Kapitel 26

"Geimeingefährliche Mutantengruppe: "Your Power" gestoppt!"

"Mutanten attackieren wehrlose Zivilisten! Wie weit soll es noch kommen?"

"Your Power gestoppt! Mehrere Tote!"

So oder so ähnlich lauteten die Schlagzeilen, die bereits seit Tagen in ganz Japan zu lesen waren und welche die Menschen im gesamten Land in Aufruhr und Schrecken versetzten. 5 Tage waren seit dem Vorfall vergangen und noch immer hatte sich absolut nichts beruhigt. Ganz im Gegenteil. Die Proteste hatten seit diesem Tag rasant zugenommen. Überall konnte man im Internet und den sozialen Medien nun Personen für gleiche Rechte und bessere Chancen für alle kämpfen sehen. Natürlich bestand die Möglichkeit all diese Menschen zurückzuverfolgen und in Sicherheitslagern einzusperren, wo sie ihren Kampfgeist irgendwann einfach von selbst aufgeben würden, doch die Anzahl der Personen, die sich für diese Sache einsetzten lag weit über den Fähigkeiten der Regierung. Die Regierung war überfordert! Verrückt, dass man das wirklich einmal sagen konnte ohne sofort verhaftet zu werden. Die Gerechtigkeitskämpfer stammten dabei nicht nur aus Japan. Auch im Ausland hatte sich die Gruppe "Your Power" bereits einen Namen gemacht. Nicht nur in den Medien, auch auf der Straße konnte man nun also deutlich die Unzufriedenheit der Menschen erkennen. Man musste nur genau hinhören und die Augen offen halten, dann entdeckte man es überall. Die vielen roten Graffiti an den Hauswänden, die verschlungenen Zeichen von "Y" und "P" und das leise Getuschel hinter jedem Rücken. Die Gesellschaft war gestresst und der Keil, der schon seit Jahren zwischen den Menschen steckte, schien die Erdkruste jetzt mehr denn je aufzuspalten. Es war nur noch eine Frage der Zeit bis es zu einem Erdbeben, der endgültigen Eskalation, kommen würde. "Your Power" Dies war der Name der Mutantengruppe, welche vor 5 Tagen einen Angriff auf die Zivilisten in einer Einkaufsstraße in Shizuoka gestartet hatten. 5 Mitglieder zählten sich zu dieser ungewöhnlichen Organisation. 2 lebendig, 3 gestorben. Die drei waren noch am Tag der Attacke und am selben Standort verstorben. Erschossen durch die goldenen Kugeln einer Polizei Einheit. Die zwei Verbliebenen waren schnellstmöglich in ein naheliegendes Sicherheitslager gebracht wurden. Es hatte keinen Prozess gegeben. Keine Angehörigen wurden hinzugezogen und die Schuldigen nicht befragt. Man tat das, was das beste für das Allgemeinwohl war. Hm, was für ein netter Satz, nicht wahr? Oh, mehrere Zivilisten wurden natürlich auch verletzt und ein paar wenige davon sogar getötet. Jedoch war es das nicht, was all die Zuschauer vor den Fernseh und Handy Bildschirmen so brennend interessierte. Es waren die Mutanten. Man könnte sagen, dass dieser Protest nur einer von vielen verzweifelten Versuchen war etwas zu ändern. Man könnte sagen, die Mitglieder von 'Your Power' wären nur leichtsinnige Freaks auf der Suche nach einem Kick. Ja, man könnte sagen, dass diese Aktion rein gar nichts bewirkt hätte. Es wurde viel gesagt und man konnte vieles hören. Um jedoch die Wahrheit in diesem erschreckenden Wirrwarr zu erkennen, musste man nur sein Handy, Radio, Fernseher einschalten oder sein Fenster öffnen und hinaus auf die Straßen blicken. Diese Aktion war nicht nur eine von vielen gewesen. Your Power hatte sich nicht für umsonst geopfert. Dies war der letzte bekannte Tropfen gewesen, der das Fass zum überlaufen brachte. Es stürzte um und sorgte für eine Überschwemmung. Eine Überschwemmung, die ganz Japan unter sich begrub.

