Gefunden

Kapitel 2

Raven

Den Rest des Arbeitstages plätscherte lang hin und ich zuckte jedes Mal zusammen, wenn die Glocke über der Tür losschrie und einen neuen Kunden ankündigte. Doch es blieb friedlich und alles genau so, wie ich es seit vier Jahren gewohnt war.

Meine Füße schmerzten nach der langen Wochenendschicht, die ich nur machte, weil ich auf das zusätzliche Geld nicht verzichten konnte und meine Mitbewohnerin und Kollegin murmelte schlecht gelaunt vor sich hin, weil ihre Laune gegen Ende immer rapide nach unten ging.

„Ich will wirklich nicht nur alte Leute bedienen, aber die Kinder können einen echt nerven", sagte sie und kehrte die Überreste eines auf den Boden zerschellten Saftglases zusammen, das wir erst jetzt schaffen wegzuräumen.

„Sei froh, dass es das Kind war und nicht du, sonst hätte Mr Flenders es dir vom Gehalt abgezogen", erwiderte ich und Darcy schnaufte verächtlich. Unser Chef war nicht gerade beliebt unter der Belegschaft. Weder bei den Kellnerinnen, noch bei den Köchen. Ihm ging es nur ums Geld, genauso wie Jeden, in dieser Gott verlassenen Stadt. New York mochte sich liberal geben, aber es war dennoch das Herz des Kapitalismus.

„Er wird schon eine Möglichkeit finden es dennoch zu tun. Zum Beispiel, wenn wir unsere neue Dienstkleidung selbst bezahlen müssen, obwohl er das tun müsste. Aber wer hat schon das Geld sein Recht einzuklagen", knurrte sie und ich nickte nur, weil sie wahrscheinlich recht hatte. Keiner von uns konnte es sich erlauben die Ersatzuniformen, die ab und ab nun einmal nötig waren, nicht zu bezahlen. Sobald wir deswegen einen Aufstand machten, würde er eine von uns feuern, oder gleich uns beide, und einer der hundert anderen verzweifelten Seelen einstellen, die nur darauf warteten unseren Job zu machen. Und ein Anwalt war definitiv teurer als neue Arbeitskleidung.

„Wir sollten jetzt Bob Bescheid sagen, dass hier vorne alles fertig ist und uns dann auf den Heimweg machen", sagte ich um das Thema zu beenden. Ich hatte andere Sorgen als Mr Flenders.

Darcy nickte und brachte die Scherben zum Müll, während ich in die Küche ging und dabei zusah, wie Bob und seine Küchenhilfe die Töpfe schrubbten.

„Wir sind fertig, können wir dir hier noch helfen?", fragte ich und Bob sah hoch. Sein dunkler, langer Vollbart und die mokkafarbene Haut sagten ganz deutlich, dass er sicherlich kein 'Bob' war, sondern eher ein 'Achmet' – ziemlich Rassistisch, ich weiß. Aber niemand hier benutzte seinen richtigen Namen und illegale wie Bob, schon gleich gar nicht. Mr Flenders war das egal. Falsche Namen ersparten ihn die Kosten für die Sozialanmeldung seiner Mitarbeiter und eine ganze Menge Steuern. Mir konnte es nur recht sein.

„Nein, nein, lauft aber nicht alleine los, ich bring euch Mädchen nach Hause", sagte er mit einem schweren arabischen Akzent und ich nickte nur glücklich.

Er brachte uns jeden Abend nach Hause, bevor er seine eigene Frau von der Arbeit abholte. Er hatte zwei Töchter in Teenager Alter und war ein absolut gutherziger Mann, solange man sich in seiner Küche an seine Regeln hielt. Sogar Mr Flenders ließ ihn in diesem Bereich freie Hand, weil er wusste, dass dieses Diner von dem Essen lebte, das Bob so grandios zubereitete.

Dass Bob uns nach Hause brachte, brachte mich und Darcy dazu, gerne noch eine Weile länger auf unseren Feierabend zu warten, denn mit ihm war der Heimweg wesentlich sicherer. Nicht nur, weil er eine männliche Begleitung war, sondern weil nach dem elften September alle eine Heiden Angst vor Arabern hatten. Sogar die Kriminellen machten um Bob lieber einen großen Bogen, weil sie Angst hatten, er könnte ein Terrorist sein. Das war er nicht. Ich kannte kein Gottesfürchtigeren und liebenswerteren Mann als ihn. Ich wusste, wie das Böse aussah und er war definitiv kein Teil davon.

