Der vierte Daimon
Monatelang Funkstille. Er hatte mir keinen Brief geschrieben, kein einziges Mal angerufen. Nach unserem Streit hatte ich mit Riven nicht wieder gesprochen. Langsam fragte ich mich, wie sich seine Stimme wirklich anhörte, denn in meiner Vorstellung ging sie mir so nahe, dass ich glaubte, in jedem Moment würde in mir etwas zerbrechen, wenn er nicht zurückkehrte.
„Hätten wir nicht bei dir eine Spezialausbildung genießen sollen?", murrte ich und erwartete eigentlich keine Antwort. Laurin war es mittlerweile gewohnt, dass ich ihn von Zeit zu Zeit mit meinen Worten am liebsten töten wollte.
„So leicht tauscht man eben die Seiten, Musa.", zuckte Laurin mit den Schultern. „In Alfea zu sein, ist immer noch eine weitaus rosigere Alternative, als in einem magischen Gefängnis zu hausen. Da wird man wahnsinnig."
„Das sollte dir doch nichts ausmachen, du bist ja schon verrückt.", lächelte ich.
Laurin lehnte sich in seinem Stuhl zurück und zog eine beleidigte Schnutte, als würde er es mir übelnehmen, dass ich nicht gerade das Beste von ihm hielt. Ausgerechnet Professor Fletcher hatte ihn zu einer Partnerarbeit mit mir verdonnert. Ich wusste nicht, wen sie damit mehr bestrafte. Laurin oder mich?
„Deine Fähigkeiten als Mentalfee sind noch ausbaufähig, du musst sie unter Kontrolle bringen. Laurin kann dir neben eurer Arbeit für die Schule sicher dabei helfen.", hatte sich Professor Fletcher zu erklären versucht, nur hatte sie anscheinend vergessen, dass erstens Laurin versucht hatte, mich mehrmals zu manipulieren und umzubringen. Zweitens war er es gewesen, der unbedingt Osiris zu befreien suchte, weswegen der Daimon jetzt in meinem Kopf steckte. Drittens war Riven wegen ihm erst die Höhlenklippen hinuntergestürzt. Das hieß, dass Laurin für mich nicht nur der perfekte Sündenbock war, nein, er war auch tatsächlich an allem schuld, was Riven und mir in den letzten Monaten passiert war. Um es zusammenzufassen, wie auch Riven bei unserer Mission in Isis angekündigt hatte, war Laurin ein Riesenarschloch, der machthungrige Fantasien nach Eroberungen und Menschenhandel unterhielt.
Was würde ich nicht dafür geben, wenn Riven jetzt anstatt von Laurin neben mir sitzen könnte. Ein lachender, feixender, gesunder Riven. Ohne Magie, ohne Fluch, nur mit seinem unberechenbaren, arroganten Charme. Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass zwischen Riven und mir etwas existieren würde, was uns beide verband. Eine unsichtbare Brücke, die uns dazu zwang, etwas mir ehrlich zu sein, und die uns zeigte, dass der jeweils andere uns auffangen würde, wenn wir nicht mehr konnten.
Ich wusste, dass ich die etlichen Trainingsstunden nie vergessen würden werde. Sie sind damals das letzte Stück Hoffnung gewesen, ohne dem ich nicht weitermachen hätte können. In den Stunden, in denen ich mich mehr tot als lebendig gefühlt hatte, war es Riven gewesen, der mich angespornt und mir ein Lachen entlockt hatte.
„Was ich mich jetzt schon seit Monaten frage, Musa...", begann Laurin wieder unser Gespräch aufzunehmen. Konnte er nicht einmal still sein? Wir sollten für das Projekt nur recherchieren. Da musste niemand mit dem anderen sprechen, sondern nur leise lesen und sich Notizen machen.
„Was?", unterbrach ich ihn.
„Was eigentlich aus Osiris geworden ist.", seine Stimme war ernst, kühl und berechnend. In ihr verbarg sich kein belustigter Unterton mehr, den er die ganze Zeit in Alfea über angeschlagen hatte. Hier traute sich der echte Laurin aus seiner Maskerade herauszukommen.
Ich bekam eine Gänsehaut und erinnerte mich an das Gespräch, das ich mit Osiris führte, als wir unseren Pakt abgeschlossen haben.
„Was wirst du mit Laurin machen?"
