Die dreizehnte Narbe

Ich hatte mich im Wald unter einer mit Sträuchern verdeckten Böschung verkrochen. So wurde ich wenigstens ein wenig vor neugierigen Blicken geschützt. Okay, in der Nacht schlich sich hier wohl niemand mehr rum. Außer wilden Tieren, vielleicht Monstern, die auf Isis existierten, oder Laurin, der nach mir suchte. Er könnte schon den halben Palast nach mir ausgesendet haben. Das waren, naja, wirklich ungünstige Voraussetzungen. Wenigstens fing die Böschung einen Hauch der Kälte ab. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand. Irgendwo zwischen dem magischen Berg und der Hauptstadt von Isis. Das waren also fünfzig Kilometer von einem Labyrinth für mich. Gleichzeitig waren es fünfzig Kilometer, in denen ich mich vor Laurin verstecken konnte, bis Riven mich finden würde.

Gerade war er meine einzige Hoffnung. Es war ja auch nicht so, dass er keine Erfahrung damit hatte, mich zu retten. Rettung Nr. 3 stand also für ihn an. Seine Hilfe bei den Blutsaugern und bei Terras Yogaaktionen war damit noch nicht abgeschlossen.

"Krieg dich ein, Musa.", murmelte ich zu mir selbst. Langsam raubte es mir die Nerven bei der Vorstellung, dass ich mutterseelenallein in der Nacht hier draußen war. "Du bist eine erwachsene Frau. Eine machtvolle Fee. Eine Fee mit der Kampfexpertise einer angehenden Spezialistin. Du könntest es locker mit Laurin aufnehmen..."

Gut, Letzteres war ein Knackpunkt. Wie sollte ich es mit Laurin aufnehmen? Ich hatte das Gefühl, dass er stärker war als gedacht, wenn er dermaßen gut Edelsteine manipulieren konnte und sich traute, Aktionen wie sein Menschenprojekt aufzunehmen, war er ein anderes Kaliber.

Am besten nahm Riven Bloom mit. Sie würde ihn, ohne mit der Wimper zu zucken, einäschern.

Ich spürte in der Finsternis seinen unbändigen Zorn auf mich. Er war auf Rache aus, dass ich nicht mit ihm kooperierte. Mich fröstelte es. Vor Laurin oder der Eiseskälte? Wohl beides. Ich musste niesen. Eine Erkältung wäre in der Wildnis genauso tödlich wie Laurin, wobei ich Schnupfen und Fieber dem Prinzen um Längen vorzog.

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, wach zu bleiben und im Morgengrauen zurück in die Hauptstadt zu flüchten, um bei Cleo Trandore ein Portal nach Alfea zu nehmen, nur meine Glieder wurden immer schwerer. Die Müdigkeit kroch in meinem Körper wie eine mich übermannende Krankheit.

"Laurin wird dich nicht finden...", beruhigte ich mich. "Es ist stockdunkel, du bist außer Sichtweite und der Prinzling begibt sich sicher nicht in der Nacht freiwillig aus der Wärme seines Autos..."

Ich gähnte. Der Unterschlupf war nicht einmal so schlecht zum Schlafen, befand ich.

"Morgen kriegst du den Arsch für seine Taten dran.", verabschiedete ich mich von mir selbst in den Schlaf.

Mit Arsch referierte ich zur Abwechselung einmal nicht auf Riven. Bei Riven hoffte ich stattdessen, dass er sich gerade den Arsch für mich aufreißen würde und mich gefälligst aufspürte, was nur bedauerlicherweise leichter gesagt als getan war.

Obwohl ich sonst nicht so viel Vertrauen in Riven hatte, machte ich mir für keine Sekunde Sorgen darüber, dass er nicht die ganze magische Welt auf den Kopf stellen würde, um mich wieder sicher zurück nach Alfea zu bringen.

Oder nicht, Riven?

Der Versuch, eine Gedankenbrücke über diese Entfernung aufzubauen, schlug natürlich fehl. Obwohl ich unsere Verbindung manchmal hasste, wünschte ich mir im Moment nichts sehnlicher als alle seine positiven wie negativen Emotionen wahrzunehmen und ihn bei mir zu wissen.

~

Jemand rüttelte mich heftig bei den Schultern.

"Musa, wach auf! Bitte, steh auf. Wir müssen von hier weg.", ertönte eine männliche Stimme.

Ich schrie leise vor Schreck auf. In der Dunkelheit erkannte ich das besorgte Gesicht von Riven.

Riven war hier! Ich konnte es kaum glauben. Wie hatte er es so schnell zurück Isis geschafft? Wie hatte er mich gefunden? Wie...?