Ich ging wieder aus der Küche, setzte mich neben Darcy auf einen der Tresenhocker und wartete geduldig. Meine Mitbewohnerin tippte währenddessen hektische Nachrichten an ihren Freund, in ihr altersschwache Smartphone. Ich hatte nicht mal eines. Wem sollte ich auch schon schreiben oder anrufen?

„Dieser betrügerische Hurensohn. Ich wette, er fickt gerade irgendeine Andere!" schimpfte sie, als sie keine Antwort erhielt.

„Wenn du ihm so misstraust, solltest du mit ihm Schluss machen. Bringt doch sonst nichts" sagte ich, weil ich das immer sagte, wenn es um ihren Freund ging. Er war sowieso nicht gut genug für Darcy. Er war ein Kleinkrimineller und brachte sich ständig in Schwierigkeiten, während sie hart arbeitete, um ihm ihr weniges Erspartes zuzustecken. Ich war mir sicher, dass er sie nur ausnutzte, aber was wusste ich schon von Beziehungen? Ich hatte nie einen wirklichen Freund gehabt, immer wenn es auch nur ansatzweise ernst wurde, zog ich den Schwanz ein und rannte weg, weil ich nicht wollte, dass sie die Wahrheit erfuhren. Wie sollte ich irgendeinen Mann auch erklären, was mir passiert war und dass ein Psychopath geschworen hatte, mich zu finden und zu seinem Eigentum zu machen?

„Kann ich nicht. Dafür ist er zu gut im Bett, da bin ich pragmatisch", erklärte sie ohne mit der Wimper zu zucken und Bob räusperte sich, weil wir nicht bemerkt hatten, wie er aus der Küche kam.

„Wir können los, Mädchen. Und du solltest wirklich Schluss mit ihm machen. Sex ist nicht alles im Leben", meinte Bon und ich und Darcy rutschen von unseren Plätzen.

„Und das weißt du woher, Mr Ich-gehe-jeden-Freitag-brav-in-die-Moschee?", fragte Darcy und Bobs Lippen kräuselten sich amüsiert.

„Ich bin nicht im Mittelalter geboren, Mädchen, und meine Frau auch nicht. Christen können auch jeden Sonntag in die Kirche gehen, ohne sich an jedes Wort der Bibel zu halten. Allah liebt mich nicht weniger, nur weil ich liberal bin", sagte er absolut überzeugt und selbst ich stutzte kurz bevor ich nur nickte und wir uns alle auf den Weg durch die Straßen von New York machten.

Wie immer waren die Straßen noch ganz gut belebt und wir wichen zweimal betrunkenen Touristen aus, bevor wir in ein Viertel einbogen, in den wohl kein Tourist sich je hin verirren würde. Hier wurden die Straßen leerer und die wenigen Gestalten, die sich hier herumtrieben, wirkten alles andere als vertrauenerweckend.

Bob hielt jeden von ihnen im Auge und starrte offen zurück, wenn ein paar Männergrüppchen uns abcheckten. Dafür dass er so ein gutherziges Wesen hatte, konnte Bob ziemlich furchteinflößend gucken.

Als wir Zuhause ankamen, bedanken wir uns wie immer bei Bob und steckten ihm eine Frischhaltebox mit übriggebliebenen Muffins zu, die seine Frau so liebte. Dann kamen wir in unserer Wohnung an und Darcy ließ sich sofort auf die alte Couch fallen, die wir vor zwei Jahren vom Sperrmüll gerettet hatten.

„Gott, meine Füße bringen mich um. Schlimm, wenn ich als erster ins Bad gehe?" fragte sie und ich schüttelte nur den Kopf. Normalerweise ging ich lieber als erstes, weil bei Darcy immer ziemlich wenig warmes Wasser aus dem Boiler übrig blieb, aber heute war es mir egal. Der Tag lag mir schwer im Magen. Ich sah auf die Uhr neben dem alten Fernseher.

Zwölf Uhr Mitternacht.

Er war jetzt schon zwölf Stunden draußen. Und er hatte mich noch nicht gefunden. Wenn Grayson ernsthaft Interesse daran hatte mich zu finden, könnte es trotz seiner Motivation Jahre dauern, mich zu finden, den irgendwie wusste ich, dass er nicht einfach glaubte, ich hätte mich umgebracht. Ich machte mir wahrscheinlich dennoch viel zu viele Sorgen und sollte lieber mein recht angenehmes Leben hier genießen .

