Die erste Narbe
13:07.
Er hatte Verspätung. Schon wieder. Ich spielte mit dem Gedanken, ihn einfach stehen zu lassen. Riven könnte ruhig alleine trainieren.
13:12.
Mutterseelenallein sollte er am besten einmal die Übungen versuchen zu bestehen, für die man zu zweit sein musste.
Ich starrte eingeschnappt auf den Teich. Einzelne Regentropfen wurden von der Wasseroberfläche aufgefangen und gingen in den Teich über, als wären sie vor ein paar Sekunden noch nicht vollkommen isoliert den Himmel hinuntergestürzt.
13:19.
„Verdammt, Riven, lass mich hier nicht im Regen stehen.", zischte ich. Buchstäblich. Meine Wut stieg. Auf ihn, auf mich, auf ganz Alfea.
Riven hatte gesagt, dass ich diese ganze Frustration eigentlich ins Training kanalisieren sollte, aber wie zum Teufel sollte ich das ohne ihn bewerkstelligen?! Die Voraussetzung dafür war, dass er mit mir trainierte.
Er hatte es versprochen. Nur hatte wohl für jemanden wie Riven Versprechungen keine Bedeutung, denn so jemand verstand anscheinend nicht, dass auf Worte auch Taten folgten.
13:22.
Riven hatte sich die letzten beiden Male auch schon verspätet, wobei es sich um fünfzehn Minuten gehandelt hatte. Mittlerweile hatten wir die halbe Stunde bald erreicht. Ich war manchmal auch verpeilt, nur hielt ich mich an Abmachungen. Vor allem hielt ich mich an Abmachungen, die mein Training beinhalteten.
Ich hatte es so satt, mich nutzlos zu fühlen, und ich war es leid, dass sich in mir diese Leere auftat. In mir regte sich die Befürchtung, dass ich von den ganzen Gefühlen und Gedanken der anderen meine eigenen nicht nur vollkommen vernachlässigt hatte, sondern dass da einfach gar nichts mehr war. Nur Leere.
"Beschissenes Gefühlsloch und Gedankenchaos!", fluchte ich vor mich hin, hob einen Stein von der Trainingsfläche hoch und schleuderte ihn zu den Regentropfen in den Teich. Zu meinem Erstaunen aber ging er nicht unter. Der Stein kam einmal, zweimal - nein - sogar dreimal auf der Oberfläche auf. Es sah so aus, als würde er fliegen.
Ein jubelndes Pfeifen drang mir da plötzlich in die Ohren. Riven.
"Nicht schlecht für einen so katastrophalen Wurf. Der Stein hätte eigentlich geradewegs untergehen sollen.", begrüßte mich Riven. Trotz seiner beleidigenden Wortwahl glitzerte es seinen graugrünen Augen voller Belustigung.
Ich wollte ihm die Verspätung und seinen Kommentar nicht übelnehmen, doch... Ich tat es. In letzter Zeit kam es mir so, als wäre ich die Einzige, die sich bemühte, während alle anderen genau das Nötigste taten und genau dann, wenn es ihnen passte.
"Wo warst du?", fuhr ich ihn an. Die Wut musste sich auf meinem Gesicht spiegeln. Riven zog sich ein paar Schritte von mir zurück. Seine Emotionen schlugen mir dennoch wie Wellen in den Kopf ein.
Verunsichert.
Warum?
Besorgt.
Warum?
Wütend.
Als seine Wut auf meine traf, hätte ich schwören können, dass wir dieselbe Emotion teilten, als würden wir uns gegenseitig verstehen.
Pure Einbildung, Musa. Riven versteht dich nicht, sonst wäre er pünktlich gewesen oder hätte sich wenigstens bei dir entschuldigt.