Tränen bildeten sich in meinen Augenwinkeln. Ich fühlte mich komplett überwältigt. "Riven, wie? Oh, ich bin so froh...", haspelte ich und fing zum Schluchzen an.

Er zog mich in seine Arme und ich klammerte mich an ihn, als würde mein Leben davon abhängen, was es auch strenggenommen tat. Ich hatte ohne ihn nicht die leiseste Orientierung im Wald.

"Ist schon gut. Es wird alles okay.", redete er auf mich ein, als würde er mit einem verletzten Tier sprechen.

"Ich hatte solche Angst ohne dich.", gab ich zu.

Oh, er roch so gut, schoss es mir durch den Kopf.

"Du bist jetzt in Sicherheit. Niemand kann dir etwas tun. Ich würde ansonsten jeden dafür büßen lassen.", antwortete Riven. Ich befreite mich aus seiner Umarmung.

"Versprichst du es?", flüsterte ich und sah Riven an.

"Ich würde alle, die dich verletzen wollen, mit bloßen Händen töten.", erwiderte er. Um seine Mundwinkel verharrte ein Ausdruck, den ich nicht von Riven kannte. Es hatte etwas Niederträchtiges, beinahe Erbarmungsloses an sich. Ich rückte verunsichert von ihm ab. In seinen Augen spiegelte sich keine Wärme.

"Du gehörst jetzt mir.", kamen die Worte aus seinem Mund, aber sie erreichten meine Ohren nicht.

Seine Worte waren bereits in meinem Kopf. Ich schrie.

~

Ruckartig schlug ich die Augen auf.

Es fiel mir schwer mich zu bewegen. Ich kam mir ziemlich benebelt vor. Langsam bohrte sich die Stimme in mein Bewusstsein. In mein waches Bewusstsein, wie ich feststellte. Ich war jetzt erst aufgewacht.

"Riven?", hauchte ich und tastete nach ihm. Die ersten Anzeichen der Morgensonne erhellten den Wald. Ich blinzelte. Ich erkannte keinen Riven vor mir. Jemand lachte dafür neben mir schadenfroh. Rivens Lachen war nie schadenfroh. Ihm bereitete es keine Genugtuung, jemanden leiden zu sehen. Riven besaß ein Herz, obwohl er oft eine spöttische Miene zog, und wäre nicht so kaltblütig, mich in so einer Situation für blöd zu verkaufen.

"Du hast dich ausgerechnet bei einer magischen Linie des Berges verstecken müssen. Clever, Musa, das muss ich dir lassen. So hätte ich dich fast nicht gefunden, nur bin ich selbst mit dem Berg magisch verbunden und habe die kleine Magieunterbrechung durch deine Präsenz bemerkt. Außerdem habe ich den miserablen Versuch von einer Gedankenbrücke logischerweise auch mitbekommen.", hörte ich jemanden zu mir sprechen.  Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Ich hatte nichts davon willentlich gemacht.

Laurin lehnte lässig an einem Baumstamm und musterte mich berechnend.

"Hallo, Musa.", begrüßte er mich, als wäre er einer alten Freundin zufällig über den Weg gelaufen.

"Du - du warst in meinem Kopf?!", keuchte ich entsetzt auf.

"Durch die Edelsteine kann ich zeitweise Fähigkeiten von verschiedenen Magien übernehmen. Du hast deine Kette liegengelassen. Sie hat deine Mentalkraft gespeichert, auf die ich jetzt mühelos zugreifen kann.", er deutete auf seinen Hals, wo jetzt meine Kette baumelte.

Laurin sprach weiter. Er wirkte geradezu euphorisch: "Ich hätte nicht gedacht, wie sehr dir unser Problemfall Riven bedeutet. Ich muss auch gestehen, dass ich dich unterschätzt habe. Du warst flinker als angenommen. Du versaust meine ganzen Pläne, Musa. Jetzt weiß Riven von dem Berg und bald werden es in Alfea auch alle wissen. Du lässt mir keine Wahl. Ich muss mein Vorhaben schleunigst durchführen."

"Welches Vorhaben?", spielte ich mit und schenkte ihm die Aufmerksamkeit, die er sich wünschte.

"Ich will die Herrschaft von Isis erweitern. Weißt du eigentlich, was wir nach Eraklyon exportiert haben? Magische Kraftsteine. Wir haben sie an die Bevölkerung massenweise verkauft. Sobald ich die Kraftquelle im Berg unter Kontrolle gebracht habe, wird es möglich sein, dass jeden, der einen Stein trägt, zu willenslosen Marionetten mache. Ich werde ihren freien Willen ausschalten und Eraklyon einnehmen.", beendete Laurin seine kleine Ansprache.

