Für immer...
Kapitel 1
Raven – heute
Ich schaue auf die Uhr und habe den Eindruck, die Zeit wäre nicht einfach nur davon gerannt, sie war geflüchtet und das aus demselben Grund, aus dem auch ich abhauen sollte. Aber dennoch stand ich einfach hinter dem Tresen, die warme Kaffeekanne in der Hand, mit der ich gerade meine Runde im Diner hatte drehen wollen, um die Leute an meinen Tischen zu bedienen, und starrte auf die Uhr über der gläsernen Eingangstür.
Ich hörte das Ticken, der manuellen Zeiger nicht wirklich, genau sowenig wie die lauten Stimmen, die um die Mittagszeit herum manchmal sogar noch etwas lauter waren. Aber heute war Sonntag. Kein Arbeitstag. Also fehlten die meisten Stammgäste, die ihre Pause dazu nutzen, sich hier einzufinden und ihren Hunger zu stillen. Stattdessen waren nur die Touristen, die das Diner auch an den Wocheneden lebendig hielten.
In meinen Ohren rauschte es und mein Herz schlug immer heftiger als der Sekundenzeiger der Uhr die Zwölf passierte und dann einfach weiter tickte, als hätte er nicht gerade das Ende meiner Welt eingeläutet.
Der fünfzehnte November, um exakt zwölf Uhr. Das war der Moment, in dem er entlassen wurde und meine Kehle schnürte sich erst fester zusammen, bevor sich der imaginäre Strick wieder löste.
Es war nichts passiert. Grayson Madox hatte sich nicht wie der Leibhaftige selbst, plötzlich neben mit manifestiert, um wahrzumachen, was er mir einst geschworen hatte.
Ich werde immer wissen, wo du dich befindest. Ich werde dich holen kommen. Du gehörst mir, Raven.
Verdammter Mist.
Schlimm genug, dass mich diese Worte bis heute verfolgten, aber es war lächerlich anzunehmen, dass Grayson das tatsächlich wahr machen könnte. Das alles war zwanzig Jahre her. Er war ein Junge gewesen. Elf. Und ich gerade einmal fünf. Wenn ihm all die Jahre im Knast dazu gebracht hatten, sein Versprechen einhalten zu wollen, dann hatte er jetzt definitiv andere Probleme.
Er hatte nichts mehr.
Sein Vater war tot, seine Mutter hatte sich noch in derselben Nacht von dem Krankenhausdach geworfen, in dem sie gearbeitet hatte. Keiner seiner Verwandten hatte etwas mit ihm zu tun haben wollen und ich bezweifelte, dass sich das in den letzten Jahren irgendwie geändert hatte.
Er war der Sohn des gefürchtetsten Serienmörder der gesamten Westküste. Die Presse hatte seinen Vater den 'Püppchen-Macher' getauft, weil ein paar Wochen nach dieser einen Nacht, einige Auszüge seines Tagebuchs an die Presse gelangt waren und die ermordeten Mädchen seine Püppchen genannt hatte.
Grayson selbst war am selben Tag verhaftet worden, in dem sein Vater gestorben war: Durch seine Hand. Amerika hatte ihn erst als tragisches Opfer eines psychopathischen Vaters angesehen, der nicht von den Behörden beschützt worden war. Wer traute einem elfjährigen, hübschen Jungen mit unschuldigen blauen Augen schon zu, selbst ein Monster zu sein? Selbst ich hatte erst nicht verstanden, weil er doch mein Held gewesen war.
Er hatte mich gerettet.
Er hatte seinen Vater davon abgehalten sich an mir zu vergehen, wie er es bei den anderen Mädchen getan hatte. Ich hatte durch ihn überlebt.
Dann aber war das Tagebuch seines Vaters aufgetaucht. Dort hatte dieser sich, neben seinen Erlebnissen mit seinen 'Püppchen' vor allem darüber ausgelassen, wie toll Grayson war. Wie stolz er war und wie er durch Grayson immer wieder neue, hübschen 'Püppchen' fand.
Dieser Satz ließ genug Interpretations-Spielraum, dass man ihm eine Mittäterschaft andichten konnte. Und die letzte Nachricht, die er an seine Mutter geschrieben hatte, konnte als Beweis dafür angenommen werden. Diese Nachricht hatte bewiesen, dass er von den Mädchenleichen im Garten gewusst hatte und er hatte seiner Mutter geraten sich umzubringen, bevor er mit ihr das Gleiche tun würde, wie mit seinem Vater. Da war es nicht mehr weit hergeholt, dass er auch an den Morden der Püppchen beteiligt gewesen war.
Bei der Erinnerung daran, was er mit seinem Vater gemacht hatte, wurde mir fast übel. Viele hatten darüber geredet, wie blutig Graysons Vater ausgesehen hatte, als man ihn fand. Aber kaum einer erwähnte, wie sehr er gestunken hatte, als er verweste. Fast eine Woche hatte ich in meinen Käfig gesessen und dabei zugesehen, wie die Fliegen sich an ihn labten, wie er sich durch die Gase aufblähte und wie seine tot-verursachte Darmentehrung einfach nicht hatte aufhören wollen, zu stinken.
In dieser Woche hatte ich viel über Grayson gelernt. Zu viel. Den seit dem glaubte ich daran, dass man wahrhaft böse geboren werden konnte.
Ich werde immer wissen, wo du dich befindest. Ich werde dich holen kommen. Du gehörst mir, Raven.
Oh Gott. Wie sehr sich diese Stimme in meinen Verstand eingebrannt hatte. Würde ich sie jemals loswerden?
„Bonnie?", sprach mich meine Kollegin und Mitbewohnerin Darcy an und stieß mich mit einen Ellenbogen in die Seiten, weil ich wohl immer noch einfach da stand und die Uhr anstarrte. Fünf nach zwölf. Und die Welt drehte sich weiter.
„Ja?", fragte ich und lächelte, obwohl ich den falschen Namen hasste und mir auch sonst nichts an meinen aktuellen Leben gefiel. Ich kellnerte in zwei Läden um mir mit Darcy eine lächerlich, kleine Wohnung in einer der eher schlechten Gegenden von New York leisten zu können. Ich hatte keinen Schulabschluss und keinen Plan für meine Zukunft. Alles was ich seit meinen Ausbruch aus der Kinderpsychiatrie, in welches mich das Jugendamt gesteckt hatte, tat, war den Kopf einzuziehen und zu hoffen, dass er mich niemals finden würde.
„Deine Tische, Bon", sagte sie und ich nickte schnell und ging meine Seite der Tische im Diner ab, während ich langsam wieder begann die Welt um mich herum zu realisieren. Inklusive der Stimme des Nachrichtensprechers, dessen Stimme aus einer Ecke des Diners aus dem alten Fernseher plärrte.
>>Er war der schlimmste Serienkiller der Westküste und sein Sohn, der jüngste je wegen Mordes verurteilten Straftäter der USA. Heute wird er entlassen...<<
Die Leute um mich herum hoben nur ganz kurz den Blick, bevor sie ihn wieder senkten und ihr Leben weiter lebte. So groß, wie damals das öffentliche Interesse auch gewesen war, so schnell war alles wieder vergessen gewesen. Selbst die Nachrichten berichtete über seine Freilassung nur am Rande, während seine Stimme bedrohlich in meinen Kopf widerhallte
Ich werde immer wissen, wo du dich befindest. Ich werde dich holen kommen.
Du gehörst mir, Raven
Für immer.
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