Osiris lächelte wieder: „Eine Frage zu viel, aber ich gewähre sie dir. Er hat sich mir verschworen, hat mit seinem Blut dafür bezahlt. So war es mir überhaupt möglich, zu erwachen und mit dir zu sprechen. Ich habe ihn bedauerlicherweise einen Teil meiner Macht verliehen. Nun kann ich sie ihm auch nicht mehr entziehen. Doch, wenn du zu meinem Anker wirst, dann wird er auch dir nichts anhaben können. Er wird unter dir stehen, muss deinen Befehlen folgen."
Ich hatte damals schon gewusst, dass Laurin mich töten wollen würde, wenn er in Erfahrung bringen würde, wo Osiris war. Bei mir, in mir.
Ich war er...
„Dein wunderbarer Auferstehungsplan hat nicht funktioniert, Laurin. Das ist passiert.", erwiderte ich zischend. Wenn ich mit ihm zusammen war, entlud sich die ganze Wut auf ihn. Es war so einfach, jemanden für alles Schlechte verantwortlich zu machen.
„Ach, habe ich etwa nicht Osiris gesehen? Ist er nicht in der Höhle gewesen? Hat er sich nicht manifestiert?", fuhr Laurin ungeniert fort und löcherte mich mit Fragen. Seine Augen funkelten gefährlich, als wollte mir sagen: Verkauf mich nicht für blöd.
„Er wird in sein elendiges Loch zurückgekrochen sein. Dasselbe solltest du am besten auch tun.", schleuderte ich zurück.
Laurin erhob sich von seinem Stuhl.
Seitdem Riven gegangen war, hatte ich mit Osiris wenig gesprochen und er hatte sich wie Riven nicht wirklich bei mir gemeldet. Es war seltsam, aber ich war froh darüber, nicht an beide erinnert zu werden. Ich erinnerte mich selbst schon genug und machte mir Sorgen über die wahren Motive von Osiris. Warum wollte er ausgerechnet als mein Seelenbegleiter fungieren? Was hatte er davon?
Ich kann durch deine Augen sehen, durch dein Herz spüren, wie es ist auf der Welt zu sein, welche Freuden und welches Leid es zu erfahren gibt. Wie schön und traurig es sein kann, am Leben zu sein.
Ich erschreckte mich über die plötzlichen Worte von Osiris in meinen Gedanken so sehr, dass ich aufsprang und mein Stuhl durch die Wucht durch das leere Klassenzimmer geschleudert wurde.
„Verdammte Scheiße.", flüstere ich bestürzt.
Laurin ließ mich keine Sekunde aus den Augen. Als ich zu ihm blickte, grinste er nur triumphierend.
„So ist das also. Du wirst immer interessanter, Musa.", meinte er und ließ mich beinahe wie angewurzelt stehen. „Nimm nicht an, dass ich mir das ohnehin nicht schon gedacht hätte."
„Keine Ahnung, von was du sprichst.", keuchte ich.
Er wird dich umbringen. Er wird dich umbringen. Er wird dich umbringen. Er wird dich umbringen. Er wird dich umbringen.
Mein Verstand schlug Kapriolen.
„Komm heute Abend zu mir. Wir werden herausfinden, was für Geheimnisse du noch so hast.", verabschiedete sich Laurin.
„Warum sollte ich das tun?", rief ich ihm nach.
„Ich glaube, du möchtest am allermeisten herausfinden, was hier wirklich vor sich geht.", antwortete er mir und verschwand.
Er hatte mich schon einmal eingelullt, hatte mich schon einmal dazu gebracht, ihm zu vertrauen. Ich würde diesen Fehler nicht wieder machen, das hatte ich mir geschworen, aber was hatte ich zu verlieren? Hatte ich laut Osiris nicht die Macht über ihn? Unterstand er mir nicht? War es nicht an der Zeit, dass er mir zu meiner Marionette wurde, bis Riven wieder da war und ich alles mit ihm vergessen konnte?
Gleichzeitig fraß sich die Angst in mich hinein, dass er nicht heimkehren und die Liebe sich nur als ein schöner Traum entpuppen würde. Vielleicht war es an der Zeit, alles und jeden loszulassen, um zu sehen, was dann am Ende noch übrig blieb. Vielleicht hatte ich mich so sehr an Riven als einen Lebensfaden geklammert, dass er dazu bestimmt war, zu reißen.
~
Mit einem mulmigen Gefühl im Magen klopfte ich an der Zimmertür von Laurin an, nachdem die Sonne untergegangen war. Falls ihr euch jetzt wundert, warum ich niemanden mitgenommen hatte, glaubte ich, dass ich diese Sache mit Osiris nicht herausposaunen sollte. Ich war mir unsicher, wie andere magische Wesen darauf reagieren würden. Dowling und Silva wussten Bescheid, wo ich war. Das musste reichen. Sie hatten noch Sky als Aufseher vor Laurins Zimmer an diesem Abend abgestellt.