"Warum tun wir das hier nochmal?", fragte er skeptisch und betrachtete mit hochgezogener Braue die braune Steinwand vor ihnen. Das blonde Mädchen neben ihm schüttelte bei seiner Unbegreiflichkeit nur mit dem Kopf und schenkte ihm einen tadelnden Blick über die Schulter hinweg. "Na ganz einfach. Wenn es schon Leute auf dieser Welt gibt, die für das selbe kämpfen, wie wir, dann müssen wir sie auch unterstützen!", erklärte sie vollkommen gefangen in ihrer feurigen Entschlossenheit. Jap, das war Toga. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf setzte, dann zog sie es auch durch! Ein letztes "Zisch" ertönte aus ihrer Spraydose und danach das scheppernde Geräusch als besagtes Objekt achtlos in eine Ecke der Straße geworfen wurde, wo es ein paar Krähen auf der Suche nach Essenresten aufscheuchte. Seine Begleiterin trat ein paar Schritte zurück, sodass sie nun auf gleicher Augenhöhe mit ihm war und stemmte zufrieden die Hände in die Hüften. "Also mir gefällt's!", gab sie ihre Gedanken laut preis. Ihre goldenen Seelenspiegel waren gebannt auf die Steinwand vor ihnen gerichtet, auf der nun das verschlungenen Zeichen eines "Y" und "P" in roter Sprayfarbe aufragte. "Können wir bitte einfach wieder nach Hause gehen? Die anderen warten schon auf uns.", fragte er, ohne dabei auf ihre vorherige Aussage einzugehen. Die Einkaufstüten in seinen Händen wurden langsam schwer und jede vergangene Sekunde in der er weiter hier herumstand, begann sein rechtes Knie mehr zu schmerzen. Rausgerutschte Kniescheibe...Was für ein Scheiß! Das Mädchen schnaubte bei seiner nicht vorhandenen Begeisterung nur beleidigt auf und boxte ihm dann spielerisch in die Seite. "Spaßverderber! Du hast doch bloß Angst, dass uns jemand entdeckt." Beleidigt streckte sie ihm die Zunge heraus, doch griff tatsächlich nach ihrer eigenen Einkaufstüte und wandte sich zum gehen um. Er warf noch einen letzten zweifelnden Blick auf das verschlungene Zeichen an der Wand, bevor auch er den Rücktritt antratt.

