Kapitel 39
Es dauerte keine zwei Minuten, bis wir uns wieder voneinander lösten, doch dieses Mal war es meine Schuld.
„Das kommt jetzt vermutlich etwas ungelegen, aber wir können doch nicht zum Winterball gehen", sagte ich.
„Was? Aber wieso nicht?", ihre Stimme hatte etwas unglaublich Verletztes an sich.
„Ich mache bei dem Komitee mit, das den Ball organisiert und habe mich freiwillig dafür gemeldet, an dem Abend die Getränke auszuteilen."
„Und du kannst gar nicht von dem Stand weg?", fragte sie enttäuscht.
Ich zuckte mit den Schultern und dachte darüber nach. Robin hatte mir erklärt, meine Aufgabe wäre es, darauf zu achten, dass alles geregelt ablief. Eigentlich herrschte Selbstbedienung, denn mit fünfzehn bis neunzehn Jahren sollte man schließlich in der Lage sein, sein Becherchen mit Punsch zu füllen.
„Naja, ich eigentlich doch", sagte ich und die Enttäuschung verschwand augenblicklich aus ihrem Gesicht.
„Na dann ist doch alles geregelt", sie lächelte mich hoffnungsvoll an und ich nickte ihr aufmunternd zu. „Ja, es ist alles perfekt."
Kurz musste ich an Robin denken, als ich das sagte, was mich etwas aus dem Konzept brachte, doch ich versuchte es zu überspielen. Ich bereute es nicht, mich für Minou entschieden zu haben.
„Ist es denn wirklich okay für dich?", fragte sie plötzlich. „Ich meine, ich habe dich eiskalt aus meinem Leben gedrängt."
Scheiße, das hatte ich fast schon vergessen.
„Eh", stotterte ich. Sie blickte auf ihre Finger.
„Es tut mir so leid. Wirklich."
Ich seufzte. „Ich versteh dich sogar irgendwie, glaube ich. Aber es war echt nicht okay, was du gemacht hast!"
Sie nickte. „Ich weiß."
„Du ziehst nie wieder so eine Scheiße ab, klar?"
Sie lächelte mich an. „Wird eh nicht nötig sein, ich werde es heute noch meinen Eltern erzählen, versprochen."
Ich lächelte zurück. „Willst du ... dass ich dabei bin oder so?"
Sie schüttelte mit dem Kopf. „Ehrlich gesagt nicht, nein. Janny kommt vorbei und hilft mir."
„Okay", ich wusste nicht, ob mich diese Nachricht enttäuschen oder erleichtern sollte. Ich entschied mich für eine neutrale Haltung.
Doch plötzlich kam mir noch ein anderer Gedanke.
„Ich habe aber gar nichts zum Anziehen, glaube ich."
„Das kann doch unmöglich sein", sagte Minou, sprang auf und ging zu meinem Kleiderschrank rüber.
„Hey!", rief ich, doch sie hatte ihn bereits geöffnet und angefangen, darin herumzuwühlen.
„Zuerst einmal, Vera, ist dein Schrank unfassbar unordentlich", rügte sie mich, während ihr Kopf immer noch im Inneren verschwunden war.
„Zweitens ist deine Garderobe wirklich überdenkungswürdig. Ich muss dir leider gestehen, dass ich sowieso nie ein großer Fan von der Art und Weise war, wie du dich kleidest, aber das wirkliche Ausmaß dieser Sünde wird einem erst klar, wenn man einmal das Gesamtbild sieht."
„Das ist voll gemein!", beschwerte ich mich, konnte ein kleines Grinsen jedoch nicht unterdrücken. Minou war wieder komplett die Alte und auch wenn ich insgeheim immer noch etwas Sorge hatte, sie könnte mich erneut fallen lassen, war ich in diesem Moment einfach nur glücklich.
Vielleicht war es dumm, aber es war das, was ich mir die letzten Wochen so sehr gewünscht hatte.
„Drittens", fuhr Minou fort und unterbrach damit meine Gedanken. „Hast du recht, du hast wirklich nichts zum Anziehen."
„Pfft", machte ich. Vor knapp einer Minute hatte ich zwar noch genau das gleiche gesagt, aber es war etwas anderes, nachdem sie meinen gesamten Kleidungsstyle runtergemacht hatte."
„Aber", setzte sie nach. „Glücklicherweise hast du eine ganz nette Freundin, die im Gegensatz zu dir ein wirklich tolles Modebewusstsein besitzt und dir darum etwas leihen kann."
Wir machten uns auf den Weg zu ihrem Haus und sie ließ mich tatsächlich auf ihren Kleiderschrank los. Sie besaß mindestens fünfmal so viele Klamotten wie ich und ich blieb etwas überfordert vor dem Ungetüm stehen.
