ER
Könnte triggernd wirken, bitte mit Vorsicht genießen!
(WIRKLICH!!! Bitte! Ich weiß, dass viele solche Warnungen ignorieren, aber überlegt euch bitte wirklich, ob ihr das hier lesen könnt/wollt! Es gibt hier genug andere OSs, die ihr lesen könnt, wenn ihr für solche Themen (Hier: v.a. Magersucht) anfällig seid. Der OS ist sehr realistisch geschrieben und ich will niemandem von euch damit schaden!)
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Ich weinte.
Der Wecker hatte noch lange nicht geklingelt, doch ich lag wach und weinte.
Ich hatte es lange geschafft, mich abzulenken und nicht darüber nachzudenken, aber schlussendlich hatte ich es doch wieder getan.
Ich versuchte es wirklich, ich gab mein bestes aber am Ende scheiterte ich doch, fast jeden Tag aufs Neue und jeden Abend.
Ich hatte Hunger, so Hunger, auch deswegen lag ich wach, doch ich durfte mich dem nicht hingeben. Ich war schon zu oft gescheitert, viel zu oft. Zu oft. Aber ich durfte nicht, durfte nicht scheitern. Nicht noch einmal.
Ich beschloss, aufzustehen, sofort wurde mir schwarz vor den Augen, erschöpft blieb ich sitzen. Erst nach Stunden, gefühlten Stunden, versuchte ich es erneut und dieses Mal erfolgreich. Mehr oder weniger erfolgreich. Ich fühlte mich schwach, aber das hatte nichts zu bedeuten. War normal.
Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte ich bloß zwei Schritte gehen müssen, mich ein bisschen zur Seite drehen und hätte mein Spiegelbild betrachten können, doch inzwischen hing der Rahmen dort leer an der Wand, das Spiegelglas zersplittert und herausgebrochen. Doch auch so wusste ich, was mich beim Blick in diesen Spiegel erwartet hätte, hatte es schon viel zu oft gesehen. Ein Junge mit nichtssagenden Augen, der viel zu dick war, den ganzen Tag nur an Essen dachte und es nicht einmal schaffte, sich an eine Diät zu halten, der sowieso nicht hübsch war und es niemals sein würde und der nie - nie, nie, nie, gut genug wäre für IHN.
ER, der tollste Junge meiner Stufe, der ganzen Schule. Wahrscheinlich sogar der ganzen Welt.
ER, der einfach perfekt war, sportlich und beliebt, intelligent und gutaussehend.
ER, durch den ich mir bewusst geworden war, wie wenig mein Körper eigentlich wert war, dass ich IHN nie verdienen würde.
ER, der jeden Tag über mich lachte, mich verletzte, schubste und beleidigte und mir immer wieder ins Gesicht sagte, was ich eh schon wusste. Dass ich hässlich war. Dass ich dumm war. Dass ich dick war.
Ich hatte versucht, weniger zu essen, wirklich etwas daran zu ändern, hatte mit vor Hunger schmerzendem Bauch abends im Bett gelegen und mir immer wieder gesagt, dass zwei oder drei Tage ohne Essen mich nicht umbringen würden, dass er Mensch viel länger aushielt ohne Nahrung.
Wenn meine Eltern mir nicht geglaubt hatten, dass ich schon tagsüber etwas zu mir genommen hatte und mich abends, wenn sie heim kamen, gezwungen hatten, mit ihnen zu essen, hatte es mich angeekelt und ich hatte es direkt danach wieder ausgekotzt. Meine Eltern wollten nicht sehen, wie dick ich war, behaupteten immer, dass es nicht stimmen würde, aber ich wusste, dass sie logen. Noch dazu trug ich immer möglichst weite Klamotten, keiner sollte sehen, wie dick ich war. Vielleicht sahen sie es auch einfach nicht. Oder sie wollten es nicht sehen.
Und meine Freunde... ER hatte gewusst, wie ER sie auf seine Seite hatte ziehen können, hatte es geschafft, dass sie sich alle von mir abgewandt hatten, nichts mehr mit mir zu tun haben wollten und ihre Gespräche verstummten, wenn ich mich zu ihnen stellte, bevor ihnen allen ein Grund einfallen konnte, warum sie gerade in diesem Moment weg mussten.
