Die achte Narbe

Wir wurden nicht im Thronsaal empfangen. Eine hübsche Dienerin, mit der Riven bald ein Gespräch aufgenommen hatte, wies uns den Weg in den sogenannten „Diplomatentrakt". Es war ein Teil des Hofes, der wohl allen Außenstehenden die Macht und Schönheit, vor allem die Überlegenheit, von Isis näherbringen sollte.

Ich hatte noch nie so viele Edelsteine und Mineralien in die unterschiedlichsten Möbel und Ziergegenstände eingearbeitet gesehen. Allmählich wurde es mir zu viel. Ich kam mir vor, als wäre ich in die Schatzkammer eines Drachen gestolpert. Dieser Drache würde nicht nur den Boden unter uns ausbeuten, sondern auch genauso die Menschen darüber, bis er alle Schätze an sich gehäuft hätte.

„Wo erwarten uns Ihre Majestäten?", erkundigte ich mich. Ich wollte keine Sekunde länger durch diese Gänge gescheucht werden.

„Nur keine Ungeduld.", sprach die Dienerin von oben herab mit mir.

Riven drehte sich zu mir um, hakte sich bei mir unter und murmelte: „Lies meine Gedanken."

Mir stieg die Galle hoch. Ich warf ihm einen Blick zu, als hätte er mich gefragt, eine Klippe hinunterzuspringen.

„Na, los.", forderte er mich ruhig auf. „Nur wenn du willst."

Ich blieb bei einer Fensterfront stehen, die einen Ausblick auf die Rosengärten und exotischen Glashäuser des Botanik-Instituts des Schlosses bot. Ich verscheuchte alle lästigen Gedanken. Meine lästigen Gedanken. Eine Mind-Fairy zu sein, bedeutete das eigene Bewusstsein auszublenden und sich ganz auf die anderen zu konzentrieren.

Wie tragisch nie in seiner eigenen Haut stecken zu können.

Ich suchte Riven, suchte den unsichtbaren, geistigen Faden, der uns von nun an verband.

Da! Ich hatte ihn.

Neue Rekordzeit.

Da war seine Stimme in meinem Kopf. Ich hatte ihn gefunden.

Gehen wir weiter, sonst wird es zu auffällig.

Ich darf ohne Eile die Aussicht mit meinem Freund genießen und vor mich hin schwärmen, wie protzig und eitel hier alle sind, oder?

Rivens Lachen stieg mir zu Kopf. Buchstäblich.

Wir gingen weiter.

In Zukunft ist das die einfachste Methode, um ungestört zu kommunizieren, findest du nicht? In Angesicht der Mission. Übrigens, es ist gut, wenn sie uns so viel vom Palast zeigen, wie es geht. Wir müssen alles in Erfahrung bringen, was hier so läuft.

Sie zeigen uns bloß das, was sie wollen, das wir sehen, Riven.

Tun wir das nicht alle?

Ja, tun wir, nur mit der Zeit lassen wir unser Schutzschild auch wieder sinken, oder?

Riven zögerte, antwortete nicht sofort.

Nicht wenn die Maske zu einem Teil deines Gesichts geworden ist.

„Ihr wurdet heute eine Audienz mit Prinzessin Diaspro und Prinz Laurin gewährt. Ihre Eltern, König Basil und Königin Amalia, sind anderswo in dringenden Angelegenheiten gebraucht.", unterbrach uns die Dienerin. Wir waren vor einem großen Eichentor angelangt, das einen Weltenbaum mit allen Planeten unserer Galaxie zeigte. Jeder Planet trug einen anderen Edelstein.

„Wirklich, welche Angelegenheiten?", platzte ich raus.

Die Dienerin musterte mich, als wäre ich eine Ratte: „Das geht jemanden wie Sie nichts an."

„Ich verehre das Königspaar, wissen Sie. Alle Herrscher sollten so sein wie sie. Ich wollte Ihnen das nur einmal in meinem Leben persönlich sagen können.", log ich. Ich hatte keinen Schimmer vom Herrscherpaar, wobei ich wusste, dass ich sie nicht ausstehen würde.

Die Dienerin strahlte bei meinen Worten eitlen Stolz aus: „Das freut uns, Enya, wenn unser Ruf uns vorauseilt. Das Königspaar überwacht die neuesten Grabungen höchstpersönlich."