Ich hatte ein Dach über dem Kopf. Einen Job und Freunde. Mir ging es besser, als den anderen Mädchen, die man unter diesen Rosenbüschen verscharrt hatte. Ich sollte dankbar sein.

Als Darcy im Bad verschwand und ich in mein Zimmer ging, um diese verdammte Uniform abzulegen, vielen mir schon beim Anblick des Bettes fast die Augen zu. Nacht zwanzig Jahren würde ich jetzt vielleicht ohne diese Stimme in meinen Kopf einschlafen können.

Er war draußen und hatte mich mit Sicherheit vergessen und selbst wenn nicht, konnte er mich nicht finden. Raven Wihne existierte nicht mehr. Das letzte Opfer des 'Dollmaker' war mit sechzehn aus der Klinik abgehauen und hatte einen Abschiedsbrief hinterlassen. Man glaubte, sie hätte sich umgebracht, weil der Junge, der sie gerettet hatte, ihr einen Brief geschrieben hatte, wo er seine Drohung wiederholte.

Ich werde immer wissen, wo du dich befindest. Ich werde dich holen kommen.

Du gehörst mir, Raven

Für immer.

Mein angeblicher Selbstmord, hatte sicherlich mit dazu geführt, dass seine Bewährungsanhörungen so mies gelaufen waren und er tatsächlich seine vollen zwanzig Jahre hatte absitzen müssen. Meinetwegen hatte er wohl sehr viele Jahre mehr im Knast verbracht, als er hätte müssen. Normalerweise ließ man so junge Straftäter bei ihrer Volljährigkeit wieder raus, um ihnen die Möglichkeit zu geben sich zu sozialisieren. Das hatte ich recherchiert. Ihn aber hatte man nicht entlassen.

Er wäre sicher sauer, auch wenn das nicht meine Absicht gewesen war. Ich wollte einfach weg. Weg von dem Trauma meines Lebens, von der Gewissheit, dass alles was ich je getan hatte, für andere Menschen nie halb so wichtig gewesen ist, wie das, was mir angetan wurde.

Meine Eltern waren vor meiner Entführung bestenfalls desinteressiert gewesen. Nach meiner Entführung aber hatten sie das große Geld gerochen. Sie hatten meine Geschichte an Talkshows, Büchern und anderen sensationsgierigen Medien verkaufen wollen. Doch zu ihrem Pech was das kleine, kaputte Mädchen dazu nicht in der Lage gewesen.

Ich war für einige Jahre, Traumata bedingt, ins Schweigen verfallen. Hatte kein Wort gesagt. Und schweigende Opfer ließen sich schlecht verkaufen. Als ich wieder anfing zu reden, war der Hyphe vorbei und die Chance auf das große Geld verloren. Das hatten sie mir nie verziehen und mich dann in eine Psychiatrie abgeschoben. Ich hatte nie jemanden auf der Welt gehabt und jetzt hatte ich alles. Freunde, ein Zuhause und vielleicht sogar eine bescheidene Zukunft. Ich sollte glücklich sein.

Dennoch fühlte sich alles in diesem Zimmer so fad an. So unfassbar bedeutungslos.

Das alte Bett, das immer quietschte, wenn ich mich drehte. Der Kleiderschrank, denn ich mit Darcy zusammen in letzten Sommer neu gestrichen hatte und die Tagesdecke, die mir Bobs Frau geschenkt hatte. Das alles war gleichzeitig schön und gleichzeitig nur eine leere Hülse. Ich fühlte mich verloren und undankbar. Ich ließ meine Tasche aufs Bett fallen und atmete so lautstark aus, dass ich das Schleifen meiner Zimmertür kaum hörte, dafür aber die schweren Schritte umso deutlicher wahrnahm.

Sofort drohte mein Herz stehenzubleiben und ich erstarrte, wie unter Schock. Ich spürte die große Gestalt hinter mir, ohne sie zu sehen und kaum eine Sekunde später, packte mich eine Hand von hinten und hielt mir den Mund zu. Und dann hörte ich die Stimme, von der ich noch immer träumte. Jede Nacht und jeden verdammten Tag.

„Ich hab dich gefunden, Raven", hauchte sie. Düster, tief und eiskalt. Er war gekommen und nun würde er das beenden, was sein Vater nicht geschafft hatte. Nun würde dieses Versprechen einfordern, das ich ihm gegeben hatte.


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