12. Besuch vom Weinheini -äh- ich meinte Dionysos

"Wir schaffen das schon." murmelte Otrera, doch selbst sie musste wissen, dass wir keine Chance hatten. "Wir müssen das schaffen! Es liegt bei unserer Ehre - "

Ich unterbrach sie. "Nein, die Ehre ist scheißegal! Wir werden alle sterben! Unser Gegenüber ist ein..."

"Gott." vollendete Sofia meinen Satz. "Ein Gott. Dionysos."

"Ich hatte schon mal Kontakt mit einem Gott!" widersprach Otrera trotzig.

"Aber der wollte dich nicht zerstückeln." erklärte Andronika schlicht.

"Mein Herz hat er zerstückelt." sagte Otrera leise.

Metapher-Alarm!!!

"Hat er nicht. Du hättest ihn von vornherein zerstückeln sollen." meinte Sofia, und tätschelte ihr unbeholfen die Schulter. "Kein Mitleid, tut mir leid." sagte Andronika, und strich sich eine Strähne hinter das Ohr. "Du hättest dich gar nicht auf ihn einlassen sollen!"

"Jaja." erwiderte Otrera halbherzig. "Aber er war so..."

Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. "Er war ein arrogantes Arschloch, und wird es auch immer bleiben. Also hör auf rum zu jammern. Das ist bescheuert."

Sie seufzte nur einmal, doch dann schien sie sich zusammen zu reißen. "Alles klar. Jetzt haben wir ein anderes Problem namens Dionysos. Aber ich habe doch gesagt, dass wir das schaffen werden!"

"Nein, werden wir nicht" widersprach Sofia augenrollend. "Er ist ein Gott, noch mal."

"Na und?" rief Otrera aufgebracht. "Er ist männlich, und er will angreifen! Wir müssen - "

Sie wurde von einem Rufen unterbrochen.

"Otrera?"
Es war Xena, diejenige, die wir vor etwa einer Woche zusammen mit ihren Schwestern befreit hatten. "Hier will jemand Leo sprechen."

Interessiert trat ich aus dem Zelt, indem wir uns befanden, und blinzelte. Die Sonne stand noch relativ hoch am Himmel, obwohl es schon später Nachmittag war. "Wer?" fragte ich verwirrt, und sah mich um.

"Eine alte Dame." erklärte Xena, und trat zur Seite. Mein Blick fiel auf eine vermummte Gestalt in einem Leinen-Chiton. Sofort beschlich mich ein mulmiges Gefühl. Irgendetwas war...

"Leo? Können wir kurz unter zwei Augen reden?" fragte sie.

"J-ja, klar." stotterte ich, und folgte der Frau.

"Du weißt, wieso ich hier bin."

Als wir an einer verlassenen Lichtung am See angekommen waren, nahm die Frau ihre Kapuze ab. Darunter erschienen lange, braune Haare, und die unverkennbaren, kalten Silberaugen.

Artemis.

"Ach du Kacke." murmelte ich, was vermutlich nicht die beste Idee war. "Weißt du, wie lange du dich schon hier befindest?" fragte sie. "Keine Ahnung." erwiderte ich schulterzuckend. "Eine Woche?" 

"Zwei Monate." erklärte Artemis nüchtern. "Zwei. Leo, du hast komplett dein Zeitgefühl verloren. Geschockt schüttelte ich den Kopf. "Das kann nicht sein. So lange war das nicht!"

"Doch." sagte Artemis, und sah mich durchdringend mit ihren kalten Silberaugen an. "Was geht gerade in deinem Kopf vor?" 

Vermutlich wusste sie das bereits, schließlich war sie eine Göttin. Vielleicht wollte sie nett sein, und fragen, anstatt gewaltsam in meine Gedanken einzudringen. Oder dort herrschte so ein Chaos, dass nicht mal eine Göttin etwas in Erfahrung bringen könnte.

Ich glaube, eher letzteres.

"Ich kann jetzt nicht einfach so zurück." wisperte ich. "Otrera braucht mich! Sofia..." meine Stimme brach ab. "Ach." seufzte Artemis. "Was die romantische Liebe alles mit einem machen kann, nicht? Und was denkst du noch?"

