Kapitel 19
Freitagabend klingelte ich pünktlich um 19:37 an Hannah B.s Tür.
Lina hatte mir mal gesagt, dass alle coolen Leute immer zu spät kamen und mit meinen sieben Minuten Verspätung kam ich mir vor wie ein richtiger Gangster. Naja, fast zumindest.
Hannah öffnete die Tür und musterte mich verwundert. „Wer bist du?", fragte sie mich und zog eine perfekt geschminkte Augenbraue spöttisch hoch.
Ich wollte gerade den Mund aufmachen, um – ich wusste gar nicht wirklich, was genau ich vorhatte zu sagen – als sich Minou an ihr vorbei in den Türrahmen stellte und mit „Hey, Vera" das Rätzel darum, wer ich wohl war, gelöst hatte.
Sie zog mich an der etwas verdutzt dreinschauenden Hannah vorbei in die Wohnung und ich sah, dass fast alle von Melissa Lords Anhängern auf den beiden großen Sofas verteilt saßen.
Waren sieben Minuten zu lange gewesen? War das unhöflich?
Minou zerrte mich zu einem der Sofas und ich setzte mich neben Hannah S. auf die Kante. Minou nahm mir gegenüber auf dem anderen Sofa Platz und ich atmete innerlich auf.
„Wo bleiben Maxim und Kathi?", fragte ein Typ, den ich sofort als Tristan aus dem Diner wiedererkannte. Ich hatte mir die Namen wohl doch recht gut eingeprägt.
Die Hannahs schüttelten synchron mit dem Kopf, was schon fast gruselig aussah.
„Die kommen nicht. Maxim hat ein Fußballspiel", erklärte Hannah B.
„Und Kathi muss auf ihren kleinen Bruder aufpassen", ergänzte Hannah S.
Mir fiel zum ersten Mal auf, wie ähnlich die zwei sich sahen, denn obwohl Hannah B. blond und blauäugig war und Hannah S. hellbraune Haut und dichte dunkle Locken hatte, waren die Gesichtszüge der beiden quasi identisch.
Tristan gähnte. „Okay, dann wären wir also komplett, wollen wir dann anfangen?"
Anfangen womit? Fand hier gleich ein illegales Pokerspiel statt, oder was?
Einige der anderen in der Gruppe nickten und über Hannah B.s Gesicht huschte ein begeistertes Lächeln. „Ich hole die Flasche!"
Oh Gott, sie wollten doch nicht etwa ... ? Ich dachte, aus dem Alter wären wir schon längst raus, wo man es witzig findet, jemanden zu fragen, wer sein heimlicher Crush ist.
Hannah sprang also auf und kam kurze Zeit später mit einer Flasche zurück.
Insgeheim hoffte ich immer noch, sie hatten vor, eine Flasche Whiskey zu exen oder so, aber diese Hoffnung wurde mir genommen, als ich sah, dass die Flasche leer war.
Die Gruppe stand auf und formte einen Sitzkreis auf dem Boden, während ich wie hypnotisiert immer noch versuchte, das Ganze zu verarbeiten.
Henrik schien mein Zögern zu bemerken und kam zurück, um nach meiner Hand zu greifen.
„Danke, ich kann schon selbst gehen", fuhr ich ihn an und er grinste.
Ich trottete also zur Raummitte und ließ mich so weit wie möglich von Henriks Platz nieder.
„Okay", Hannah B. wedelte mit der Flasche rum. „Wer will anfangen?"
Tristan schnappte ihr die Flasche weg. „Ich will!"
Ich verdrehte innerlich die Augen. Wie konnte man von so einem dämlichen Spiel nur so begeistert sein? Wir hatten in der Grundschule immer auf Klassenfahrt Flaschendrehen gespielt und meiner Meinung nach waren Pflichten wie „Mache XY einen Heiratsantrag", schon damals nicht wirklich lustig gewesen.
„Wen die Flasche trifft ...", Tristans Augen blitzten kurz auf und ein schelmisches Grinsen umspielte seine Mundwinkel, „... der darf den hier austrinken."
