Eiserner Steg

Frankfurt am Main, 29. Oktober 2013

Gerade, als ich wieder in die Kneipe hineingehen wollte, kam Lukas mir entgegen.
„Ich  mag nicht mehr", sagte er und sah ziemlich erschöpft und überfordert  aus. „Ich liebe sie ja. Ich liebe jeden einzelnen von ihnen, aber ich  kann jetzt nicht mehr."
„Du wirst dich schon noch dran gewöhnen", sagte ich und streichelte ganz kurz seine Schulter.
Lukas  schloss kurz seine Augen und genoss meine flüchtige Berührung mit einem  leichten Lächeln im Gesicht. „Können wir irgendwo hingehen, wo nicht so  viel los ist?"
„Was ist mit Marcel und... wie heißt sie nochmal?"
„Ines",  antwortete Lukas schmunzelnd. „Du solltest dir den Namen von der Flamme  deines besten Freundes besser behalten, wenn der sich schon sämtliche  Dramen wegen uns beiden geduldig anhören muss. Ich hab Marcel gesagt,  dass ich gehen will. Er meinte dann, er bleibt mit Ines noch ein  bisschen und dass du bestimmt mit mir zurückgehst."
Ich nickte peinlich berührt und schlug die Richtung ein, aus der nicht ganz so viele Menschen zu kommen schienen.
Lukas  hatte schon recht. Wenn sich Marcel immer mein Geschwärme und meine  Sorgen, egal zu welcher Uhrzeit ich ihn anrief, anhörte, sollte ich mich  wohl auch ein bisschen mehr für ihn interessieren, ganz egal, wie voll  mein Kopf derzeit auch mit Lukas war.  

Lukas zog sich seine Kapuze tief ins Gesicht, um nicht in der feiernden  Menge, die größtenteils aus Junggesellenabschieden und Studenten  bestand, erkannt zu werden und wir kamen in eine Gasse, die relativ  ruhig war.
Darum nahm er seine schützende Kopfbedeckung wieder runter, um sich besser umsehen zu können.
Die  Gasse war recht eng und der Belag des Bodens bestand noch aus altem  Kopfsteinplaster, in dem  eine Frau vor uns gerade mit ihrem Absatz  hängen blieb und sich langlegte.

Wie der perfekte Gentleman ging Lukas zu ihr hin und half ihr hoch. Es  hätte eine Szene in einem ultrakitschigen Liebesfilm sein können, in der  in diesem Moment die Geigen anfangen zu spielen und weiße Tauben zum  Himmel empor steigen.
So  jedenfalls kam der Dame die Situation gerade wahrscheinlich vor, wenn  man ihren schwärmerischen Gesichtsausdruck, mit dem sie Lukas bedachte,  richtig deutete. Als Lukas sich bei ihr versichert hatte, dass nichts  schlimmeres passiert war, drehte er sich um und kam wieder zu mir  zurück.

Ich konnte es ihr nicht übel nehmen, denn er hatte ihr gerade sein  charmantestes Lächeln geschenkt und außerdem... wer wird denn schon  nicht fast verrückt, wenn er von Lukas berührt wird?
Die  junge Frau zupfte an ihrem Mantel herum und strich sich kokett eine  Haarsträhne hinters Ohr, während sie noch immer vollkommen verzaubert  und lächelnd zu Lukas schaute.
Dieser  sah kurz mich an und grinste dann nochmal dem Mädchen zu, dann tat er  etwas, mit dem ich beim besten Willen nicht gerechnet hätte.
Nachdem  er sich nochmal kurz umgeschaut hatte, kam er ganz nah zu mir, nahm  mein Gesicht in beide Hände und drückte mir einen sanften Kuss auf die  Lippen.

„Damit du nicht wieder vor Eifersucht durchdrehst", murmelte er grinsend und küsste mich erneut.
Als er den Kuss beendet hatte, war von der Unbekannten schon lange nichts mehr zu sehen.
„Aber... aber was, wenn die dich kannte?", fragte ich und schaute mich hektisch um.
Lukas  grinste. „Chill, Timi. Erstens glaube ich nicht, dass sie mich gekannt  hat, und zweitens ging das gerade so schnell, dass sie das bestimmt  nicht fotografiert hat oder so."
Ich  bemühte mich darum, die Schmetterlinge in meinem Bauch zu beruhigen,  die gerade gleichermaßen wegen dem Kuss und meiner Angst, dass uns  jemand gesehen haben könnte, ausgebrochen waren. „Ja, du hast ja recht."

