art ~ DAT ADAM

Es war vollkommen dunkel in dem Tunnel, die letzte S-Bahn hatte vor zwei Minuten und etwas mehr als vierzig Sekunden die Stelle passiert, in der sich, wenn man genau hinsah, vier Schatten bewegten. Und nicht nur das. Wenn man aufmerksam lauschte, konnte man Schritte hören, nichts als Schritte, kein Wort wurde gesprochen. Alle vier Gestalten waren darauf bedacht, keine Aufmerksamkeit zu erregen, nicht entdeckt zu werden. Nicht, dass da jemand gewesen wäre, der sie hätte entdecken können. Außer ihnen war niemand in der Nähe und in nächster Zeit würde wohl auch niemand den in vollkommener Dunkelheit liegenden Tunnel betreten.

»Wie viel Zeit bis zum nächsten Zug?«

Die vier Gestalten waren stehen geblieben und der Größte von ihnen sah erwartungsvoll zu einem der Anderen, der einen aufgeklappten Laptop in der Hand hielt und konzentriert auf den Bildschirm sah.

»Zwei Minuten. Und sechzehn Sekunden. Reicht, um die Technik aufzubauen. Gebt mir noch kurz, ich habs fast.«

Die Stimme des Blonden klang gedämpft durch das Tuch, das seine untere Gesichtshälfte verdeckte.

Der Größere sah ihm über die Schulter und beobachtete, wie sein Freund irgendwelche Ziffern aus einer Zahlenfolge löschte und austauschte, alles Sachen, von denen er nichts verstand. Im schwachen Licht, das vom Bildschirm auf ihn fiel, konnte man die ausgewaschenen blauen Haare des Zuschauers erkennen, die zu einem Zopf zurück gebunden waren, bevor er sich wieder aufrichtete und dem dritten Jungen zuwandte, der neben sie getreten war. Zwei Meter neben ihnen kniete ein Mädchen mit einem Bein am Boden und öffnete gerade eine Sporttasche, in der Sprühdosen in allen Farben lagen. Die Dunkelhaarige hatte die schwarze Kapuze ihrer Sweatjacke ins Gesicht gezogen, an der schwarze Katzenohren befestigt waren, die ihr einen niedlichen Eindruck verliehen. Aber wer das Mädchen kannte, so wie die drei Jungs, wusste, dass sie tougher war, als man dachte, wenn man sie so sah. Den Kontrast zu ihrer schwarzen Kleidung bildete der schlichte weiße Mundschutz, auf den der Junge mit den feuerroten Haaren mit Edding einen Mund gezeichnet hatte, der seine Zähne im Zickzack entblößte.

Eben dieser Junge mit der Atemschutzmaske, die ein bisschen an eine Gasmaske aus dem ersten Weltkrieg erinnerte, kniete sich nun zu ihrer einen Seite hin, sie warfen sich einen kurzen Blick zu und er fischte sich eine der Sprühdosen aus der Tasche, während der Blauhaarige zu ihrer anderen Seite es ihm gleichtat. Beide richteten sich gleichzeitig wieder auf, als der Blonde seinen Laptop zuklappte. Erwartungsvoll sahen alle ihn an.

»Die Bahn kommt. Alle Lichter aus, bleibt still und bewegt euch nicht zu viel.«

Es dauerte kaum fünf Sekunden, bis alle vier in vollkommender Bewegungslosigkeit mit der

Dunkelheit verschmolzen. Wie exakt die Berechnungen des Technik-Genies waren, wurde ihnen wieder einmal bewiesen, als auf die Sekunde genau Lichter erschienen, die sich mit rasender Geschwindigkeit auf sie zubewegten. Laut ratternd raste die Bahn durch den Tunnel, zog jede Luft, die sie eben noch geatmet hatten, mit sich und ließ dafür neue da. Und erst, als die Lichter des Zuges nicht mehr zu sehen waren, kam wieder Bewegung in die vier Gestalten.

»Okay. Zeit? Mary?«

Der Blauhaarige, für die Anderen eine Art Anführer, auch wenn er es selbst nie so gewollt hatte, sah erwartungsvoll zu seinem blonden Freund, der den Bildschirm nicht eine Sekunde aus dem Auge ließ.

»Vier Minuten achtunddreißig. Siebenunddreißig. Sechsunddreißig. -«

»Okay, an die Arbeit. Mary, gib uns eine Bahn Leerlauf. Bis zur Übernächsten sind wir fertig.«

Der Blonde nickte und begann sofort wieder, auf seinen Laptop einzutippen.

»Ich bring die Bahn hundert Meter nach dem Tunneleingang zum Stehen, das ist direkt vor der Kurve hier.«

»Gut. an die Arbeit.«

Das Mädchen hatte die Schablonen aus der Tasche geholt und hielt diese nun gegen die Wand und die beiden bunthaarigen Gestalten begannen, aufeinander abgestimmt, als würden sie sich ein Denken teilen, die Farbe aus ihren Spraydosen zu verteilen, so, dass sie sich später genau zu einem Bild ergänzen würden.

Die Schablonen wurden wieder entfernt, das Bild stand und die Jungen begannen, die letzten Details frei Hand, ohne ihre sogfältig ausgeschnittenen selbst entworfenen Schablonen zu verfeinern, warfen sich bloß selten einen Blick zu und schienen doch zu wissen, was der jeweils andere gerade tat. Das Mädchen unterdessen wandte sich dem Schriftzug zu, ihre zierliche, ein wenig unordentliche und doch schöne Schrift stand so sehr im Kontrast mit dem Inhalt ihrer Botschaft, dass selbst das schon für sich hätte stehen können.

Als sie fast gleichzeitig zurücktraten, alle drei zufrieden mit ihrem Werk, nickte die vierte Gestalt anerkennend.

»Noch sechsundfünfzig Sekunden. Ich gebe die Bahn in vierundvierzig Sekunden wieder frei, damit die nächste nicht in sie hinein rast. Vierzig Sekunden später kriegen sie auch ihr Funk wieder, dann sind beide Bahnen hier vorbei.«

Die drei Sprayer begannen, ihre Dosen und Schablonen wieder einzupacken, bloß der Rothaarige setzte noch ihren gemeinsamen Tag unter das Kunstwerk, das sie gemeinsam geschaffen hatten. DFA, für die unwissenden Bahnfahrer, die es sehen würden nichts als ein paar Buchstaben, für die Mitglieder ihrer Szene jedoch ein Name, den man kannte. Ihre Crew war bekannt und ihre kritischen Graffitis wurden in Sprayerkreisen geliebt und bewundert.

»Licht in 3. 2. 1.«

Kaum hatte das Computergenie herab gezählt, ging tatsächlich die Lampe direkt über der nun mit Farbe bedeckten, zuvor noch leeren Betonwand des Tunnels wieder an und wieder einmal konnten die drei Vermummten nicht einmal annähernd verstehen, wie ihr Freund und Komplize das alles mit einem einzigen Laptop schaffen konnte.

»Ab morgen früh werden die S-Bahnen ab Tunnelbeginn nur noch 12 km/h fahren, ich schätze bis Nachmittag werden sie brauchen, um das wieder zu fixen. Genug Zeit, um gesehen zu werden.«

wieder nickten die anderen drei bloß, ihre Bewunderung war jedoch spürbar.

»Die Bahn kommt in sieben Sekunden. Lasst uns verschwinden.«

Lautlos, wie sie gekommen waren, tauchten die vier Gestalten wieder in der Düsterheit des Tunnels ab und ließen bloß ihre Kunst hinter sich zurück.


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