Von Krümeltee und düsteren Kreaturen
Nürnberg, 23. Oktober 2013
Als Lukas wieder zu Stefan in deren Zimmer rüber gegangen war, legte ich mich mit wild klopfendem Herzen in mein Bett. An Schlaf war jetzt absolut nicht zu denken. Ich war so aufgeregt! Die ganze Zeit über hatte ich ein wenig Angst davor gehabt, zu erfahren, was das genau mit Lukas war, da ich mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hatte, als bisexuell oder schwul bezeichnet werden zu können. Wobei schwul da auf jeden Fall schon mal wegfiel. Auf Frauen stand ich nämlich trotzdem noch, das hatte sich innerhalb von den paar Tagen nicht in Rauch aufgelöst.
Konnte ich damit leben, wenn ich mich selbst als bisexuell bezeichnete? Eventuell schon. Wobei ich jetzt so aus dem Stehgreif keinen anderen Mann benennen konnte, mit dem ich gerne zwischen die Laken springen würde.
Dass Lukas mir erzählt hatte, er wäre bisexuell und würde schon etwas länger auch auf Männer stehen, hatte mich schon ziemlich überrascht. Das hieß nämlich, dass er nicht nur mich anziehend fand, sondern auch andere Männer. Der Gedanke, dass er eventuell auch Igor, Benni oder Stefan heiß finden könnte, kam mir da schon ein wenig komisch vor. Da man ihm bis vor Kurzem noch nie etwas angemerkt hatte, konnte ich auch gar nicht abschätzen, auf was für einen Typ Mann er außer mir so stand.
Ich wälzte mich noch ein wenig im Bett herum, wurde aber einfach nicht müde, weil mein Herz sich noch immer überschlug und die Schmetterlinge in meinem Bauch eine irre Remmidemmi-Party veranstalteten. Da waren nicht nur ein paar Schmetterlinge drin. Das waren hunderte oder tausende! Mindestens zehntausend. Ich hatte bestimmt so viele im Bauch, wie Menschen auf die Loveparade gehen. Den Vergleich fand ich sehr treffend.
Lukas...
Lukas hatte tatsächlich Interesse an mir. Und nicht mal nur auf sexueller Ebene. Nein, sondern so richtig mit Gefühlen! Und es machte mir gerade überhaupt keine Angst. Zweifel hatten im Moment überhaupt keine Chance und ich konnte gerade nur reines, pures Glück deswegen genießen.
Ich schaltete den Fernseher ein und zappte einmal durch alle Kanäle, konnte aber beim ersten Durchlauf überhaupt nichts interessantes entdecken. Darum stand ich auf und drehte mir einen Joint. Das half mir eigentlich immer beim Einschlafen.
Ein wenig entspannter war ich danach schon, aber trotzdem reichte es noch nicht, um mich ins Traumland hinüber zu befördern. Als mein Blick auf mein Handy fiel, beschloss ich, draußen noch eine Runde zu laufen und Marcel währenddessen das Neueste zu berichten. Es war zwar schon ziemlich spät, aber vielleicht hatte ich ja Glück und er war noch am Lernen, wie er das oft in der Nacht tat.
Ich zog mich an, schnappte mir Handy und Zigaretten und ging durch das Treppenhaus nach unten, wobei ich immer zwei bis drei Treppen auf einmal hinunter sprang. Einmal rutschte ich auch einfach das Geländer runter. Eine Hotelangestellte, die mir entgegen kam, wollte mich offenbar gerade maßregeln. Als sie jedoch mein glückliches breites Grinsen sah, sagte sie doch nichts, sondern lächelte mich einfach nur kurz an und ging weiter ihrer Wege.
„Marcel!", schrie ich in mein Handy, als dieser fast sofort dran gegangen war.
„Timi!", rief er zurück.
Ich zündete mir eine Zigarette an und entfernte mich ein wenig vom Hotel.
„Was geht?"
„Lineare Algebra und Datenstrukturen. Also wahrscheinlich geht bei dir mehr."
„Klingt nicht besonders aufregend, muss ich zugeben."
„Es geht. Hab vorhin beim googlen was witziges gelesen. Das ging irgendwie so, ein Spermium enthält 37,5 Megabyte an DNA-Daten. Meine Bachelor-Thesis war nur 23 Megabyte groß. Hätte ich meinem Prof also einfach ins Gesicht gewichst, wäre das informativer gewesen!"
„Ach Marcel", seufzte ich. „Das ist wohl ganz spezieller Informatikerhumor."
Marcel prustete los und kriegte sich kaum wieder ein. „Findest du das nicht witzig?"
„Vielleicht ein ganz kleines bisschen", sagte ich grinsend.
„Na los dann. Erzähl mal", forderte er mich auf.