"Ja vielleicht. Im Gegensatz zu dir, kann ich aber auch nicht vor unseren Verfolgern weglaufen.", konterte er nur, während sie gemeinsam durch den Knöchelhohen Schnee watteten. In denn letzten 5 Tagen hatte es nochmal einen neuen Schneeschub gegeben und an einigen anderen Stellen reichten ihnen die weißen Flocken sogar bis zu den Knien. Der Schnee war ja nicht das schlimmste. Das nervige war das Eis darunter. Durch die Nässe waren alle Straßen und Wege vollkommen zugefroren und machten das gerade gehen um einiges schwerer. Vorallem mit einem geschwollenen Knie. Wie der Zufall es so wollte rutschte er direkt in dem Moment aus und konnte sein Gleichgweicht nur mit Mühe halten, als er sich verbissen an einem Feuerhydranten festklammerte. Alles unter den wachsamen Augen seiner Begleiterin. Besorgt eilte sie zu ihm und streckte eine Hand nach ihm aus, die er wirklich nur annahm, um nicht nochmal auszurutschen. "Oh mann! Dieses Eis ist echt schlimm auf den Straßen! Geht es mit deinem Knie?" Ihr besorgter Blick hatte sich auf sein rechtes Bein gelegt und alles an ihrer Mimik und Gestik schrie geradezu nach Mitleid. Es kotzte ihn an! Dieses ganze ätzende Mitgefühl, welches er sich seit 5 Tagen in Dauerschleife anhören musste, kotzte ihn an! Er wollte kein Mitleid! Es war seine eigene Entscheidung gewesen Toga zu begleiten und mit ihr zusammen die Einkäufe für die Liga zu erledigen, also würde er es auch aushalten. "Mir geht's gut.", murrte er nur. Nicht sonderlich erpicht darauf dieses Thema noch weiter zu führen. Es gab zur Zeit weitaus größere Probleme als sein Knie! Die Blondine schien seine Worte glücklicherweise richtig zu deuten und entschied sich dazu nichts weiter zu diesem Thema zu sagen. Vielleicht wirkte es auf den ersten Blick nicht so, doch in einigen Situationen wusste selbst jemand, wie Toga, wann sie besser die Klappe halten sollte. "Hm, was Compress wohl heute gekocht hat?", äußerste sie ihre Gedanken laut. Keine Frage, um die dicke Luft zwischen ihnen zu lockern. Zumindest ein kleines Stück. Er hatte ja selbst ein schlechtes Gewissen, so unfreundlich und abweisend zu ihr, nein zu allen aus der Liga zu sein, wo sie doch nur versuchten Acht auf ihn zu geben, doch in den letzten 5 Tagen war seine Stimmung so dermaßen in den Abgrund gesackt, dass er einfach keine Nerven für irgendwelche dummen Witze oder noch viel schlimmer, sentimentales Geschwafel hatte. Bei ihrer Frage zuckte er nur gleichgültig mit den Schultern und brummte eine Antwort vor sich hin. "Suppe natürlich. Was sollte es schon anderes geben?"

°

"Und hier ist meine berühmte Pilz-Creme-Suppe! Lasst es euch schmecken!", rief der Magier völlig verzückt von seiner eigenen Kreation. Löffel für Löffel verteilte er die hellbraune Brühe auf ihren Tellern und schob diese dann mit einer höfflichen Verbeugung zu ihnen hin. Der Anblick und Duft des Essens sorgte bei Dabi nicht gerade für Höhenflüge der Emotionen. Zugegeben, die Speiße sah gar nichtmal so schlecht aus. Die Pilze waren in die perfekte Größe geschnitten wurden, so als hätte sie jemand mit einem Lineal ausgemessen und auch Farbe und Konsistenz waren überhaupt kein Vergleich zu dem billigen Dosenfutter, welches er auf der Straße in sich hineingestopft und jedesmal beinahe sofort wieder ausgekotzt hatte. Es war mehr so, dass ihm langsam aber sicher die Lust an Suppe vergangen war. Schon die ganze Woche lang versuchte sich Compress, der sowas, wie den persönlichen Koch der Liga darstellte, an neuen Suppen Rezepten und schien dabei gar nicht erst daran zu denken mal eine andere Speiße zuzubereiten. Nun gut, er wollte ja nicht die gesamte Schuld in die Schuhe des Magiers schieben. Auch Dabis insgesamter Appetit ließ in letzter Zeit sehr zu wünschen übrig. Da würde es wohl keinen Unterschied machen, ob er eine riesige Schüssel Soba oder doch nur Pilz-Creme Suppe vor sich stehen hatte. Er war überhaupt erst zum Abendessen erschienen, damit die anderen ihn nicht vor Sorge die Treppe hinunter and den Esstisch schleiften.