Ah, da war die Verknüpfung zu Eraklyon. Ich hatte mich schon gefragt, was die Importe und Exporte, von denen Dowling und Silva gesprochen, nach und aus Eraklyon mit Isis zu tun hatten. Bisher hatte ich diese Information übersehen.

Ich sah ihn an. Ich war wirklich verblüfft. So verblüfft, dass ich lachen musste.

"Ein bisschen größenwahnsinnig ist das schon, oder?", gluckste ich. Ich schaffte es nicht, Laurin ernst zu nehmen.

"Das ist so dumm.", redete ich weiter. Ich konnte es einfach nicht fassen.

"Lächerlich.", warf ich noch ein. Es fiel mir schwer, mich zu bremsen. Es war lächerlich!

Laurin schnellte zu mir rüber, wo ich mit dem Rücken gegen die Böschung gelehnt lag. Mein Körper war so durchgefroren und erschöpft, dass ich nicht die Reaktionszeit besaß, seine Hand wegzuschlagen, als sie sich um meine Kehle legte. Laurin drückte zu und ein erstickter Laut drang aus meinem Hals.

"Ich warne dich. Mach dich nicht lustig über mich, nicht über mich!", drohte er mir und starrte mich kalt an. Nach einer gefühlten Ewigkeit löste sich sein Griff um meine Kehle. Ich konnte ein Husten nicht unterdrücken.

Als ich endlich wieder meine Stimme fand, fragte ich: "Ich verstehe dich nicht. Du hast alles, was du brauchst. Wieso musst du zerstören? Kannst du nicht geben, anstatt zu nehmen? Sei menschlich."

Ich hatte noch nie erlebt, wie Laurin gegenüber mir verunsichert zeigte. Doch nicht nur seine Gefühlslage, sondern auch die Art und Weise, wie er seine Stirn in Falten zog und sich mit den Zähnen auf die Lippen biss, bewiesen, dass er zu mir zugehört hatte und ich ihn aus dem Konzept gebracht hatte.

Dann passierte es plötzlich.

In meinem Bewusstsein ging ein Überlebensknopf an. Ich dachte nicht nach, zeigte keine Reue oder machte mir Sorgen, was ich anrichtete. Meine mentalen Kräften bündelten sich. Meine Augen flammten feuerrot auf und im nächsten Moment bahnte ich mir einen Weg in sein Bewusstsein.

Laurin wusste nicht, wie ihm geschah. Er hatte es nicht erwartet. Ich durchbrach mit einem Schlag seine mentalen Mauern. Ihm blieb keine Zeit zu reagieren. Ich hatte ihn überrumpelt.

In meinem Bewusstsein, das jetzt in seinem war, hallte es: Ich will nicht wieder schwach sein. Ich kann nicht menschlich sein, kann nicht schwach sein. Ich muss stark sein.

Ich atmete tief aus und stellte mir einen Eisblock um seinen Geist vor. Ich wollte seinen Geist erstarren lassen, damit ich ihn mental für eine gewisse Zeit lähmte und die Chance hatte, ein weiteres Mal zu entkommen.

Warum war mir nur so etwas möglich zu tun? Derartig hatte ich noch nie aktiv meine Kräfte eingesetzt. Doch ich spürte, wie sich meine Kraft steigerte. Es dämmerte mir, warum. Nicht nur Laurin konnte die magische Kraftlinie vom Berg anzapfen. Ich hatte mich gerade selbst mit ihr verbunden. Hatte er nicht selbst gesagt, dass er eine Mentalfee benötigte, um die geistige Magie zu kanalisieren? Das hatte eigentlich für den Kern im Inneren gegolten, aber anscheinend schaffte ich sogar hier schon eine Kanalisierung durchzuführen. Ich jubelte innerlich.

"Laurin, du bist nicht schwach, wenn du Mitgefühl zeigst. Man ist nicht schwach, wenn man Vergebung zeigt.", sprach ich laut aus.

Er sah mich mit einer beängstigenden Leere in seinen Augen an und blieb stumm. Das war wohl nur eine Auswirkung, wenn man den Geist eines anderen in Beschlag nahm.

Ich hatte gut reden. Ich war nicht schwach. Ich fühlte mich gerade stärker denn je, sodass ich erneut in seine Gedanken mit der Frage "In welcher Richtung befindet sich der Berg?" eindrang.