"Meine Mutter!" rief ich panisch. "So ein Mist! Wie viel Zeit ist dort vergangen?" "Keine." Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Göttin. "Du hast Glück gehabt. Wenn du ein anderes Buch erwischt hättest, wärst du jetzt um die zwanzig Jahre verschwunden gewesen."

Mir entfuhr ein erleichterter Seufzer. "Was ist das überhaupt für ein Buch?"

"Zeitreise-Buch, wie du sicherlich schon bemerkt hast."

"Ein Geschenk von dir?"

"Ja." erwiderte sie überrascht. "Wie bist du darauf gekommen?"

"Das silbrige Leuchten. Das stammt von dir."

"Nicht schlecht." lobte sie.

"Das heißt, du hast mich absichtlich hergebracht?"

"Was? Nein! Niemals!"

"Und wieso - " begann ich, doch sie unterbrach mich.

" - Das Schicksal nimmt seinen Lauf. Frag die Moiren."

Ich musste grinsen. "Die alten Omas mit den Stricksachen?"

"Mach dich lieber nicht lustig über die." warnte Artemis. "Sie sind gefährlicher als jeder Gott oder Göttin."

Ich nickte. "Muss ich jetzt sofort zurück?"

Mein Gegenüber nickte. Ungläubig sah ich sie an. "Wieso? Das ist...Wieso kann es nicht morgen sein?" fragte ich flehend. "Bitte."

"Leo." begann die Göttin. "Das hier ist nicht deine Zeit! Du gehörst woanders hin. Außerdem weiß ich nicht, wie lange der Zauber halten wird."

"Welcher Zauber?" hakte ich mit einem mulmigen Gefühl nach.

"Der Zauber, der dafür sorgt, dass in deiner Zeit keine Zeit vergeht! Ich habe zusammen mit Hekate gearbeitet, aber sie hat möglicherweise auch ihre Macken."

"Das heißt, wenn ich nach Hause gehe, ist es dort Mitternacht?"

"Ja."

Ich setzte mich im Schneidersitz auf den Boden, und hielt meinen Kopf. Otrera, Andronika, Xena, Elara, alle anderen, und vor allem: Sofia. Ich musste alle verlassen. Obwohl ich das die ganze Zeit gewusst hatte, war ich von der Tatsache ausgewichen. Weg gerannt.

"Wie komme ich zurück?" 

"Es gibt nur eine Möglichkeit." erklärte Artemis. "Das Buch."

Sie kramte aus ihrem Mantel das Buch heraus. Das Buch, mit dem alles angefangen hatte.

"Ich will nicht zurück." jammerte ich, und musste im nächsten Moment selber darüber lachen, wie kindisch ich mich verhielt. "Doch." sagte Artemis bestimmt. "Du hast eine Familie zuhause. Heute ist vielleicht deine letzte Chance, wieder in deine Welt zurück zu kehren."

Ich muss zugeben, die Göttin hatte eine starke Überzeugungskraft. 

Verdammt.

"Was ist mit Sofia?" fragte ich, was vermutlich nicht die beste Idee bei einer romantische Liebe verachtende Göttin war.

"Alles geht vorbei." meinte diese. "Ich mag auf dich gefühlslos und kalt wirken, aber..."

Ihre Stimme wurde vom lauten Geschrei unterbrochen. Die Schlacht. Ich fragte mich, wieso Otrera immer noch dachte, dass sie diesen Kampf gewinnen konnte. Oder vielleicht war sie einfach nur zu stolz, um die Schlacht aufzugeben.

"Ich  hätte sie aufhalten sollen." murmelte ich.

"Du solltest jetzt gehen." sagte die Göttin bestimmt. "Das Buch braucht etwa zehn Minuten zum aufladen. Viel Glück!"

"Aber - "

Artemis verschwand.

" - ich hatte doch noch so viele Fragen..."

Geschlagen betrachtete ich das Buch. Sollte ich es in den Teich werfen? Mit den Säbeln zerstückeln? Nach kurzem Überlegen verwarf ich den Gedanken. Artemis war nett, aber ich wusste genau so gut, dass sie auch anders sein konnte. Der Mythologie nach...