Bravo – ein wenig Honig um den Mund hat noch niemanden geschadet. Grabungen, ein erster Anhaltspunkt. Ach, zu deiner Information: Diaspro ist die Ex-Verlobte von Sky.

Sky und Diaspro? Wann war denn das ein Thema gewesen? Ich dachte, Stella und Sky wären das Thema vor Bloom gewesen.

Die Dienerin öffnete das Eichenportal.

Diaspro und Laurin saßen am Ende einer mit Gold verzierten Tafel. An den Wänden hingen unzählige Familienportraits und scheinbar magische Artefakte aus Rubinen, Smaragden und Saphiren.

Ich spürte augenblicklich die kühle Atmosphäre des Raumes. Ich fühlte mich unwillkommen. Mich fröstelte es.

Wir verhalten uns nach Plan. Und kein Flirten mit der Prinzessin. Ich ermahnte Riven in meinen Gedanken.

Sie auf meiner guten Seite zu wissen, schadet doch nicht, versuchte er es.

Du bist mein Freund, Kyle!

Bin ich auch dein treuer Freund?

Ja, das bist du!

Ich hatte keine Lust darauf, dass Riven hier am Hof irgendwen und überhaupt schon nicht Diaspro versuchte um den Finger zu wickeln. Nur, was wenn es der Mission nützte?

Wenn du glaubst, sie hat wichtige Informationen, dann darfst du „nett" sein.

Dann lässt du mich also von der Leine?

Ich verzog mein Gesicht. Riven schmunzelte neben mir. Er wusste, wie er mir unter die Haut ging. In einem nervtötenden Sinn.

Wir traten zu den Hoheiten.

„Das ist Enya Trandore und ihr Freund Kyle. Der König und die Königin lassen sie als verehrte Gäste am Hof residieren. Sie wünschen, dass sie in einen eurer Zirkel aufgenommen werden.", stellte uns die Dienerin vor.

Wünschten wir das? Anscheinend hatte man bereits Pläne für Riven und mich.

Riven und ich knicksten vor ihnen.

„Prinzessin Diaspro, Prinz Laurin, es ist uns beiden eine Ehre. Zu Euren Diensten.", floskelte Riven. Beinahe hätte ich gelacht. So formell kannte ich ihn nicht.

„Gegen einen Abstecher in einen Zirkel hätte ich natürlich nichts einzuwenden.", grinste Riven. Ah, da war der gute, alte Riven.

Und ich war ahnungslos.

„Was ist ein Zirkel?", verließen die Worte auch schon meinen Mund.

Oh, nein – Mist! Ich wollte eigentlich die Frage mental an Riven stellen, nur konnte ich keine Verbindung zu ihm aufbauen, also hatte ich die Worte einfach ausgesprochen.

Diaspro fixierte mich, als hätte sich ihre Vermutung bestätigt, dass ich eine dumme Kuh war. Laurin lächelte und musterte mich dabei interessiert.

Die Geschwister sahen sich mehr oder weniger ähnlich. Diaspro hatte lange, goldblonde Haare und ihre Augen funkelten wie zwei Bernsteine. Doch auf ihrem Gesicht spiegelte sich Arroganz und Hochnäsigkeit. Kein Wunder, dass es Sky mit diesem verzogenen Prinzesschen nicht ausgehalten hatte. Laurin hatte dieselbe Haar- und Augenfarbe, nur seine Haaren waren leicht gelockt – und obwohl sich in seinen Augen eine Kühle verbarg, sah er mich freundlich an. Ich würde mich definitiv an ihn halten und ich musste zugeben: Er sah wirklich gut aus. Es war offensichtlich, dass er trainierte.

„Bei Zirkeln handelt es sich um eingeschworene Gruppen von magischen Wesen. Je nach Talent kommt man in einen anderen Zirkel und kann sich verbessern. Es handelt sich um Elitegruppen hier auf Isis.", stellte Diaspro klar, als würde sie meinen, dass ich sicherlich kein Talent besäße und auch nicht zur Elite gehören würde. Riven andererseits schien sie milder gestimmt zu sein.