Ich war nicht dumm, hatte gemerkt, dass ich nicht willkommen war, und verstand es. Ich wollte keinen nerven, mich niemandem aufdrängen und auch wenn ich nie eine Erklärung bekommen hatte, brauchte ich auch keine. Ich kannte den Grund auch so. ER hatte ihnen die Augen geöffnet, hatte ihnen gezeigt, was ich war, wie dick ich war, wie hässlich und wie dumm, dass ich einfach nicht gut genug war für sie. Und es war gut, dass sie es rechtzeitig erkannt hatten, ansonsten wären sie wahrscheinlich in all das mit hinein gezogen worden, hätten Schläge und Beleidigungen ertragen müssen, nur weil sie den Fehler gemacht hatten, einmal mit mir Zeit zu verbringen. Es war gut so, es war besser so. Und dass ich die Pausen alleine verbringen musste, alleine auf dem Klo eingeschlossen aus purer Angst, mich schämend darüber, wie erbärmlich ich war, wissend, dass ich eigentlich draußen sein sollte, all das eigentlich ertragen sollte, eigentlich verdient hätte, alleine mit IHM und allen anderen, die das wussten, die wussten, wie erbärmlich ich war und mich täglich von neuem erinnerten, wenn ich es wieder in meiner Angst verdrängt hatte, eine Erinnerung, bei der ich selten, bei der ich nie unverletzt blieb, dass ich nicht nur dann, eigentlich immer alleine war, das machte mir nichts aus. Machte mir nichts aus. Nichts aus. Fast nichts aus.
Aber irgendwann würde ich es schaffen, mich zu ändern, ein anderer Mensch zu werden, dünner zu werden, hübscher zu werden, sympathischer zu werden, beliebter zu werden, besser zu werden. Besser zu werden. Besser zu werden.
Ich lächelte, der Gedanke daran gab mir Mut. Mut dazu, das hier durchzuziehen, nicht einfach alles hinzuschmeißen, sondern an mir zu arbeiten.
Früher war ich zu laut gewesen, ein zu nerviges Lachen, zu viel gesprochen, zu überdreht, unerträglich. Doch ich hatte an mir gearbeitet, versuchte, mein Lachen unter Kontrolle zu halten, was mir in letzter Zeit mehr als nur leicht fiel, sprach weniger, ruhiger, langsamer und leiser, war ruhiger geworden, sanfter, unterdrückte jegliche Emotionen. War nicht mehr der überdrehte Clown, der ich immer gewesen war, der sich lächerlich gemacht hatte, ohne es zu merken. Tollpatschig war ich immer noch, doch jede meiner Bewegungen war durchdacht, ich musste perfekt werden. Ich hatte bereits kleine Schritte in die richtige Richtung getan, doch das allerwichtigste kam erst noch. Abnehmen.
Doch auch dafür hatte ich endlich einen Weg gefunden, eine Hilfe, einen Trick, durch den ich endlich, endlich aufhören konnte zu essen und essen und essen und essen. Es war ein kleines Holzkästchen, irgendwann früher war mal ein feiner Tee, wie meine Mutter immer betonte, darin gewesen, doch jetzt lag es in meinem Zimmer, unauffällig. Ich nahm es in die Hand, musste leicht Lächeln, froh über den Weg der sich hiermit aufgetan hatte, ein Weg aus diesem Elend. Elend. Leben. Leben. Elend.
Wie von selbst griffen meine Finger in das Kästchen, nach dem Inhalt, formten ihn und bereiteten ihn vor. Dann schloss ich die Holzschatulle wieder, stellte sie weg. Mein Blick auf meinen Fingern, der Watte, die dazwischen lag, klein zusammengerollt.
Leicht zu schlucken, bis sie im Magen aufgehen würde und dieses unerträgliche Hungergefühl beenden würde. Das war mein Weg, mein Weg, endlich abzunehmen, mein Weg, mich endlich zu ändern.
Und dann würde ER mich akzeptieren.
Dann würde ER mich respektieren.
ER würde mich wie einen Freund behandeln, würde mich als einen Freund sehen, als einen Freund nehmen, weil ich dann endlich gut genug war für IHN.
Und vielleicht, ganz vielleicht, würde ER erkennen, was ich alles für IHN getan hatte, was ich für IHN tun würde.
Damit ER mich endlich sah.
Damit ER sah, wie wichtig ER mir war.
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Hier soll weder Magersucht noch Gewalt verherrlicht werden, Essstörungen sind eine Krankheit und können bekämpft werden. Jeder Betroffene sollte sich Hilfe suchen.
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