„Ja gut", sagte ich unsicher, doch sie hatte bereits zwei verschiedene Kleider im Arm.
„Hier", sie hielt mir eins der beiden hin. „Das könnte dir passen."
Ich betrachtete das Teil aus hellrosa Stoff argwöhnisch. „Was zur Hölle ist das?"
„Das ist ein Designerstück, Vera! Ein bisschen Respekt bitte!"
Ich zog eine Augenbraue hoch. „Ich hoffe, das war jetzt ein Scherz. Unsere fünfjährige Nachbarin hat nämlich ein Prinzessinnenkostüm und das sieht eins zu eins aus wie dieses Ding hier."
Sie verdrehte die Augen, musste jedoch ein wenig schmunzeln. „Du bist echt nicht mehr zu retten."
Sie hängte das Kleid wieder in den Schrank zurück und hielt mir stattdessen das andere entgegen. Es war blassblau und ungefähr knielang. Besser, aber immer noch potthässlich.
„Ich weiß nicht, ob das etwas für einen Winterball ist", sagte ich, um nicht ein weiteres ihrer Kleidungsstücke zu diskriminieren.
Sie betrachtete es ausgiebig. „Stimmt."
„Wie wäre es sonst mit einem Rock?", fragte sie, als ihr ein Gedanke zu kommen schien. „Oder willst du lieber etwas ganz anderes tragen? Also, wenn dir irgendwie ein Blazer oder Jumpsuit lieber wäre, ..."
Sie brach ab und sah mich fragend an. Ich dachte kurz darüber nach, dann schüttelte ich den Kopf.
„Eigentlich würde ich tatsächlich gerne ein Kleid tragen", gestand ich. Es überraschte mich selbst ein bisschen, aber jetzt, wo ich wusste, dass ich mit Minou als Begleitung zu dem Ball gehen würde, wollte ich wirklich lieber ein Kleid tragen. Aber definitiv ein schlichteres als die, die sie mir gezeigt hatte.
Mein Blick wanderte zurück zu den Unmengen an Kleidungsstücken vor mir und plötzlich fiel mir ein unauffälliges, langes dunkelblaues Kleid auf, dass ziemlich weit hinten im Schrank hing. Ich deutete darauf. „Darf ich das mal anprobieren?"
Minou nickte. „Klar!"
Sie reichte mir das Kleid und schien dabei nicht mal entsetzt über meine Wahl.
Ich zog das Kleid vorsichtig an und drehte mich dann zögerlich zu dem bodenhohen Spiegel um. Es passte perfekt.
„Wow", murmelte Minou und sah mich strahlend an. „Du siehst wunderschön aus."
Ich musste lächeln.
„Jetzt muss ich dich nur noch schminken und du wirst die Schönste auf dem ganzen Ball sein."
„Vergiss es!", rief ich schnell und sie schob die Unterlippe vor. „Kann ich dir wenigstens eine ordentliche Frisur flechten?"
Ich nickte gequält. „Wenn's sein muss."
Minou grinste schief und mir fiel jetzt erst auf, wie sehr ich dieses Lächeln vermisst hatte.
Sie fing an, an meinen Haaren rumzuhantieren und als sie fertig war, musste ich zugeben, dass es gar nicht mal so schlecht aussah.
Ich betrachtete die zwei in einen Dutt gebundenen Zöpfe. Vermutlich hatte die Frisur einen Namen, aber ich kannte ihn nicht und hätte ich Minou danach gefragt, hätte ich ihr eingestehen müssen, dass er mich interessierte.
Plötzlich fiel mir auf, dass sie mir nicht das Kleid gezeigt hatte, dass sie tragen würde.
Während sie dabei war, ein paar Haarnadeln wieder in ihrer Kommode zu verstauen, beschloss ich, sie danach zu fragen, doch sie zuckte nur mit den Schultern.
„Ich weiß noch nicht genau."
Ich legte die Stirn in Falten. „Dir ist schon klar, dass ich dir das jetzt nicht glaube, oder?"
Sie grinst. „Aber wenn ich es dir doch sage! Du weißt doch gar nicht, ob ich überhaupt vorhatte, zu dem Ball hinzugehen."
Ich öffnete, den Mund, um etwas zu erwidern, aber sie war schon damit beschäftigt, mich aus ihrem Haus zu scheuchen.
„Ich muss mich auch noch fertig machen", begründete sie meine unhöfliche Verabschiedung.
Während ich mich auf den Weg zurück nach Hause machte, hörte ich noch, wie sie mir hinterherrief, ich solle ja nicht meine Frisur zerstören.
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