„Was willst du von ihm?", bohrte Sky nach und zog die Augenbrauen hoch. Er war mir gegenüber ziemlich skeptisch geworden, seitdem er seinen besten Freund und Rivalen verloren hatte. Ich erkannte, dass ich nicht die Einzige war, die Riven vermisste.
„Von Laurin?! Nichts.", wirkte ich erschüttert. Er schwieg und fixierte mich. Wir warteten beide, bis Laurin endlich die Tür öffnete. Wellen von Skys anschuldigenden Gedanken schwappten ohne Vorwarnung zu mir über.
Sie hat sich mit ihm angefreundet. Sie war schon immer auf seiner Seite gewesen. Sie planen gemeinsam etwas. Sie hat ihn gegen Riven ausgetauscht. Sie schläft mit Laurin.
Ich hatte beschlossen ohne seine Halskette auszukommen, die meine Kräfte unterdrückte. Nur, wie ich feststellen musste, hatten sich meine Kräfte inzwischen ausgeweitet. Von Gefühlen zu Gedanken.
„Bei Lilith...", flüsterte ich. Das wurde immer schlimmer.
Dann wandte ich mich an Sky.
„Sky.", sprach ich warnend seinen Namen aus, als müsste ich ein kleines Kind erziehen, „Mach mal eine Pause, bevor deine Verschwörungstheorien noch zu absurd werden, ja?"
Er lief röter als eine Tomate an und schluckte.
Wie hat sie das gerade gemacht???
„Ich habe keinen blassen Schimmer.", entgegnete ich laut, „Aber wage es nicht an mir zu zweifeln, nicht nach allem, was wir durchgestanden haben."
„Einen wunderschönen Abend.", stand da auch schon Laurin vor uns.
„Warst du nicht in deinem Zimmer?", langsam schien Sky die Geduld auszugehen.
„Ein kleiner Spaziergang hat noch niemanden geschadet.", zwinkerte mir Laurin zu. Ich wollte kotzen.
„Das geht nicht, du kannst hier nicht einfach unbeaufsichtigt herumlaufen.", verschränkte Sky die Arme.
„Versuch mich daran zu hindern, Prinzling.", knurrte Laurin.
Ich lachte auf und schlug mir die Hände vor den Mund: „Der Prinzling bist hier ja eindeutig du, Laurin. Verzogen, größenwahnsinnig, arrogant."
Sein Blick fiel auf mich und öffnete die Tür: „Wollen wir?"
Ich nickte und Skys Gedanken prasselten weiter auf mich ein, bis sie sich nach zwei Minuten immer weiter in die Ferne rückten. Er musste seine Position verlassen haben und zu Silva gegangen sein, um über Laurins Freigänge zu sprechen.
Nein, nein, nein... Er musste doch dableiben.
„Willst du dich nicht hinsetzen?", deutete Laurin ungeduldig auf ein schmales, rotes Sofa. Ich kam mir auf einmal vollkommen deplatziert vor. Es fühlte sich so an, als wäre in diesem Raum kein Platz der richtige für mich, also setzte ich mich einfach und wartete und schwieg, bis eine gewisse Panik wie eine Schlange in mir hervorkroch.
Beruhige dich, Musa. Osiris tiefe, alles durchdringende Stimme ertönte in meinem Bewusstsein.
Wo bist du gewesen?
Ich war doch da, antwortete er.
Nein, du warst nicht da für mich.
Du hast mich auch nicht gerufen. Verwechsle mich nicht mit Riven und vertraue Laurin auf gar keinen Fall, riet er mir.
„Ich habe Neuigkeiten.", fing da schon Laurin an.
„Welche?", begann auch ich mit seinem Frage-Antwort-Spiel.
„Was kriege ich dafür?", lächelte er.
„Einen Tritt in den Arsch, wenn du nicht sofort aufhörst, meine Zeit zu vergeuden. Antworte auf der Stelle.", stellte ich klar.
Laurin blinzelte verwirrt, als er mir Folge leistete: „Riven kommt zurück nach Alfea. Deine magischen Fähigkeiten werden dich verschlingen, je länger du mit Osiris zusammen bist. Und Riven –"
„Und Riven?!", ließ ich nicht locker.
