Die sechste Narbe
Ich machte nur selten Portalreisen.
Durch das Portal zu treten, saugte mir die Luft aus den Lungen. Ich riss die Augen auf und stellte fest, dass ich nicht augenblicklich in Isis war. Es war so, als würde die Zeit gekrümmt und der Raum komprimiert werden, während parallel dazu alles in seine Einzelteile aufgelöst wurde und sich nur mehr reine Energie in all ihren Farben vor mir erstreckte.
So stellte ich mir es vor, zu sterben. Es wirkte befreiend – erlösend. Mit einem Mal wurde ich zurückerinnert, als ich freiwillig meine Magie aufgegeben hatte. Nur diesmal kam es einem Loslassen gleich.
Ich begrüßte alles, was passieren würde. Die Freude und den Schmerz.
Meine Haut kribbelte.
Die Portallandschaft zog sich plötzlich zusammen. Als ich kurz blinzeln musste, tauchte vor meinem Blickfeld auch bereits ein in Dunst gehüllter Wald auf.
Isis. Jetzt war ich wirklich in Isis angekommen.
Meine Haut kribbelte weiter.
Atemlos betrachtete ich meine Hände. Sie umfing immer noch die Energie des Portals. Die Energie von Zeit und Raum. Die Energie, die hinter der Materie steckte, nämlich reiner Geist. In Licht und Farben getauchte Nebelschleier.
Eine Träne löste sich aus meinen Augen.
Riven tauchte neben mir auf. Seine Aufmerksamkeit fiel auf meine Hände.
„Wunderschön.", hauchte ich.
Die Nebelschleier spiegelten sich in Rivens Augen. Er legte eine seiner Hände auf meine. Ich spürte, wie überwältigt er war.
„Weißt du, ich bin kein Fan von Magie, aber das –", stockte er. „Man möchte fast an das Gute in der Welt glauben."
Ich nickte.
„Wir sollten weiter.", meinte ich, als die Magie sich zum Auflösen begann.
„Musa, es tut mir leid, wie ich mich bei Professor Fletcher verhalten habe. Du kannst nichts dafür, dass meine Mutter das Weite gesucht hat und ausgerechnet irgendwo hier sein muss.", gab Riven auf einmal zu. „Besonders wie ich mich dir gegenüber deinen magischen Fähigkeiten verhalten habe... Ich weiß, wie schwierig es für dich ist."
Meine Kehle schnürte sich zusammen. Ich hatte keine Entschuldigung erwartet. Ein weiteres Kribbeln ging über meine Haut.
Ich räusperte mich: „Wir müssen weiter."
Obwohl ich eine Mind-Fairy war, wollte ich mich nicht mit allem beschäftigen, was eine Emotion in mir löste. Manche Emotionen irritierten mich nämlich mehr, als ich wollte.
„Cleo Trandore wird uns nicht am Gelände des Hofes empfangen, sondern in ihrem Haus. Ihr Mann besitzt ein Anwesen in der Stadt. Ich glaube –", er drehte sich einmal um sich selbst und deutete in irgendeine Richtung, „Die Stadt befindet sich dort."
„Woher weißt du das?", wunderte ich mich.
„Ich bin nicht umsonst jahrelang ausgebildet worden.", erinnerte er mich streng.
„Angeber.", platzte mir raus und ich stapfte mit einem vollbeladenen Rucksack in die besagte Richtung ihm nach.
~
Ich hatte bis jetzt nur Bilder von Isis gesehen, doch diese kamen der Realität auf keinen Fall auch nur im Ansatz gleich.
Isis war bekanntermaßen der Planet der Edelsteine. In das Innere des Planeten reichten Unmengen an Edelstein- und Mineralvorkommen. Das machte Isis auf der einen Seite unfassbar vermögend und auf der anderen verwendeten die Herrscher von Isis die Edelsteine zum Ausdruck ihrer Macht innerhalb ihrer Städte und Paläste. Die nächtliche Stadtbeleuchtung ließ die Edelsteine, die die Fassaden der Altstadthäuser schmückten, wie Sterne erscheinen.
„Lass dich nicht von dem ganzen Krimskrams beeindrucken, Enya.", brach Riven die Stille, „Die ganzen Edelsteine werden in Minen von Arbeitern unter elendsten Bedingungen gefördert."
Wir hatten beschlossen, dass wir in der Öffentlichkeit unsere Codenamen verwenden würden.
„Musst du die Stimmung vermiesen, Kyle?", brummte ich. Die Edelsteine hatten jetzt ihren ganzen Glanz verloren.
„Die Wahrheit ist dir zumutbar, meine Liebe.", flötete er, als er ein paar Passanten unseren Weg kreuzten. Sie beäugten uns ein wenig seltsam.
„Es gibt hier nicht so viele Touristen. Isis kontrolliert recht streng, wer auf den Planet darf und wer nicht.", sprach Riven mit gesenkter Stimme weiter.