Wir liefen  weiter durch die Gasse, die nur von kleinen alten Laternen, die aus  einer anderen Zeit zu stammen schienen, beleuchtet wurde. Auch viele der  Häuser, in denen sich Kneipen und Restaurants befanden, sahen etwas  älter aus. Manche hatten noch Holzfenster, einige waren an den Fassaden  nahezu vollständig mit Efeu zugewachsen.
Ich  überlegte wieder einmal, ob ich Lukas vor dieser romantischen Kulisse  die Hand geben sollte, aber tat es dann wieder einmal doch nicht.

Lukas war stets  interessiert daran, etwas über die Städte zu erfahren, die wir auf  unserer Tour besuchten und nutzte dafür jede kleine Gelegenheit, von  denen es nie wirklich viele gab. Darum blieb er nun vor einer Statue  stehen, die eine alte Frau zeigte und las sich das Schild durch, das  daneben an einer Hausmauer angebracht worden war.
Beziehungsweise  er versuchte, das Schild zu lesen. Plötzlich bekam er nämlich einen  Wasserschwall mitten ins Gesicht gespritzt. Lukas quietschte auf und  sprang zur Seite.

„Was war das denn für ein Scheiß?", fragte er mich lachend und wischte  sich mit dem Ärmel seiner Jacke das Wasser aus dem Gesicht.
Ein  älteres Ehepaar lief lachend an uns vorbei und klärte Lukas auf.  „Junge, das ist die Frau Rauscher. Das war ein Frankfurter Stadtoriginal  und ihr Denkmal spritzt heute in unregelmäßigen Abständen Wasser auf  unwissende Touristen wie euch."

Ich sah den beiden zu, wie sie um die Ecke bogen, dann kicherte ich vor mich hin.
„Was los, Timi?", fragte Lukas und warf der Statue einen giftigen Blick zu, bevor wir weitergingen.
Ich grinste Lukas breit an. „Jetzt siehst du mal wie das ist, wenn man so ganz ohne Vorwarnung ins Gesicht gespritzt kriegt."
„Oh Mensch, du vergisst das wohl nie", sagte Lukas lachend. „Vergiss das doch mal. Das war mir ja schon ein bisschen peinlich."
„Wie soll ich das denn jemals vergessen? Ich weiß nicht, ob ich dir irgendwann mal angstfrei einen blasen kann."
„Das ist aber schade. Ich schwöre, das kommt nie wieder vor. Wahrscheinlich."
„Aha! Also ganz ausschließen kannst du es aber auch nicht."
„Mein kleiner Kumpel da unten hat sich eben ein bisschen zu sehr gefreut."
„Jaja, vor allem klein..."
Lukas zwickte mir in den Hintern und nun war ich mit losquietschen an der Reihe. „Aua!"
„Du kannst es ja nachher nochmal probieren", sagte er und zwinkerte mir zu.

Wir besorgten uns an einem kleinen Kiosk noch zwei Flaschen Bier, mit  denen wir uns nach einem kleinen Spaziergang auf eine Bank am Mainufer  setzten. Obwohl es schon fast November war, war es momentan gar nicht  mal so kalt und man konnte sich noch gut draußen aufhalten.
Im  Kneipenviertel war gerade noch ziemlich viel los gewesen, obwohl es  eine Dienstagnacht war. Dafür war hier unten am Main umso weniger los  und bis auf ein paar vereinzelte Personen kam um diese Zeit niemand mehr  hier lang.
Lukas  nutzte die Gelegenheit sofort und legte sich mit dem Rücken auf die  Bank. Dabei legte er seinen Kopf auf meinen Oberschenkeln ab und ich  streichelte ihm sanft durch die Haare.