Er zog einen Flachmann aus der Tasche und ich hätte mich fast verschluckt. Das hier war eindeutig nicht die Art von Flaschendrehen, die ich aus der Grundschule kannte.
„Kann ich mich auch freiwillig melden?", johlte Henrik und die Gruppe lachte.
„Sorry, Bro, aber ich versuche hier, Mel betrunken genug zu machen, um sie ins Bett zu kriegen", Tristan zwinkerte und Melissa verdrehte die Augen.
Oh Gott, wo war ich hier nur gelandet? Warum hatte Minou mich nicht vorgewarnt, dass sie mich hier in ein Irrenhaus geschleift hat?
Tristan legte die Flasche auf dem Boden ab und stieß sie kräftig an. Sie drehte sich immer wieder um sich selbst und ich versuchte sie in meinem Kopf dazu zu beschwören, ja nicht vor mir zum Stehen zu kommen.
Es funktionierte tatsächlich, wobei ich zugeben muss, dass es vermutlich nicht an irgendwelchen übermenschlichen Kräften lag, die ich besaß, dass die Flasche auf Bianca und nicht auf mich zeigte.
Bianca griff nach dem Flachmann und leerte ihn in einigen großen Schlucken und zuckte dabei nicht mal mit der Wimper. Entweder war die Flüssigkeit darin also nicht so hochprozentig wie ich befürchtet hatte, oder aber, was mir leider wahrscheinlicher vorkam, sie tat das hier nicht zum ersten Mal.
„Okay", Bianca fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. „Ich bin dran."
Das Mädchen klang nicht mal betrunken oder so! Wobei, ich hatte mal gelesen, dass Alkohol nicht direkt wirkt ...
Sie reichte Tristan den Flachmann zurück und setzte die Flasche wieder auf dem Boden ab.
„Wen die Flasche trifft, der muss Henrik einen Bodyshot geben."
Das war eindeutig noch ekelhafter als die Grammatik in dem Satz.
Henrik jedoch schien die Idee zu gefallen und er zwinkerte mir zu. „Hoffen wir mal, dass es die Neue ist."
Ich hätte mich am liebsten übergeben. Jesus Christus, ich kam mir vor wie in einer schlechten Fan Fiction.
Bianca drehte die Flasche und mir wurde klar, dass ich wohl die nächste Zeit erstmal weiter damit verbringen würde, zu versuchen, die Flasche telepathisch davon abzuhalten, auf mich zu zeigen. Und tatsächlich hatte ich wieder Glück, vielleicht würde ich den Abend ja doch überleben!
Die Flasche war nämlich vor Rick stehen geblieben, der sich augenblicklich das Shirt über den Kopf zog und sich hinlegte, damit Henrik irgendeine durchsichtige Flüssigkeit aus seinem Bauchnabel saugen konnte.
Dieser Gruppe war eindeutig nicht mehr zu helfen, aber wenigstens hatte sie es nicht zum Thema gemacht, dass es zwei Typen waren und nicht ein Junge und Mädchen.
Nachdem Henrik damit fertig war, an Ricks Bauchnabel rumzulecken, grinste er ihn an. „Lecker, das sollten wir unbedingt wiederholen, Ricky."
Er lachte und Rick verdrehte die Augen und griff dann nach der Flasche. Er ließ den Blick einmal durch die Gruppe wandern, bis seine Augen an mir hängen blieben. Oh Gott, ich ahnte übles.
„Wen die Flasche trifft ...", er platzierte die Flasche wieder in der Mitte. „... der muss mit der Neuen rummachen."
Heilige Scheiße, konnten wir kurz darüber reden, dass ich noch nie in meinem Leben jemanden auch nur geküsst hatte? Hallo? Interessiert das hier keinen?
Er stieß die Flasche an und sie drehte sich in hohem Tempo um sich selbst.
Bitte nicht Minou. Bitte nicht Minou. Alle außer Minou.
Die Flasche wurde langsamer.
Falls es da draußen irgendeinen Gott gibt – oder mehrere - bitte sorg/t dafür, dass es nicht Minou wird.
Die Flasche kam zum Stehen und ich blickte vorsichtig auf.
Meine Gebete wurden erhört. Es war nicht Minou. Es war Phillip.
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