All I want for christmas is You!

Bielefeld, 26. Dezember 2013

„Das ist so gut, probier mal!", rief Lukas und hielt mir einen Löffel gefüllt mit seinem selbst gemachten Rotkraut unter die Nase. Er war bereits ganz früh am Morgen mit dem Taxi hier angekommen und hatte sich sofort auf alle Zutaten gestürzt, die ich zwei Tage zuvor nach seiner Anleitung besorgt hatte. Die Begrüßung war, trotz der Tatsache, dass wir uns drei Wochen lang nicht gesehen hatten, sehr kurz, dafür aber sehr heiß ausgefallen, denn er hatte es eilig. Lukas wollte alles perfekt haben, schließlich war das heute kein gewöhnliches Weihnachtsessen, sondern ein ganz besonderes Ereignis. Der Plan, dass wir unseren Familien und den anderen, die noch nichts von uns wussten, heute alles erzählen wollten, stand immer noch. Während Lukas in Berlin und ich hier gewesen war, hatten wir uns das täglich in unseren Telefonaten und Videochats ausgemalt. Wir hatten so lange und ausführlich darüber geredet und uns sogar vorgestellt, was jeder einzelne heute sagen würde, dass ich so langsam das Gefühl bekommen hatte, es wäre schon passiert, so real war das Ganze durch die ganzen Überlegungen und Spinnereien in meinem Kopf schon geworden.

Das ganze Haus roch wie ein ausgewachsener Weihnachtsmarkt. Die Plätzchen waren gebacken, die Gans war im Ofen und jetzt ging es noch an unzählige Beilagen wie Knödel, Nudeln, Salat, Gemüse und und und. Lukas war nicht mehr zu bremsen.
„Los, schneid die Zwiebeln! Ich brauch sie in zwei Minuten!", rief er und warf mir zwei davon rüber.
Ich lachte. „Mensch Lukas, mach doch mal langsam. Wir haben doch noch Zeit."
„Zeit? Bist du wahnsinnig? Es ist schon 16 Uhr und um 18 Uhr kommen die Leute!"
„Das sind doch noch zwei Stunden."
Lukas warf theatralisch den Kopf in den Nacken. „Nicht genug! Hast du schon den Baum geschmückt?"
Es lief mir eiskalt den Rücken runter, während mir gleichzeitig innerlich ganz heiß wurde. Der Baum. „Ähm."
Lukas ließ den Kochlöffel fallen und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. „Hast du den Baum vergessen?"
Ich grinste schief. „Ja."
Lukas ließ sich auf einen alten Küchenstuhl fallen, der dabei gefährlich knackte. „In all meinen Vorstellungen stand ein schön geschmückter Baum im Wohnzimmer. Und du und ich... wir stehen davor, ich klopfe mit der Gabel an ein Glas und dann sagen wir es allen."
„Sorry Lukas."
„Hast du denn wenigstens Schmuck hier?"
„Ja."
Lukas stand auf und stellte sich vor das Küchenfenster. Dann sah er sich draußen um und drehte sich kurz darauf mit einem fetten Grinsen wieder zu mir.

Wenige Minuten später kämpfte ich dick eingepackt bei minus fünfzehn Grad mit der Axt und verfluchte mein ganzes Leben. Lukas versicherte mir, er könne nur glücklich werden, wenn er heute noch seinen Traumbaum bekommt, also musste ich eben einen fällen. In Wahrheit war ich einfach nur zu faul gewesen extra raus zu fahren um einen Baum zu kaufen und hatte gehofft, irgendwie damit durchzukommen. Vergessen hatte ich es nicht. Das hatte ich nun davon. Meine Hände und Füße waren eiskalt und ich befürchtete, sie würden mir einfach absterben, während mein restlicher Körper unter der dicken Schicht aus Shirt, Pullover und Winterjacke fast schmolz.
Ich fällte den Baum mit großer Mühe und schleppte ihn ins Haus hinein.

In der Küche war Lukas kurz vorm Nervenzusammenbruch, weil ich ein bestimmtes Gewürz nicht hatte, das er aber unbedingt brauchte. Ansonsten meinte er, würde das komplette Essen eine Katastrophe werden. Also zog ich meine gerade erst abgelegten Schuhe wieder an und tappte einen halben Kilometer zu den Nachbarn rüber, um mir ein Päckchen Lorbeerblätter auszuleihen.
So ging das noch eine ganze Weile weiter. Lukas wurde immer hektischer und nervöser, er fegte durch die Küche wie ein Irrer und gab mir eine Aufgabe nach der anderen.