„Und Riven wird zu einem vollständigen Dämon werden, wenn du Osiris freigibst.", sprach er weiter. Jedes Wort presste er mühsam hervor, als wollte er diese wertvollen Informationen gar nicht preisgeben, als hätte er ein ganz anderes Spielchen verfolgt. Anscheinend zerschlug ich seine Pläne gerade.
Ich breitete mich auf dem Sofa aus. Ich genoss das hier in vollen Zügen.
„Laurin.", murmelte ich lieblich und er zuckte zusammen, „Das musst du mir schon genauer erklären."
„Ich habe die Korrespondenzen zwischen Silva und Riven abgehört. Sie haben über Hologramme kommuniziert. Riven ist im Berg auf Isis gestorben, Musa. Dein Pakt mit Osiris hat ihn zurückgeholt. Dafür hat ihn Osiris in einen Halbdämon verwandelt. Riven ist das Äquivalent zu Osiris. Ein Dämon zu einem Daimon, einem Seelenbegleiter. Wenn du Osiris sozusagen aufkündigst, dann wird sich Riven in einen vollen Dämon verwandeln. Osiris hat dich reingelegt, meine Liebe. Er wird dir denjenigen Menschen, den du am meisten liebst, wenn du ihn gehen lässt."
MUSA!
Ich schleuderte den Daimon in die Untiefen meiner Seele, wo er mich nicht erreichen konnte. Meine Haut kribbelte, als würden Blitzen auf ihr tanzen. Ich fühlte mich so betrogen von Osiris, von der Welt und von Riven, dass er mir nichts gesagt hatte.
Musa, er wird dich umbringen, wenn du jetzt die Fassung verlierst. Er wird sich von deiner Macht über ihn freisprechen wollen. Bleib bei mir, bitte.
Ich würde Osiris nie mehr loslassen werden, wenn er ein Teil von mir war. Es nützte nichts.
„Verschwinde! Du hast mich angelogen wie alle!", schluchzte ich. Wie alle. Innerlich wiederholte ich nur: Riven. Riven. Riven. Es sollte mich nicht wundern, mich nicht so brechen, dass er es mir verheimlicht hatte.
Musa, es tut mir leid. Lass mich erklären, wieso ich bei dir bin. Bitte. Ich habe dir über die Riven doch die Wahrheit gesagt. Habe ich nicht auf seinen Tod hingewiesen? Erinnere dich.
„NEIN!"
Erst jetzt nahm ich wahr, dass ich schwebte. Meine Magie hatte mich buchstäblich in die Luft getrieben. Mein Kopf erreichte beinahe die hohe Zimmerdecke.
Unten stand Laurin. Seinen Hände glühten, als er mir sagte: „Wir schließen das hier und jetzt ab."
„Du kannst Osiris haben.", rief ich ihm zu.
Zum ersten Mal sah ich ehrliche Überraschung in seinen Augen. Ich schwebte zu Boden und versuchte seine Gedanken und Gefühle zu lesen, aber es klappte irgendwie nicht.
„Wieso bist du immun gegen meine Fähigkeiten?", hakte ich nach. Das Glühen seiner Hände war verschwunden.
„Dir sollte klar sein, dass ich weitaus talentierter bin als du.", meinte er.
„Natürlich, deine Begabung ist nicht von dieser Welt.", lachte ich höhnisch auf, „Ich schlage dir vor, dass du mich unterrichtest und du mir alles zeigst, was du weißt, damit ich meine Kräfte nicht vergeude. Dafür übergebe ich dir Osiris. Ich will nichts mehr von ihm wissen."
Laurin zögerte: „Du lässt Riven zu einem vollen Dämon werden?"
„Ich will auch nichts von Riven wissen.", atmete ich schwer aus, aber ich hatte meine Entscheidung getroffen.
„Sieh an, du wechselst wirklich die Seiten.", schien er höchsterfreut zu sein.
„Nur, wenn du mir einen magischen Schwur auf dein Leben leistest, du wirst mich und sonst auch niemanden mehr verletzen, Laurin."
Seine Freude ging in Rauch auf. Er hatte ein Pokerface aufgesetzt.
„Was immer du willst, Musa. Was habe ich für eine Wahl? Ich kann mich dir nur fügen, wenn ich dich schon nicht umbringe."
~
Im Sommer kommen voraussichtlich die letzten Kapitel meiner Story, es zeichnet sich ein Ende ab... Was glaubt ihr, was als Nächsten passieren wird? Danke für jeden Like und jedes Kommentar! Ich hoffe, die Story gefällt euch!
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