Lukas gähnte und entfernte sich dann von mir, um sich wieder ins Bett zu legen. Er rollte sich einmal über das komplette Bett und blieb dann direkt in der Mitte liegen.
„Sorry Timi, aber die Mitte ist die bequemste Stelle in dem Teil hier. Da du so asi zu mir warst letzte Nacht, musst du jetzt leider nehmen, was übrig bleibt."
Ich seufzte, ging zu ihm rüber und legte mich auf den schmalen Streifen links neben ihn. „Das hab ich jetzt wohl verdient."
Lukas schloss zufrieden grinsend die Augen und ich drückte auf den Lichtschalter neben dem Bett, um das Licht im Zimmer zu löschen. Nur noch eine Straßenlaterne in der Nähe leuchtete ein orangenes, warmes Licht in unser Zimmer hinein, sodass es nun trotz der ziemlich maroden und unschönen Einrichtung ganz gemütlich wirkte.

Eigentlich dachte ich, Lukas sei schon eingeschlafen, doch dann gähnte er nochmal herzhaft und öffnete die Augen wieder.
„Sag mal Lukas?", fragte ich ihn ganz spontan aus dem Bauch heraus und sah ihn an. „Kannst du dir das denn vorstellen? Also wenn wir jetzt echt so richtig der Meinung sind, dass wir zusammenpassen und das alles. Also dass wir dann so richtig zusammen sind?"
Lukas lachte leise. „Das fragst du mich jetzt einfach so."
„Okay, dann frage ich nicht auf mich speziell bezogen. Kannst du dir vorstellen, eine offizielle Beziehung mit nem Kerl zu führen? Ich meine, das würden doch die anderen mitbekommen und auch sonst jeder."
„Ja, ich kann mir das vorstellen", sagte er. „Ich hätte da jetzt echt kein Problem damit. Und was die anderen davon halten, ist mir auch egal. Dadurch wird ja meine Musik nicht schlechter."
„Nee, das nicht. Aber ich meine eher... was wenn andere Musiker das mitkriegen und es sich herum spricht. Oder die Fans?"

Lukas grinste nur und klaute mir abgesehen von genug Platz auch noch ein Stück von meiner Decke. „Haben wir darüber nicht schon einmal gesprochen?"
„Ich weiß es nicht. Es ist so viel passiert in den paar Tagen und es wurde so viel geredet. Kein Plan."
„Naja, egal. In der Öffentlichkeit bin ich doch eh nie Lukas. Und Lukas ist der Typ, der dann nen Freund hätte. Die Öffentlichkeit kennt Lukas doch gar nicht und dementsprechend hat sie auch keine Ahnung, mit wem er es so treibt. Oder was er im Allgemeinen so treibt."

„Ich weiß nicht, ob das wirklich so einfach ist, wie du das jetzt sagst. Und ich find es echt erstaunlich, dass dir das gar nichts ausmacht."
„Dass mir was nichts ausmacht?", fragte Lukas und sah mich irritiert an.
„Dass du auf Männer stehst", antwortete ich und merkte eigentlich im selben Moment, was für einen Scheiß ich da gerade redete. Lukas schüttelte den Kopf, grinste aber glücklicherweise dabei.
„Warum sollte es mir was ausmachen? Erstens habe ich diese Fantasien schon so lange, dass ich mich so langsam schon damit abgefunden habe, und zweitens... naja ich denke, du würdest das eher verstehen, wenn du meine Eltern richtig kennen würdest. Ich bekam ja schon von Anfang an eingetrichtert, dass ich sein soll, was immer ich sein will und dass Meinungen von Anderen oder irgendwelche angebliche Normen mich da nicht beschränken sollen."

Nachdenklich sah ich Lukas an, ging seine Worte still nochmal im Kopf durch und wunderte mich wieder einmal darüber, wie verwirrend das zwischen uns eigentlich war.
Ich konnte mich noch sehr gut an unser Gespräch von vor ein paar Tagen erinnern, in dem Lukas mir seine Gefühle gestand und sich sehr nervös darüber äußerte, dass er sich sehr wohl Gedanken darüber machte, wie eine Beziehung zwischen uns von der Öffentlichkeit und unseren Kollegen aufgenommen werden könnte.
In diesem Gespräch war sogar ich derjenige gewesen, der dann versucht hatte, ihn zu beruhigen. Ich hatte ihm gesagt, dass er sich keine Gedanken darüber machen sollte und außerdem hatte ich ihm auch gesagt, dass es mir egal war, was andere über uns denken würden.
Heute, nach nur so kurzer Zeit, waren diese Rollen plötzlich und für mich unerklärlich wieder vertauscht. Das machte mir noch einmal deutlich, wie chaotisch und ungeklärt das alles war, was zwischen uns lief und dass noch längst nicht alle Schwierigkeiten hinter uns lagen, nur weil wir uns jetzt einigermaßen mit der Situation angefreundet hatten.
Eine feste Meinung, eine richtige Sicherheit schienen wir im Bezug auf uns beide noch nicht zu haben. Diese schien sich bei jedem von uns ständig zu ändern.
Ich hatte jedoch jetzt keine Lust, darüber zu reden und sagte deshalb nichts. Ich freute mich, dass Lukas jetzt im Moment diesen Standpunkt vertrat. Vielleicht war er ja in den vergangenen Stunden hart mit sich ins Gericht gegangen und blieb jetzt mal dabei.

Das Handy von Lukas vibrierte auf dem Nachttisch und er beugte sich rüber, um die eingegangene Nachricht zu lesen.
„Benni schreibt, dass er sich etwas beim Pizza bestellen verschätzt hat und fragt, ob wir auch was wollen."
Ich sah Lukas fragend an. War jetzt alles geklärt zwischen uns? Gab es noch irgendwas zu sagen? Wollte ich doch noch etwas sagen?
„Oder willst du nicht?", fragte er und warf mir einen ebenso fragenden Blick zu.

Ich schaute auf die Uhr, die kurz vor vier Uhr morgens anzeigte. Mein Magen war jetzt eigentlich nicht mehr in der Stimmung für Pizza, aber als ich mich nochmal mit skeptischem Blick in unserem Zimmer umsah, stimmte ich dann doch zu, noch in Bennis Zimmer rüber zu gehen.
„Na dann komm", sagte ich und schälte mich unter der kratzigen Bettdecke hervor. „Wer
weiß, was die uns hier zum Frühstück servieren. Da sind Bennis angesabberte Reste wohl noch gesünder."

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