...Lest das lieber selber. Ich wollte keinen Silberpfeil im Hals haben.

Das Kampfgeschrei wurde immer lauter, und in meinem inneren Auge sah ich, wie meine Freunde fielen. Eine nach der anderen. Der Gegner war zu stark.

"Leo! HAU AB!" schrie plötzlich eine Stimme, die ich als die von Sofia erkannte. Sie wurde von etwas zehn Männern gejagt. Klar, sie war schnell, aber jeder ist irgendwann am Ende seiner Kräfte.

"Ich kann nicht!" rief ich verzweifelt zurück. "Artemis hat - "

Ihr Blick fiel auf das immer heller leuchtende Buch. "Du musst zurück." sagte sie, und blieb wie angewurzelt neben mir stehen. "Keine Zeit, ich muss dir aus diesem Schlamassel noch raushelfen." sagte ich. In ihren warmen Augen glitzerten Tränen.

"Wir können diese Schlacht nicht gewinnen." erwiderte sie. "Otrera ist - "

" - zu stolz geworden, ich weiß."

Die Feinde hatten uns umringt. "ERGEBT EUCH!" schrie einer. Vermutlich der Anführer.

"ZWEI GEGEN ZEHN SCHAFFT IHR NICHT!" 

"WERDEN WIR JA SEHEN!" schrie ich zurück.

"Nein, die sind wirklich stark." wisperte Sofia mir zu. "Wir haben sie unterschätzt."

"Oh." Das war das einzige, was mir dazu einfiel. 

Ich brauchte einen Plan. 

Wie viel Zeit hatte ich noch?

Fünf Minuten?

Drei?

Wie gesagt, ich hatte so gut wie kein Zeitgefühl mehr.

"GUT!" schrie ich. Denn mir kam gerade eine bekloppte Idee. Eine so bekloppte Idee, wie sie nur mir einfallen könnte. "ICH WERDE VERSCHWINDEN! UND WENN JEMAND ES WAGT, NÄHER ZU TRETEN, DANN WIRD ER VON DIESEM LICHT - ", ich deutete auf das Buch, " - VERSCHLUCKT WERDEN!"

Es war ein bescheuerter Bluff. Aber ich würde schließlich so oder so verschwinden.

"WIR GLAUBEN DIR NICHT!" rief der Anführer. "DU LÜGST, WEIB! UND WILLST DU ETWA DAS ANDERE WEIB HIER LASSEN? UND ÜBERLASSEN?"

Ich sah Sofia an, und wir führten ein Stummes Gespräch. Sie war schlau. Sie wusste, dass die Männer Angst bekommen würden, wenn sie mich verschwinden sahen. Und dass sie mit höchster Wahrscheinlichkeit davon rennen würden.

"SEHT SELBER, IHR ARSCHLÖCHER VON MÄNNERN!" schrie ich, und legte meine Hand auf das Buch. "Sofia?"

Sie drehte sich zu mir. "Was ist?" Ihre Stimme klang verheult. "Tut mir leid. Ich will nicht gehen." sagte ich.

"Du hast keine Wahl."

"Ich wünschte, ich hätte eine."

"WAS REDET IHR DA NOCH HERUM? DAS WAR NUR GELOGEN!" unterbrach der Anführer. 

"KLAPPE HALTEN!" schrie ich zurück.

"Leo." begann Sofia. "Das hier ist  nicht deine Zeit. Du hast einen festen Platz in deiner Welt."

Das war genau das, was Artemis mir gesagt hatte.

"UND? WAS IST DENN JETZT?!"

Das silbrige Leuchten wurde stärker und stärker. 

Es war Zeit.

"KLAPPE HALTEN! DU BIST DOOF!" 

Ähm...Ja, das klang enorm kindisch.

"Ich liebe dich, Sofia."

Der kitschige Moment war gekommen.

"Du weißt ganz genau..." Ihre Stimme brach ab. "Ich liebe dich auch, Leo."

Unsere Fingerspitzen berührten sich sanft.

Und im selben Moment verschlang mich das Silberne Licht. 



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