In dieser Position blieben wir ziemlich lange und tranken schweigend  unser Bier, während wir die Skyline von Frankfurt betrachteten, die sich  imposant vom schwarzen Nachthimmel abhob und sich glitzernd auf der  Wasseroberfläche spiegelte. Zwar liefen währenddessen ein paar Personen  an uns vorbei, doch Lukas war zu faul, um aufzustehen und bedeckte sein  Gesicht dann einfach mit seiner Kapuze.
„Man  könnte grad meinen, wir wären in New York und alles wäre um ein paar  Nummern geschrumpft", sagte Lukas gähnend. „Ich war hier vor ein paar  Jahren schon mal mit meinem Vater. Da war ich fünfzehn oder so. Er hatte  eine Gastrolle beim Schauspiel Frankfurt und an einem Abend haben wir  auch auf einer Bank hier am Main gesessen und Schnaps getrunken. Ohje,  wenn das meine Mutter erfahren hätte. Das war schön und total witzig."
„Das  glaub ich dir", sagte ich und lächelte. Lukas hatte wirklich Glück, so  einen Vater zu haben. Mit meinem hatte ich nie solche Ausflüge gemacht  oder lachend Schnaps getrunken.
Auch  seine Mutter musste eine Seele von Mensch sein. Ich hatte sie zwar  bisher noch nie getroffen, aber was er so erzählte, war schon genug um  diesen Eindruck von ihr haben zu können.
Vielleicht  nahm Lukas das zwischen uns ja deshalb so auf die leichte Schulter. Er  könnte seinen Eltern garantiert sagen, dass er was mit einem Mann hatte,  ohne dass sie ihn deswegen irgendwie anders behandeln würden.

„Was ist los?", fragte Lukas und sah zu mir hoch.
Ich strich ihm ein paar verirrte Haare aus der Stirn. „Nichts."
„Timi. Mir machst du nichts vor. Ich sehe doch, wenn du über irgendwas nachdenkst. Sag schon."
Ich nahm den letzten Schluck aus meiner Flasche und stellte sie auf der Bank neben mir ab.
„Ach, als du das mit deinem Vater erzählt hast ist mir einfach nur wieder eingefallen, was für ein Pech ich mit meinem hatte."
„Ich weiß es war nicht schön mit ihm, aber so richtig hast du nie was erzählt. Willst du darüber reden?"
„Nein",  antwortete ich und sah in den klaren Sternenhimmel hinauf. „Der  Hurensohn hat mir schon genug schöne Momente kaputtgemacht. Dieser hier  wird nicht dazu zählen. Ein anderes Mal vielleicht."
„Okay",  sagte Lukas und stellte seine nun ebenfalls leere Flasche neben sich  auf den Boden. Dann erhob er sich ein bisschen ungeschickt und setzte  sich neben mich.
„Das heißt nicht, dass ich dir nicht vertraue oder so. Bleib doch liegen."
Lukas grinste und legte einen Arm um mich. „So können wir aber nicht knutschen."

Mittlerweile  war es schon tiefste Nacht und auch die letzten Nachtschwärmer hatten  sich offenbar verzogen, weswegen schon seit einer guten halben Stunde  keine einzige Person mehr an uns vorbeigekommen war.
Darum  machte ich mir auch keine Sorgen darüber, dass uns jemand sehen könnte,  als Lukas damit begann, mich minutenlang zärtlich zu küssen.
„Das  war echt schön letzte Nacht", sagte er, nachdem er den Kuss beendet  hatte und schaute auf die schwarze Wasseroberfläche. Dabei grinste er  und fummelte an seiner Jacke herum.
„Oh.  Das ist schön zu hören. Ich mein, wir haben den ganzen Tag kein Wort  darüber verloren. Du hast dich zwar nicht komisch verhalten oder so,  aber ich hatte schon irgendwie die Sorge, dass es dir heute unangenehm  sein könnte", antwortete ich und sah ihn dabei ebenfalls nicht an.
„Was soll mir daran auch unangenehm sein? Dass ich dich geritten hab wie eine kleine billige Nutte, oder was?"
Ich  lachte und kramte auf der Suche nach meinen Zigaretten in meiner  Jackentasche herum. So langsam glaubte ich, ein Muster bei Lukas zu  erkennen. Wann immer ein Gespräch den Anschein machte, auf die ernste  Schiene zu laufen, haute er so einen Spruch raus, um mich aus dem  Konzept zu bringen.