„Oh ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll! Lukas ist bei Stefan im Zimmer und er hatte mich den ganzen Tag mehr oder weniger ignoriert. Ich wollte mich aber nicht mehr so verrückt machen, wie schon die ganze Zeit über und dann bin ich einfach zu ihm rüber gegangen und habe gesagt, dass ich mit ihm reden will."
„Super, Timi! Ich bin stolz auf dich. Und hat es denn auch was gebracht?"
Ich balancierte auf einer Parkbank herum und grinste dabei über beide Ohren.
„Oh, und wie! Er steht auf mich. Nicht nur so körperlich, sondern so richtig, weißt du, wie ich meine?", fragte ich und zerbiss mir dabei fast die Unterlippe.
„Und wie findest du das?"
„Ich hatte eigentlich gedacht, dass mir das irgendwie Angst machen oder mich abstoßen würde. Aber nee! Überhaupt nicht. Ich find es einfach nur richtig schön! Und naja, also ich hab dir ja eh schon gesagt, dass ich mich vermutlich ein bisschen in ihn verknallt habe. Er steht schon seit einem Jahr auf mich, kannst du dir das vorstellen?"
„Und das hast du nie gemerkt?"
„Nein! Das hat er echt gut verstecken können. Ohje und wir hatten so oft ein Zimmer zusammen gehabt. Wenn ich mir vorstelle, wie schwer das für ihn gewesen sein muss. Ich hab mich ja auch vor ihm umgezogen und bin einfach so nackt durchs Zimmer gegangen, ohne mir was dabei zu denken. Und dann musste er mit mir in einem Bett schlafen und hatte ein ganzes Jahr lang den Wunsch, dass zwischen uns was läuft. Das muss sich doch total schrecklich anfühlen."
Ich hörte im Hintergrund mal wieder ein klickendes Feuerzeug, gefolgt vom altbekannten Blubbern. „Stell ich mir auch echt hart vor", meinte Marcel.
„Erträgst du das Gespräch mal wieder nur, wenn du dabei rauchst?", fragte ich und lachte.
„Nee, ich hab mich so langsam an den Gedanken gewöhnt", antwortete Marcel und lachte ebenfalls. „Am Anfang war es schon ein bisschen seltsam zu wissen, dass du was mit Lukas hast. Aber wir haben jetzt so lange und ausführlich darüber geredet, dass es mich schon gar nicht mehr schockt."
Ich setzte mich auf die Bank und sah nach oben in den klaren Sternenhimmel.
„Das find ich echt total super von dir, dass du das so locker sehen kannst."
„Ach Timi", seufzte Marcel. „Wir haben uns doch bisher immer und bei allem unterstützt. Dann doch hier selbstverständlich auch."
„Danke."
„Nichts zu danken. Wie geht es jetzt weiter mit euch?"
Beim Gedanken an das, was Lukas und ich da noch besprochen hatten, wurde mir ganz heiß.
„Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir bald Sex haben. Also so richtig, weißt du? Weil ich hatte noch nie welchen mit nem Kerl und Lukas auch nicht. Je nachdem, ob uns das dann gefällt, geht es weiter oder eben nicht."
„Oha! Aber... was wenn es einem nicht gefällt und dem anderen aber?"
„Ach Marcel, ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass das der Fall sein wird. Ich hab zwar keine Ahnung, wie das jetzt so im Detail sein wird, aber ich find die Vorstellung davon echt geil. Und Lukas fährt sowieso total auf mich ab und hat sich kaum unter Kontrolle, das wird dem auch gefallen, da bin ich mir sicher."
„Okay. Ähm. Darf ich da mal was fragen?", fragte Marcel und ich konnte dabei deutlich sein Grinsen hören.
„Was denn?", fragte ich und zündete mir eine Kippe an.
„Wer wird wen ficken?"
Ich hustete und ließ meine Zigarette in den Dreck fallen, die ich dann fluchend austrat. Ich fummelte mir eine neue aus dem Päckchen und lachte dann.
„Ohje, das ist gar nicht zur Sprache gekommen. Also die Details haben wir uns da noch gar nicht überlegt. Keine Ahnung!"
„Ihn zu ficken wird ja weniger das Problem sein. Ich gehe einfach mal davon aus, dass du das bei ner Tussi schon gemacht hast. Aber was ist, wenn er dich ficken will? Ich kann mir das ja so gar nicht vorstellen."
„Jetzt wo du es sagst... keine Ahnung. So weit habe ich dann auch wieder nicht gedacht. Aber so, wie Lukas so drauf war bisher, würde ich ihn eher als denjenigen einschätzen, der... fickt."
„Stell dir jetzt mal vor, ihr liegt im Bett und Lukas sagt, dass er dich jetzt gerne ficken möchte. Was antwortest du ihm dann?"