„Ein Wunder, dass wir hier sind.", meinte ich sarkastisch.
„Das spricht nur für eure besonderen Qualitäten, Enya und Kyle.", kam da plötzlich eine Stimme aus der Dunkelheit.
Alarmiert drehte ich mich um. Vor mir stand eine Frau vermutlich in ihren Fünfzigern mit kohlschwarzen Haaren. Als Erstes fielen mir ihre hellblauen Augen auf, die ähnlich wie die Edelsteine innerhalb der Stadt aufblitzten, bevor ich eine schwulstige Narbe oberhalb ihre linken Augenbraue erkannte.
Riven hatte in Binnen von weniger als einer Sekunde seine Hand um den Griff seines Schwertes gelegt und musterten unseren Neuankömmling.
„Wer sind Sie?", sprach er die Frau an.
Seine Stimme klang fremd. Sie war so kalt. Als ich meine Magie aussandte, um mehr über diese Frau zu erfahren, blieb ich kurz bei Riven hängen und seine Emotionen schienen plötzlich abgeschaltet zu sein.
Er fühlte nichts.
Was hatte er noch einmal mit seiner jahrelangen Ausbildung gemeint? Es war eine Sache, dass er dafür trainiert wurde, dass er sich mitten im stockdunklen Wald auf einem völlig unbekannten Planeten zurechtfinden konnte, aber es war eine andere Sache, dass das Dasein als Spezialist Menschen zu Soldaten machte. Soldaten - emotionslose Maschinen, die strikt Befehle folgten und für den Zweck ihrer Mission Gott spielten.
Mir war bewusst, dass Riven gerade abwägte, ob die Frau eine Gefahr war oder nicht, was wiederum bedeutete, ob sie leben oder sterben würde.
Ich fluchte innerlich. Wie konnte ich so etwas über Riven denken? Es war Riven. Riven, der Regeln und Vorschriften verachtete und sich über Gott und die Welt hinwegsetzen könnte, solange er frei.
Aber... Aber er war auch ein Spezialist, also war die Frage, wie sehr war Riven Riven oder Spezialist?
Enya und Kyle. Die Frau hatte unsere Codenamen gesagt! Moment, sie kannte uns.
Ich stieß Riven mit dem Ellenbogen in die Seite.
„Das ist Cleo Trandore.", zischte ich. Er könnte ruhig zuhören und nicht gleich in seinen Killer-Modus wechseln.
Doch wahrscheinlich hatte ich einfach keine Ahnung von Missionen und Spezialisten. Nur definitiv zu viele Thriller gesehen... Er war nur vorsichtig.
Sie nickte bestätigend.
„Folgt mir.", wies sie uns an.
Riven holte sofort zu ihr auf und aufgebracht entgegnete er: „Es war vereinbart, dass wir uns im Stadthaus von Ihnen treffen. Was soll der Alleingang?"
„Es wirkt doch unauffälliger, wenn ich als Gastgeberin und Tante von Enya euch abhole und euch nicht mitten in der Nacht in der Stadt herumirren lasse, oder?", meinte Cleo Trandore kühl.
„Meinetwegen.", murmelte Riven.
„Ihr müsst müde sein.", wandte sie sich zu mir und ignorierte Riven.
„Eher aufgeregt endlich hier zu sein. Ich glaube nicht, dass ich heute ein Auge zumachen kann.", gab ich zu.
„Ihr wisst, dass ihr hier bei mir in Sicherheit seid, oder? Macht euch keine Sorgen. Geht in eurer Rolle auf. Je entspannter ihr seid, desto besser wird alles verlaufen.", gab Cleo uns zu bedenken.
Wir bogen um eine Ecke und kamen erstaunlicherweise auf einem riesigen offenen Platz heraus.
In der Mitte des Platzes gab es einen Wasserfall, der scheinbar aus dem Nichts herkam. Ein Indiz für eine Wasserquelle gab nur eine Ansammlung von Wolken.
„Die Magiekonzentration in Isis ist stärker als in Alfea, oder?", fragte ich Cleo.
Riven schnalzte mit der Zunge und warf mir einen Blick zu, der wohl so viel ausdrückte wie: „Fang nicht zum Sabbern an."
Aber das war hier wirklich magisch. Ich hatte so etwas noch nie gesehen. Ich durfte ruhig begeistert sein.
„Richtig. Isis ist anders. Vor allem die Edelsteine haben auch einen Einfluss auf uns Feen. Aber dazu morgen mehr. Genießt die Ruhe vor dem Sturm.", Cleo deutete auf eines der enormen Stadthäuser, die den Platz umrahmten.
„Euer neues Zuhause.", erklärte sie.
~
Das Kapitel ist leider etwas kurz geworden. Ich hatte in den letzten Tagen nicht so viel Zeit zum Schreiben...
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top