Um kurz vor 18 Uhr war das Essen gekocht, der Baum geschmückt und meine Nerven am Ende.
Lukas wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und umarmte mich dann fest. „Wir sind fertig, Gott sei Dank!"
Ein kurzer Kuss, dann ging die Türklingel. Die Eltern von Lukas, Leonard und Rabea, waren die ersten.
„Wo ist denn Katharina?", fragte Lukas nach einer innigen, liebevollen Begrüßung.
„Die kommt später", sagte Leonard. „Bringt noch ihren neuen Freund mit."
„Sie hat einen Freund?"
„Ja, ganz frisch wohl. Ich kenn ihn ja selbst noch nicht."
Lukas rannte sofort an den Geschirrschrank und tischte mit nervös zuckenden Augenlidern noch ein Gedeck mehr auf.

Nur kurze Zeit später trudelten dann auch meine Mutter, mein Stiefvater und meine Geschwister dicht gefolgt von Stefan und Igor ein.
Die ersten Gläser Glühwein wurden von durstigen Mündern draußen vor der Tür getrunken, wo wir ein kleines wärmendes Feuer, extra für den Empfang, angezündet hatten.
Leonard gab gerade die Story zum Besten, in der Lukas vor zwei Tagen am Heiligabend betrunken vom Eierpunsch in den Weihnachtsbaum gestürzt war, als wir schon von weitem ein lautes, protziges Brummen eines Sportwagens hörten.
Irritiert sah ich die anderen an. „Ist das Benni? Kann er denn schon wieder fahren?"
Mit brüllendem Motor und noch lauterer Musik, die aus dem Inneren des Wagens schepperte, kam der R8 vorm Haus zum stehen.
Benni hievte sich mühsam vom Beifahrersitz und auf der Fahrerseite stieg keine geringere als Katharina aus.
„Das war einfach der Wahnsinn!", rief sie quietschend und drückte Benni die Autoschlüssel in die Hand. Dieser steckte sie in die Seitentasche seines knallroten Anzugs aus Samt. Auf dem Kopf hatte er eine riesengroße Weihnachtsmütze.
„Ho ho ho ihr Nutten!", schrie er und lachte.
Normalerweise würde ich mich an solchen Ausdrücken stören, wenn meine Geschwister dabei sind, aber gerade war ich einfach nur unendlich froh, dass Benni wieder der Alte zu sein schien. In den letzten Wochen hatte er immer wieder Fotos und Videos von sich geschickt und man konnte seinen Fortschritt in rasanter Geschwindigkeit beobachten.
Er hatte noch Probleme mit dem Gleichgewicht und in einem Bein fehlte ihm noch das Gefühl, weswegen er am Stock gehen musste. Da dieser jedoch komplett golden war und obendrauf ein brüllender Löwenkopf saß, sah er damit eher extravagant als eingeschränkt aus.
„Komm Püppi", sagte er zu Katharina und gab ihr einen Klaps auf den Po. „Dann lassen wir es mal krachen."
„Aber nicht zu sehr", antwortete sie kichernd. „Ich bin noch immer Ärztin."
„Ja ja", sagte er und ließ sich von Leonard einen Becher reichen.
Lukas sah irritiert zwischen den beiden hin und her. „Seid ihr...?"
Benni grinste. „Exakt. Ich hab mir deine Sister klargemacht. Keiner verreckt fast so schön wie ich."
„Benni!", rief Katharina und kicherte.
„Ja, wenns halt so ist. Nee, Spaß beiseite. Wir haben tagelang geschrieben, als meine Hände wieder funktioniert haben und ich nichts machen konnte, als im Bett zu liegen. Und irgendwann hat sie mich dann auch besucht und mir sehr geholfen wieder klar zu kommen. Was daraus wird, sehen wir noch."