„Kyle, da du bei uns deine Spezialausbildung bekommst, die Beste überhaupt, darfst du automatisch einen Zirkel deiner Wahl aussuchen.", ergänzte Diaspro.

Laurin räusperte sich, der bis jetzt still gewesen war: „Nicht zu vergessen, dass diese eingeschworenen Gruppen auch jede Menge Spaß haben. Morgen ladet mein Zirkel zu einer kleinen Feier ein."

Diese Feier war bestimmt nicht klein.

Riven grinste: „Bin dabei."

Sein lockerer Umgangston schien sich auf Diaspro und Laurin positiv auszuwirken. Ich spürte, wie sie sich entspannten. Man durfte nicht vergessen, dass sie auch in unserem Alter waren und wohl manchmal von ihrer Pflicht als Prinzessin und Prinz erdrückt wurden.

„Wer ist in Ihrem Zirkel vertreten?", wandte ich mich an Laurin. Ich traute mich nicht, ihn zu duzen. Nicht, dass ich gegen die höfliche Etikette verstieß.

„Nenn mich einfach Laurin, Enya.", entgegnete er, nahm meine Hand und deutete einen Handkuss an.

Ziemlich perplex starrte ich ihn an: „Ähm, okay."

Ich nahm wahr, wie sich Riven neben mir verkrampfte.

„Mein Zirkel ist der exotischste. Sagen wir so, es kommen nur Personen mit besonderen Fähigkeiten hinein. Prinzipiell hat also jeder die Chance, einen Platz zu erlangen. Ich zum Beispiel verfüge wie die meisten Feen auf Isis eine Macht über Edelsteine. Doch, wenn ich magische Steine als Schmuckstücke trage, ist es mir möglich, dass sie ihre Wirkung auf mich überträgt."

Laurin zeigte auf seine Halskette. Er trug einen schlichten, hellblauen Stein.

„Mit diesem Stein besitze ich ein paar der Fähigkeiten von Mentalfeen. Ich habe vorher euren Gedankenaustausch blockiert.", erklärte Laurin weiter. Ein verschmitztes Lächeln stahl sich auf seine Lippen.

Mich ergriff das Gefühl, dass ich mich besser von ihm fernhalten sollte. Doch ich konnte schwören, dass er das ein oder andere Geheimnis am Hof hier wusste.

„Dann würde ich mich gerne beweisen und in deinen Zirkel kommen.", nickte ich ihm zu. Laurin schien höchst erfreut zu sein.

„Dann sehen wir uns auf der Feier. Kyle, du darfst Enya natürlich begleiten.", verabschiedete er sich.

„Etwas anderes hätte ich auch nicht vorgehabt.", meinte Riven eingeschnappt.

„Die Dienerin wird euch heute durch den restlichen Tag bringen. Willkommen auf Isis.", brach auch Diaspro zum Gehen auf.

Die Dienerin kam zu uns herüber und sagte nur: „Wir treffen uns um 13 Uhr im Trainingspark."

Sie hatte nicht die geringste Lust, uns mitzuschleppen, merkte ich.

Gut, endlich allein.

Ich setzte mich auf einen Stuhl und atmete durch.

„Pass auf wegen Laurin.", setzte sich Riven zu mir. „Er ist ein Wolf im Schafsmantel."

„Na, eifersüchtig?", murmelte ich.

„Er ist gefährlich, wenn er sogar unsere Gedankenaustausch verhindern kann, sobald er in der Nähe ist.", sprach Riven weiter.

„Ich weiß.", musste ich da zustimmen.

„Am Abend brechen wir zu den Grabungen auf.", senkte Riven die Stimme.

Ich sah ihn für einige Sekunden stumm an.

„Du wärst lieber ohne mich hier, oder?", hakte ich nach.

Riven schaute kurz verlegen weg, bevor sich seine Augen in meine bohrten.

„Natürlich, dann müsste ich mir weniger Sorgen machen, Musa, aber ansonsten würde ich mit niemanden anders das hier lieber durchziehen."

Mein Herz setzte einen Takt aus.

In dem Moment ging das Eichenportal auf und eine Frau stand darunter. Wäre ich nicht in Rivens Kopf gewesen, hätte ich nicht sagen können, um wen es sich handelte.

Doch ich wusste es und erkannte sie sofort.

Rivens Mutter.

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