Riven setzte gerade zu einer Antwort an. Mir war es egal. Ich schnitt ihm das Wort ab: "Du weißt, wie wichtig mir das Training ist, Riven! Und du weißt genauso, dass wir zwischen der Mittagspause und dem Nachmittagsunterricht nur eine Stunde Zeit haben. Die Spezialisten haben mich von ihren Einheiten rausgeschmissen, seitdem ich meine magischen Kräfte zurückerlangt habe -", ich holte kurz Luft, weil ich es nicht zugeben wollte, "Du bist meine letzte Chance mehr als das hier zu sein!"
"Was ist das hier, Musa? Du bist eine Fee, ob du es willst oder nicht.", entgegnete Riven kalt.
Enttäuscht.
Jetzt war er enttäuscht von mir und ich war genauso enttäuscht von ihm.
"Du hast kein Recht enttäuscht von mir zu sein!", stellte ich klar.
Riven sah mir in die Augen. Er musste das magische Flackern in ihnen gesehen haben.
"Nein, das bist du von dir schon genug!", hielt er den Augenkontakt.
Es reichte mir. Ich würde mich nicht so von ihm behandeln lassen.
"Vergiss es.", murmelte ich, ließ das Schwert, das die ganze Zeit schon in meinen Händen war, fallen und machte mich auf den Weg zurück ins Schloss.
Auf halbem Weg rief mir Riven nach: "Musa! Musa, warte!"
Ich ging weiter. Wie gesagt es reichte mir. Wenn er sich nicht die Zeit für mich nahm, warum sollte ausgerechnet ich mir die Zeit für ihn nehmen?
Der Berg an Emotionen kündigte ihn bereits an, bevor er mich mit seiner Hand um mein Armgelenk zum Stehen brachte.
"WAS?", schnauzte ich ihn an.
"Ich habe es dir schon einmal gesagt und ich sage es dir, wenn es sein muss, ein weiteres Mal. Es ist dein Leben. Lebe es so, wie du willst. Nur, Musa, du darfst nicht vergessen, dass du dir dein Leben nicht immer aussuchen kannst, auch wenn du es gerne würdest. Dein Leben ist dein Leben und das hat einen bestimmten Grund. Du kannst nicht sein, was du nicht bist. Du kannst auch nicht das verleugnen, was du bist. Lass deine Frustration darüber nicht bei mir aus."
Rivens Stimme wurde mit jedem Wort ruhiger. Einfühlsamer.
Ich schluckte. Er hatte, irgendwie, recht.
"Du warst trotzdem zu spät. Darüber kann ich ja wohl noch frustriert sein, oder?", gab ich kleinlaut zurück.
"Ja, das kannst du.", schmunzelte er. "Du solltest wissen, dass mich heute und die letzten Male in der Mittagspause Dowling in ihr Büro bestellt hat."
Besorgt.
"Was ist los, Riven?", hakte ich nach.
Ich drehte mich zu ihm und er ließ - endlich - mein Handgelenk los. Er hatte es schon wieder getan. Er hielt mich ein wenig länger fest, als es unbedingt notwendig war. Es fiel ihm nicht einmal auf. Ich wunderte mich, ob er dabei mich festhielt oder ob er sich an mir festhielt, und zu meiner Bestürzung machte es mir rein gar nichts aus, wenn Riven es vergaß.
"Dowling und Silva bereiten mich auf eine Mission vor.", erwiderte er knapp.
"Welche Mission?", wollte ich wissen.
Ohne seine Emotionen lesen zu müssen, sah ich es in seiner Miene, wie sehr ihm die Idee, auf diese Mission zu gehen, so gar nicht gefiel.
"Du sollst mich begleiten, Musa.", fügte er hinzu. Sein Stimme klang gepresst, als würde er sich dagegen sträuben mich mitzunehmen.
Und so sehr er sich vielleicht wünschte, dass ich in Alfea blieb, feierte ich innerlich.
Ich war nicht nutzlos mit meiner Gefühls- und Gedankenleserei. Ich würde nicht länger auf der Ersatzbank liegengelassen werden. Ich wurde gebraucht. Gebraucht für eine Mission.
Mit Riven.
~
Wie hat euch das erste Kapitel gefallen?☺️
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