Später am Abend, als das ganze Essen, das Lukas so „liebevoll" zubereitet hatte, aufgegessen war, saßen wir alle auf den Sofas und Sesseln verteilt vor dem Weihnachtsbaum und unterhielten uns prächtig. Obwohl wir ein zugegeben sehr wild durcheinander gemischter Haufen waren, war alles bisher super gelaufen. Weihnachtsmusik lief leise im Hintergrund und der ein oder andere war schon ganz schön angeschickert von Glühwein und Punsch.
Ich sah zu Lukas rüber und er grinste mich an. „Sollen wir?", fragte er.
Jetzt oder nie.
Ich nickte. Er stand auf, nahm sein Glühweinglas, stellte sich vor den Weihnachtsbaum und tippte es an. „Hört ihr mir mal alle kurz zu, bitte?"
Er zog an meinem Pullover und bedeutete mir so, dass ich auch aufstehen sollte. Ich sah in die Gesichter vor mir, die uns erwartungsvoll und fragend anschauten. Mein Herz rutschte mir in die Hose. Der Schweiß brach mir augenblicklich aus sämtlichen Poren aus und die Gläser meiner Brille beschlugen langsam, aber sicher.
„Nun", setzte Lukas an. „Vielleicht habt ihr euch gefragt, warum ihr heute alle hier seid. Ich meine klar, es ist Weihnachten. Aber, dass wir uns hier in dieser Konstellation treffen, ist ja nicht so üblich und es hat bei dem ein oder anderen ja auch ein bisschen Überredungskunst gekostet, nach Bielefeld raus zu fahren. Ich meine, dass Tims Familie hier heute sitzt ist klar, aber was macht meine hier? Das will ich euch kurz erklären. Tim und ich haben auf der letzten Tour festgestellt, dass uns mehr verbindet als Musik und Freundschaft. Es war nicht leicht, sich das einzugestehen..."
Er machte eine kurze Pause. Man hätte die Luft schneiden können, solch ungeheure Spannung lag in der Luft.
„... aber wir haben uns ineinander verliebt. Wir sind seit einigen Wochen zusammen, wir lieben uns sehr, sind glücklich damit und ich wäre sehr froh, wenn ihr das versteht."

Niemand sagte etwas, der eine sah zum anderen. Ich starb innerlich. Ein Glas fiel zu Boden. Es war das von Benni.
„Möchtest du etwas sagen?", fragte Lukas vorsichtig.
Benni räusperte sich. „Also das Glas ist mir nur runtergefallen, weil ich ja nun ein halbes Krüppelchen bin, zumindest vorübergehend. Unter anderen Umständen wäre ich jetzt vielleicht ausgerastet. Aber ganz ehrlich, ich bin vor ein paar Wochen fast abgenippelt. Ich bin froh, dass ich noch lebe und das habe ich ganz allein deiner Schwester zu verdanken. Ich steh in eurer ewigen Schuld, von daher... mach was dich glücklich macht. Das Leben ist zu kurz. Und wenn du halt einen Arsch..."
Seine kleine Rede wurde von Katharina unterbrochen, die ihm in das Bein, welches noch Gefühl hatte, zwickte.
„Ok ok", sagte Benni kleinlaut.
Dann stand der Vater von Lukas auf. Er nahm sein Glas, streckte es in die Luft und rief: „Liebe ist Liebe!"
Zunächst blieb es still im Raum. Die Information musste wohl erst einmal sacken. Als nächstes stand jedoch dann wenige Momente später Igor auf. „Liebe ist Liebe!"
Auch Katharina erhob sich nun von ihrem Stuhl.  „Leute los! Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter. Liebe ist Liebe, verdammt!"
„Liebe ist Liebe", rief der Rest zurück. Ich war unfassbar erleichtert.

Tief in der Nacht, als alle gegangen waren, lag ich im Bett, eingekuschelt in einer weichen Decke und den Armen von Lukas.
„Das lief doch echt super", flüsterte ich.
„Ja. Keine Ahnung was es war. Der Alkohol, oder das, was Benni zuerst gesagt hat... aber ich hab mir das Ganze irgendwie nicht ganz so harmonisch vorgestellt."
Ich strich ihm durch die Haare. „Nun ja, es muss ja nicht jedes Outing im Drama enden. Manchmal hat man auch einfach nur Glück."
„Vielleicht kommen ja doch noch irgendwelche Fragen oder Einwände, wenn sich alles ein bisschen gesetzt hat. Ich meine, ich hab ja hier auch das perfekte Weihnachtswunderland aus deinem Haus geschaffen. Hier können überhaupt keine schlechten Vibes aufkommen", wisperte Lukas grinsend.
„Selbst wenn noch was kommt. Wir stehen das durch. Ich hab mein Herz an dich verloren und niemals im Leben wird sich das ändern."
„Du kannst ja echt süß sein", meinte Lukas und küsste mich lange und innig.
Ich konnte mich nicht daran erinnern, dass ich je zuvor in meinem Leben als süß bezeichnet worden war. Aber das war jetzt egal, denn von nun an lebte ich ein anderes.

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