„Ich denke... ich würde ihn das tun lassen. Sollte es mir nicht gefallen, wird er ja wohl kaum einfach weitermachen. Warum also nicht einfach mal ausprobieren?"
„Auch, wenn ich nicht so sonderlich scharf auf die ganz feinen Details bin, musst du mir das mal beschreiben, falls das so passiert."
Ich kicherte ein wenig unsicher vor mich hin und spürte, wie ich rot wurde. „Äh. Okay, mach ich dann."
„Alles klar, dann leg ich mal auf, hab den perfekten Level zum Schlafen erreicht", sagte Marcel und gähnte herzhaft.
„Hast du die Vase von deiner Oma noch kleben können?"
„Ach du scheiße, erinner mich nicht daran. Die kleinsten Teile hatten die Größe von nem halben Centstück. Ich hab sieben Stunden geklebt und teilweise passt das Muster gar nicht. Ich hoffe, das fällt ihr nicht auf!"
„Ich drück dir mal die Daumen", sagte ich lachend.
„Ich dir auch bei eurem Vorhaben."
Nachdem wir uns verabschiedet und aufgelegt hatten, kuschelte ich mich in meine Jacke ein, blieb noch ein wenig auf der Bank draußen sitzen und sah mir den Himmel an. Ich ersetzte meine Zigarette durch einen Spliff und stellte mir vor, dass ich jetzt mit Lukas hier draußen sitzen würde.
In meiner Vorstellung lag er mit seinem Kopf auf meiner Schulter und ich hatte einen Arm um ihn, aber andersrum konnte ich mir das eigentlich genau so gut vorstellen.
Schon alleine die Vorstellung, mir mit ihm jetzt die Sterne zu betrachten, beruhigte mich total. Das musste ich unbedingt mal mit ihm machen!
Der Himmel kam mir heute viel dunkler vor, als sonst und auch die Sterne schienen heller zu leuchten. Ich glaubte, ich hatte noch nie zuvor so viele Sterne auf einmal gesehen.
Mein Joint begann endlich, langsam zu wirken und das Zirpen der Grillen, welches das einzige Geräusch hier draußen darstellte, entspannte mich zusätzlich. Ich überlegte wirklich, ob ich Lukas nicht einfach anrufen sollte, damit er zu mir hier raus kam, aber wir hatten uns doch vor gut zwanzig Minuten erst voneinander verabschiedet.
Darum entschied ich mich dagegen und blieb noch ein wenig alleine sitzen, bis mir dann endgültig zu kalt dafür wurde.
Als ich wieder in meinem Zimmer war, konnte ich hören, dass Lukas und Stefan ebenfalls noch wach waren. Was sie genau redeten verstand ich nicht, ich konnte jedoch hören, dass sie viel lachten. Ich musste ein bisschen grinsen, als ich daran dachte, warum Lukas gerade so gut drauf war. Und Stefan hatte davon absolut keine Ahnung!
Ich versuchte, zu schlafen, aber leider gelang mir das immer noch nicht. Also schaltete ich den Fernseher ein und blieb bei irgendeinem stumpfsinnigen Horrorfilm hängen, der eher lustig als gruselig war. Richtig darauf konzentrieren konnte ich mich aber nicht, weil meine Gedanken sich die ganze Zeit um das Gespräch mit Lukas, sowie um das Telefonat mit Marcel drehten. In mir brodelte ein riesiger Gefühlscocktail, wie schon so oft in den letzten Tagen. Diesmal waren es allerdings tatsächlich nur positive Gefühle. Ziemlich viel Aufregung hatte sich auch darunter gemischt, weil Lukas und ich vorhatten, ziemlich bald miteinander zu schlafen und ich ja noch keine Ahnung hatte, wie das werden würde. Aber auch diese Aufregung empfand ich durchaus als positiv.
Ich erinnerte mich daran, wie spannend das damals war, als ich in jungen Jahren alles mögliche zum ersten Mal mit Frauen im Bett ausprobiert hatte. Irgendwann war der Punkt gekommen, an dem ich eigentlich alles schon mal gemacht hatte und es nichts neues mehr zu entdecken gab. Klar, war jeder Sex danach immer noch aufregend, aber trotzdem fand ich es zeitweise schade, dass es nichts wirklich neues mehr zu erleben gab. Und jetzt konnte es mit Lukas doch nochmal ganz von vorne losgehen!
Ich machte den Fernseher etwas leiser und drehte mich auf die Seite, um endlich mal zu schlafen, als ich entdeckte, dass mein Handy blinkte. Ich nahm es in die Hand und setzte mir nochmal meine Brille auf, die ich gerade erst neben mich gelegt hatte. Als ich feststellte, dass die Nachricht von Lukas war, bekam ich kurzzeitig Schnappatmung.