„Ach Lukas", seufzte ich und blies den Rauch meiner gerade angezündeten Zigarette aus.
Lukas nahm sie mir zwischen den Fingern weg und nahm ebenfalls einen kurzen Zug.
„Was denn?"
„Nichts", sagte ich und grinste ihn an.

Da uns mittlerweile doch etwas zu kalt draußen wurde, beschlossen wir, uns auf den Weg zurück zum Hotel zu machen. Die regulären Busse und Bahnen fuhren nicht mehr, und der nächste Nachtbus würde erst in einer knappen Stunde wieder kommen, darum beschlossen wir, zu laufen. Es war zwar ein ganz schön weites Stück, aber da Lukas sowieso noch ein bisschen was von der Stadt sehen wollte, machte mir das gar nichts aus. Morgen würden wir bereits nach Mannheim weiterfahren und da hätte er keine Gelegenheit mehr dazu.

Wir überquerten den Main über den Eisernen Steg und Lukas brauchte ewig  dafür, weil er sich ein paar von den gravierten Schlössern, die Pärchen  am Geländer angebracht hatten, anschaute.
„Schon sehr kitschig, oder?", fragte er mich und deutete auf ein rotes, herzförmiges Schloss.
„Ein bisschen."
„Ich mag Kitsch."
„Schaumbäder, Kerzen und den ganzen Kram?"
Lukas grinste. „Ja."

Ich lehnte mich mit dem Bauch ans Geländer, um auf das glitzernde Wasser  hinabsehen zu können. Lukas stellte sich hinter mich und legte sein  Kinn auf meiner Schulter ab. Seine Finger verschränkte er auf dem  Geländer mit meinen. Ich lehnte mich ein wenig nach hinten, seufzte  leise und genoss die Wärme seines Körpers hinter mir.
Mein  Herz raste und mir war, als könnte ich auch seines durch die dicken  Stoffschichten, die uns trennten, schneller schlagen spüren. Ich war so  kurz davor, ihm zu sagen, dass ich mich in ihn verliebt hatte. Mehrmals  holte ich schon Luft, aber die letzte Hürde konnte ich einfach nicht  überwinden.
Nach  ein paar Minuten bemerkten wir, dass ganz weit weg ein paar Personen  die Brücke betraten, darum lösten wir uns schnell wieder voneinander.

Wir gingen weiter und kamen nun am Römerplatz an. Auch hier waren die  alten Häuser mit vielen kleinen Lichtern wunderschön beleuchtet. Ein  einsamer Geigenspieler begann zu spielen, als wir in seine Nähe kamen.
Ich  fand das schon ein bisschen eigenartig, dass er mitten in der Nacht  dort stand, obwohl zu dieser Zeit kaum noch eine Menschenseele unterwegs  war, auch wenn wir uns in einer Großstadt befanden.
„Das  ist jetzt auch ziemlich kitschig, oder?", fragte ich Lukas. Er kramte  ein bisschen Kleingeld aus seiner Jacke und warf es dem alten Mann in  den Geigenkoffer.
„Könnte glatt eine Szene aus einem Film sein", antwortete er.

Wir blieben noch eine ganze Weile stehen und hörten zu. Ich war zwar  schon fast eingefroren, aber als ich den verträumten Blick von Lukas  sah, wurde mir ein kleines bisschen wärmer. Noch viel wärmer wurde mir  bei dem, was er als nächstes tat.
Er  drehte sich zu mir, nahm meine Hände in seine und drückte sie fest,  während er mir in die Augen sah. Seine Augen glitzerten im schwachen  Laternenlicht, sein Lächeln raubte mir den Atem. Es war der absolute  Romantik-Overkill und ich wusste schon was jetzt kam, bevor die Worte  seine schönen Lippen verlassen hatten. Schon eben auf der Brücke hatte  etwas in der Luft gelegen.
Lukas holte tief Luft, dann sagte er es endlich. „Ich hab mich in dich verliebt, Timi."
Überglücklich nahm ich sein Gesicht in meine Hände und küsste ihn. „Ich mich auch in dich."

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