Laurin redete nicht zurück. Mental blieb er auch stumm. Mich fröstelte es, jedoch dann begriff ich, dass die Luft um uns herum noch locker um einige Grade kälter geworden war. Eiskristalle bildeten sich Laurins Mund. Meine geistige Magie manifestierte sich jetzt auch materiell. Es war unglaublich und erschreckend.

Mühsam flüsterte er: "Von uns aus liegt der Berg im Westen. Wir sind nicht mehr weit davon entfernt."

Sein Blick fokussierte sich für wenige Sekunden, bis er wieder ins Leere ging. Ich sammelte meine wenigen Habseligkeiten zusammen und ließ Laurin so stehen. Meine Magie müssten noch anhalten, wie ich hoffte, bis er mental wieder "aufgetaut" war.

Ich hatte nämlich beschlossen, dass ich nicht in die Hauptstadt von Isis zurückkehren würde. Ich würde zum Berg gehen und die Menschen dort unten befreien. Wenn Riven jetzt wirklich bei mir wäre, würde er wohl etwas sagen wie: "Du kannst da nicht allein runter. Bist du lebensmüde?" oder "Das lass ich nicht zu." oder "Ich komme mit."

Nur jetzt brauchte ich keine Begleitung. Die Magie des Berges gab mir so viel Kraft, dass ich glaubte, ich könnte es mit jedem aufnehmen. Ich hatte nicht die Zeit, auf Riven, die Spezialisten oder meine Freundinnen zu warten.

Wenn Laurin tatsächlich Erakylon einnehmen wollte, dann dürfte ich ihm nicht einmal die Gelegenheit dazu geben.

Ich würde es beenden. Heute noch.

~

Riven tobte im Büro der Direktorin. Silva redete mit verschränkten Armen auf ihn ein: "Riven, das wäre eine Katastrophe, wenn wir jetzt in Isis einmarschieren."

"Eine Katastrophe? Was redest du, Silva?", zischte Riven. "Eine Katastrophe wäre es, wenn wir Musa nicht zurückholen und die Menschen dort versauern lassen. Was ist mit Sky? Mit Eraklyon?"

Dowling antwortete für Silva: "Wir haben keine Beweise, dass Menschen im Berg sind. Wenn wir jetzt mit Truppen dorthin aufbrechen, dann werden es die Eltern von Laurin und Diaspro definitiv kriegerische Handlung verstehen. Es wird zu Gefechten kommen und wir können uns keine weiteren Opfer leisten."

"Ihr habt Musas Wort!", konnte es Riven nicht fassen. "Ihr wolltet doch wissen, was in Isis vor sich geht, und jetzt ist es euch egal? Ist euch Musa auch egal?!"

"Es geht nur mit Beweisen.", blieb Silva stur.

Riven lachte verzweifelt laut auf. Warum mussten ihn immer alle verarschen und für blöd verkaufen? Warum mussten ihn alle ausnützen? Zuerst Beatrix, dann Ex-Direktorin Rosalind und jetzt Dowling und Silva. Er war zwar ein Spezialist, aber das hieß noch lange nicht, dass er eine Marionette oder ein Werkzeug war.

Er fühlte sich wie ein Tier, das in einem Käfig eingesperrt war. Machtlos. Er hatte Musa allein zurückgelassen, um Hilfe zu holen, wie es gewollt hatte. Dafür gaben Dowling und Silva einen Dreck für die Mission. Eine Mission, die sie in Auftrag gegeben hatte. Riven wusste nicht, was schlimmer war, die Sorge um Musa oder die Wut auf seine Vorgesetzten.

"Vergesst es. Hier muss man sowieso alles allein machen.", antwortete Riven und verließ ohne Entlassung das Büro. Er machte sich auf in sein Zimmer mit Sky. Es war ihm jetzt egal, wie Sky wegen Isis' Plänen reagierte. Er schätzte Sky nicht als jemanden ein, der auf Rache aus war, weil Isis plante, Erakylon einzunehmen. Zum Teufel mit Dowlings und Silvas Befehlen ihm nichts Genaueres zu sagen. Er wusste ja ohnehin, dass es eine Mission gab.

Riven riss die Türe auf und fand Sky, Bloom, Stella, Terra, Dane und Flora im Zimmer.

Stella rief aus: "Ich hab's euch gesagt, dass Riven wieder da ist. Wieso glaubt mir nie jemand?"

"Und jetzt kommt ihr mit mir mit.", grinste er und freute sich alle bereits versammelt zu sehen. Das würde die ganze Aktion schon erleichtern.

Was glaubt ihr, wie es weitergehen wird? Vielen lieben Dank für jeden Read, jedes Like oder jeden Kommentar. Freu mich immer sehr von euch zu hören!!!💕

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