Geständnisse

Hamburg, im Oktober 2013

„Steh auf Mann! Das musst du sehen, Timi!", schrie mir jemand total begeistert ins Ohr und riss mich somit aus meinem mehr als angenehmen Schlaf. Ich rollte mich auf die Seite, öffnete die Augen und erblickte wenige Zentimeter vor meinem das aufgeregte Gesicht meines Bandkollegen Stefan. 
Ich stöhnte genervt auf und wischte mir meine vom Schweiß völlig durchnässten Haare aus dem Gesicht. In dem Zimmer hier hatte es ungefähr gefühlte vierzig Grad, da unser Kameramann Igor, der sich mit mir aktuell das Hotelzimmer teilte, eine totale Mimose war und deshalb stets die Heizung in der Nacht auf höchster Stufe laufen ließ, sobald sich die Außentemperaturen unter fünfzehn Grad bewegten. Nicht nur die Hitze im Raum hatte mich zum Schwitzen gebracht, auch mein Traum gerade war daran nicht ganz unbeteiligt gewesen.
„Ey, warum schläfst du überhaupt? Es ist noch nicht mal 22 Uhr durch, wir gehen gleich feiern, Alter", nervte Stefan weiter und zog mir die Bettdecke weg.
Obwohl wir unsere „Voll durch die Mitte"- Tour offiziell erst in ein paar Tagen beginnen würden, waren wir mit der ganzen Crew vorzeitig schon mal nach Hamburg aufgebrochen. Unserem Labelboss Benni war diese Stadt total ans Herz gewachsen und er hatte unbedingt mit uns herkommen wollen. Leider hatten wir für die kommende Tour keine passende Location in Hamburg finden können, also ordnete Benni an, dass wir uns hier eben, auch ohne ein Konzert zu geben, schon mal an das zukünftige Pensum an Alkohol, Drogen und billigen Weibern gewöhnen sollten.

„Boah, ich hoffe, du hast einen verdammt guten Grund, um mich jetzt schon zu wecken. Wir gehen frühestens in zwei Stunden los", meckerte ich und zog mir die Decke wieder über.
„Benni hat in nen Aschenbecher gekackt, stellt den bei fremden Leuten vor die Tür, klopft dort und haut ab", schwärmte Stefan und kicherte dabei doof vor sich hin.
„Nicht dein verdammter Ernst Stefan", sagte ich sehr laut und schmiss ihm ein Kissen an den Kopf. „Wegen so einer buchstäblichen Scheiße weckst du mich auf, ey."
Mein momentan mehr als nerviger Bandkollege setzte sich zu mir auf die Bettkante und zog ein gespielt beleidigtes Gesicht. „Ich glaub wir müssen nochmal nach Bielefeld zurückfahren und was abholen. Ich glaub, du hast deinen Humor zu Hause vergessen", sagte er und zog mir dabei schon wieder die Decke weg. Wenn er so weiter machte, würde er wahrscheinlich gleich mit ein paar Zähnen weniger das Zimmer verlassen.
„Ähhh, sag mal Timi, stör ich dich irgendwie?", fragte er zaghaft und schielte dabei auf die leichte Beule in meinen Shorts.
„Ach nee, wie kommsten da drauf? Na ja, hab irgendwie von so ein paar Bitches geträumt, wir hatten wenig an, wollten gerade zur Sache kommen... dann kamst auch schon du und hast mich da rausgenervt", antwortete ich Stefan breit grinsend.
Lüge.
Ich hatte zwar wirklich davon geträumt, dass ich mit jemandem halbnackt zur Sache gehen wollte, aber das waren nicht mehrere Frauen gewesen, die da in meinen Träumen herumschwirrten. Genauer gesagt war nicht eine einzige Frau darin vorgekommen, sondern... Lukas. Der Frontmann unserer Rapformation Plan B. 