Lukas, 03:34: Timiiiiiii!
Ich, 03:35: Lukas?
Lukas, 03:35: Stefan schläft.
Ich, 03:35: Und jetzt?
Lukas, 03:35: Jetzt guck ich nen Film und trau mich aber nicht, ihn alleine fertig zu gucken.
Ich, 03:36: Warum das denn?
Lukas, 03:36: Bin ein bisschen angetrunken und dann bin ich total schreckhaft :D
Ich, 03:37: Habt ihr gerade noch was getrunken oder wie?
Lukas, 03:38: Ja. Aber nur, um zu probieren, wie etwas schmeckt. Naja, es schmeckte dann viel zu gut und wir haben nicht nur probiert, sondern gesoffen. Hahaha!
Ich, 03:39: Okay :)
Lukas, 03:39: Willst du mich nicht langsam mal zu dir einladen, damit ich den Film bei dir zu Ende gucken kann? ;)
Ich, 03:39: Wollte ich gerade vorschlagen. Aber was ist mit Stefan?
Meine letzte Nachricht hatte Lukas nicht mehr gelesen und es klopfte nur einen Moment später an meiner Tür.
„Na?", sagte er und drückte mir einen Kuss auf die Lippen, der nach Eistee und Vodka schmeckte.
„Meinst du nicht, es ist ein bisschen komisch, wenn Stefan wach wird und du nicht da bist?"
„Nein, der hat so viel getrunken, der ist wie tot. Außerdem habe ich seinen Wecker ausgestellt, also wird er erst wieder wach, wenn ich morgen früh wieder rüber gehe." Lukas biss sich auf die Lippen und guckte grinsend auf den Boden. „Also, vorausgesetzt dass ich überhaupt bis morgen früh bleiben darf."
Ich nahm ihn an der Hand und zog ihn mit mir in das schmale Bett, das eigentlich nur für eine Person vorgesehen war. „Klar, kannst du hier bleiben."
„Gut", sagte Lukas und drückte mir nochmal einen ziemlich fruchtig schmeckenden Kuss auf.
„Was habt ihr genau getrunken?", fragte ich und leckte ihm neckisch über die Lippen.
„Ich kannte das vorher nicht, aber Stefan meinte, es wäre voll geil, wenn man Krümeltee mit Vodka mischt. Und mein lieber Schwan, das war wirklich geil."
„Ich merks, du bist ganz schön angeschickert."
Lukas kicherte vor sich hin und zog mich fest in seine Arme.
„Okay und was war das jetzt für ein Film, den du alleine nicht gucken kannst?"
Lukas drehte sich ein wenig um, so dass er den Bildschirm im Blick hatte. „Genau der, den du an hast. Mach mal lauter. Oh Gott!"
Ich lachte in mein Kissen hinein, um nicht zu laut zu sein. „Vor dem Schwachsinn hast du Angst? Ernsthaft?"
„Das ist doch voll gruselig!"
„Lukas, also bitte! Was soll daran gruselig sein?"
„Na stell dir doch mal vor, du gehst durch den Wald und dann entführt dich so ein Teil. Das ist doch ekelhaft!"
„Das sind einfach nur ein paar Deppen, entstanden aus 40 Jahren Inzest oder so, die total albern aussehen. Und oh mein Gott, sie sammeln Augen und Ohren in Gläsern. Das hat man ja noch niemals vorher gesehen!"
„Du bist doof", flüsterte Lukas und krallte sich an mir fest, als sich im Film gerade eine der besagten Kreaturen vom Baum fallen ließ, um auf einer Joggerin zu landen, die danach natürlich direkt tot war.
„Okay, ich sag nichts mehr. Guck deinen Film", sagte ich, schloss die Augen und streichelte Lukas den Rücken.
„Guckst du auch?", flüsterte er leise, als ob er Angst hatte, dass er der nächste sein könnte, der geholt werden würde.
„Ja klar. Ich gucke", log ich.
„Was passiert gerade?"
„Wald."
„Was, Wald?"
„Die laufen durch den Wald", sagte ich nach einem kurzen Blinzeln.
Auch, wenn es total albern war, fand ich Lukas gerade zum Knutschen süß. Ständig zuckte er in meinen Armen zusammen und fragte mich, ob ich noch wach wäre und mir den Film ansah.
Irgendwann jedoch wurden die Abstände immer größer und noch bevor sein Film zu Ende war, war er eingeschlafen.
Lächelnd schaltete ich den Fernseher ab und gab Lukas einen sanften Kuss auf die Stirn. Es war viel zu schön, um wahr zu sein und ich glaubte wirklich, dass das hier etwas werden könnte.
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