Schon seit ich ihn 2010 kennengelernt hatte, waren solche Träume immer mal wieder aufgetaucht. Erklären konnte ich mir das nicht, denn schwul war ich bei Gott nicht. Außerdem war ich ebenfalls noch immer der festen Überzeugung, dass ich auch keine bisexuellen Neigungen oder so etwas in der Art hatte. Anfangs hatte ich diese erotischen Träume vielleicht alle paar Monate, seit einiger Zeit jedoch, vor allem jetzt, so kurz vor der Tour, häuften sie sich gewaltig.
Mich verwirrte das so sehr, dass ich deswegen sogar mal so eine komische Traumdeutungswebsite besucht hatte. Als ich dort jedoch die ersten paar Zeilen las, nämlich, dass Homosexualität im Traum auf die Sehnsucht nach elterlicher Liebe, vor allem vom gleichgeschlechtlichen Elternteil, hindeuten könnte, schlug ich den Laptop gleich wieder zu, weil das so ein Thema war, mit dem ich mich so gar nicht mehr beschäftigen wollte.

Klar mochte ich Lukas sehr, eigentlich war es sogar viel mehr, als nur mögen. Ich konnte schon von mir behaupten, dass ich ihn liebte. Aber eben als Freund, auf rein platonische Art und Weise. Er war lieb, witzig, verständnisvoll und super intelligent. Der ideale Gesprächspartner, mit dem man pausenlos die Nächte durchquatschen konnte. Und er war schön. Es ist doch vollkommen in Ordnung, einen guten Freund als schön zu empfinden. Okay, vor Lukas hatte ich das so auch noch nie gehabt. Ich konnte einschätzen, ob ein Mann auf die Damen- oder eben Herrenwelt attraktiv wirkte, oder eher weniger, aber dass ich von einem Typen sagte, dass ich selbst ihn schön fand, das kannte ich vor Lukas so noch nicht.
Ich war immer gerne in seiner Nähe und suchte häufig den körperlichen Kontakt. Aber wenn man jemanden sehr mag, ist das doch auch normal. Außerdem war es auch bei den anderen Mitgliedern der Band keine Seltenheit, dass man sich anfasste, abknutschte oder aufeinander saß.
Dass ich mich einmal dabei erwischte, wie mein Blick an seinem Glücksstreifen entlang wanderte und ich mich fragte, wie es wohl weiter unten aussah, das war dann wohl schon die Grauzone. Dass ich mal einen Traum hatte, in dem ich auf ihm lag, ihn küsste, er sich unter mir wand und meinen Namen stöhnte und ich kurz nach dem Aufwachen diese Fantasie noch etwas länger bewusst in meinem Kopf weiterlaufen ließ, das war wohl nicht mehr so ganz normal. Dass ich mir darauf dann auch noch einen runter geholt hatte, war definitiv nicht mehr normal.
Naja, Fantasien darf man haben, musste ja keiner wissen und ich hatte auch nicht vor, diese in die Tat umzusetzen. Beim Gedanken daran, wirklich mit einem Mann, selbst wenn es Lukas wäre, körperlich zu werden, schreckte mich das dann doch eher ab. Außerdem stand er doch zu hundert Prozent nur auf Frauen. Ganz sicher.

„Timiiiii, stehst du jetzt auf, oder was?", fragte Stefan ungeduldig.
„Ja, Mann", fauchte ich und rollte mich aus dem Bett raus.
„Ich glaube, du wirst alt", stellte er fest, als er hörte, wie meine Knochen knackten, während ich mich streckte.
Ich verdrehte genervt die Augen und stellte mich vor ihn. „Entweder, du baust mir jetzt nen Joint, während ich mich anzieh, oder du ziehst Leine. Du bist heute echt nicht zu ertragen. Ist der letzte Fick bei dir schon mehr als zwölf Stunden her, oder was ist los?"
„Sei doch nicht so zickig. Ich glaub, das ist eher bei dir der Fall. Du bist völlig unentspannt!"

Nach ein paar weiteren Sprüchen von Stefan, die mich sehr auf die Palme gebracht hatten, hatte ich ihn dann tatsächlich aus dem Zimmer gekehrt und baute mir meinen Joint selbst. Ich mochte ihn eigentlich und zählte ihn zu meinen besten Freunden. Aber nach dem Aufwachen brauchte ich halt erstmal eine Zeit lang meine Ruhe und er war nicht gerade das, was man unter einer feinfühligen Person versteht. Manchmal war er einfach so ein richtiger Bauer und erkannte den Wink mit dem Zaunpfahl selbst dann nicht, wenn man ihm schon fast die Birne damit einschlug.

Als ich fertig geraucht hatte und den Hotelflur in die Richtung von Bennis Zimmer entlang ging, wo die anderen bereits alle zusammen saßen, kam Lukas gerade aus dem Zimmer raus, das er sich hier mit Stefan teilte.
Ich ließ meinen Blick an ihm einmal von oben nach unten schweifen. „Was hast du denn heute vor?"
Lukas lachte, legte mir einen Arm um die Schulter und zog mich mit zu Bennis Zimmer. Er trug eine recht enge, dunkle Jeans, ein graues Hemd, welches seine Augen durch diese Farbe wahnsinnig herausstechen ließ und er roch einfach unglaublich gut. Was dachte ich denn da bloß schon wieder?
„Wie meinst du?", fragte er mich und sah mich von der Seite an.
„Ähh, du bist... irgendwie so ...aufgestylt", stammelte ich vor mich hin. Boah, Tim, jetzt reiß dich doch mal zusammen.
„Und du bist leicht durch den Wind, mein Freund", antwortete er und öffnete die Tür.
„Endlich Mann", rief Benni, fuchtelte in der Luft herum und verschüttete dabei den Großteil des Vodkas, den er in der einen Hand gehabt hatte. „Wo bleibt ihr Ficker denn? Der Onkel hätte fast schon das ganze Koks ohne euch weg gezogen!" Er grinste breit und schlug ein paar Mal mit der flachen Hand neben sich auf die Couch. „Los, Timi, geh her."
Ich löste mich von Lukas, ließ mich neben Benni fallen und hatte keine zehn Sekunden später schon das Ziehröhrchen angesetzt.

Um drei Uhr in der Nacht hatten wir das Zimmer immer noch nicht wie geplant verlassen, um feiern zu gehen, da die Stimmung sich auch hier schon auf ihrem Höhepunkt befand. Igor war so dicht, dass er auf dem Couchtisch strippte, bis dieser zusammenbrach. Lukas parodierte ein paar Komiker, bis wir vor Lachen weinten. Stefan ließ uns mit ein paar Erzählungen seiner wildesten Sex-Erlebnisse erröten.
„Bah Stefan, ich werde eine Salatgurke für immer mit anderen Augen sehen", schnaubte ich und schüttelte mich gekünstelt.
Lukas, betrunken und wie immer dann sehr anhänglich, umklammerte meinen Arm und legte seinen Kopf auf meiner Schulter ab. „Bist du auch so pervers wie Stefan, Timi?", säuselte er mir ins Ohr und bescherte mir damit eine krasse Gänsehaut. „Niemand ist so pervers, wie Stefan", antwortete ich ihm und sah besagten leicht fassungslos an.
„Jeder erzählt jetzt mal das Krasseste, was er im Bezug auf Sex bisher gemacht hat!", rief Lukas und sah völlig begeistert von seiner Idee in die Runde.
„Dann fang mal an", sagte Igor aufmunternd und sah ihn interessiert an.
„Gut, aber ihr dürft nichts Doofes sagen", lallte Lukas, hob warnend einen Zeigefinger in die Luft und sah uns allen der Reihe nach mit glasigem Blick in die Augen.
„Wir doch nicht", meinte Stefan und stieß ihm freundschaftlich einen Ellbogen in die Seite.
„Als ich fünfzehn war, wollten ein Kumpel und ich unbedingt wissen, wie sich ein Blowjob anfühlt. Da bei uns beiden nicht im Entferntesten ein Mädchen in Sicht war, das uns diesen Wunsch erfüllen würde, haben wir uns eben gegenseitig einen gegeben. Ich fand es geil."

Als ich das Bier, das ich gerade im Mund hatte, über den ganzen Tisch spuckte und einen heftigen Hustenanfall bekam, sobald Lukas sein Geständnis ausgesprochen hatte, erntete ich von allen Anwesenden überaus skeptische Blicke.

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