Träge Schritte kündigten die Ankunft des letzten Mitglieds ihrer kleinen schrägen Familie an. Seit er ihn kannte, hatte ihr Anführer eine Leidenschaft dafür sich vor dem Computer Bildschirm in seinem Zimmer zu verbarikadieren und nur herauszukommen, wenn es entweder einen Notfall oder etwas zu besprechen gab. Hunger zählte dabei wohl zu einem Notfall. Ohne ein Wort zu sagen ließ der blauhaarige sich an seinen Platz am Tisch sinken und betrachtete dann hinter einem Vorhang aus ungekämmten Strähnen, wie Compress ihm das Essen aufsackte. "Moment, ist das etwas schon wieder Suppe?! Wer sind wir denn, eine Essens Ausgabe für Obdachlose? Ich hatte dich doch klar und deutlich darum gebeten, etwas anderes zu kochen außer Suppe!", beschwerte sich Shigaraki noch im selben Atemzug, in dem ihm sein dampfender Teller hingeschoben wurde. Das war nicht das erste mal in dieser Woche, in der er und der Koch der Liga diese Unterhaltung führten und Dabi hatte das verräterische Gefühl, dass es auch nicht das letzte Mal sein würde. "Aber, Aber! Suppe ist gesund und hat einen vortrefflichen Geschmack! Sobald ich alle Rezepte in meinem Suppen-Kochbuch ausprobiert habe, wird es wieder etwas festes zwischen den Zähnen geben, aber bis dahin gibt es das, was ich zubereite, also setzt dich hin Tomura Shigaraki und iss." Hinter seiner Maske konnte man den Gesichtsausdruck des Magiers nicht erkennen, doch er war sich ziemlich sicher, dass da ein Grinsen auf dessen Lippen lag. "Achja? Vielleicht sollte ich ja selbst mal einen Blick in dieses Kochbuch werfen...", grummelte ihr Anführer vor sich hin, doch äußerte keine weiteren Proteste. Anscheinend hatte der Hunger da seinen Kampfgeist besiegt.

Von der Seite aus, wurde ihm die grazile Hand von Toga zugestreckt und er ergriff sie stumm. Als er jedoch seine eigene Hand zur anderen Seite ausstreckte, traf er dort nur auf gähnende Leere. Stimmt, ein Platz an ihrem Tisch war unbesetzt. Manchmal...manchmal vergaß er einfach, dass einer von ihnen gerade nicht hier sein konnte. Schnell zog er seine Hand zurück und schloss die Augen. Wie jeden Abend sprach Compress laut das Tischgebet, während die anderen die Verse stumm mitdachten. Es war zwar nicht gerade das, was man von einer gefürchteten Verbechergruppe erwartete, doch vor dem Essen ein Tischgebet aufzusagen war eine der schrägen Angewohnheiten ihrer Gruppe, die sich schon vor seinem Beitritt festgesetzt hatte. Wer von ihnen im Endeffekt auf diese Idee gekommen war, konnte er nicht genau sagen. Compress Worte drangen nur gedämpft in sein Gehör. Er betete für eine ganz andere Sache, die ihm in diesem Moment sehr viel wichtiger vorkam. Nachdem das Gebet beendet war, wurden endlich die Löffel gezückt und nun...man konnte diesen Anblick als nichts anderes, als amüsant bezeichnen. Wie ein Rudel ausgehungerter Wölfe stürzten sie sich auf ihre Suppenteller und inhalierten das Gericht geradezu. In den ersten Tagen, seit er der Liga beigetreten war, hatte er sich bei diesem Anblick immer das Lachen verkneifen müssen. Jedoch war er im Moment nicht in der Stimmung für gute Laune. Ihm war der Appetit bereits nach dem ersten Löffel vergangen. Es war nicht so, dass ihm das Essen nicht schmeckte, denn Compress hatte wirklich ein Händchen fürs Kochen. Er machte sich in den letzten Tagen nur über so viele Dinge gleichzeitig Gedanken, dass sowas, wie Hunger einfach keinen Platz mehr in seinem Verstand hatte. Mit eingefrorener Miene rührte er in seiner Suppe herum und hörte nur abseits den lautstarken Gesprächen der anderen zu. Er konzentrierte sich nicht auf ihre Worte. Ihre fröhlichen und heiteren Stimmen waren alles was es brauchte, um seine eigene Laune nur noch mehr in den Abgrund sinken zu lassen. Er verstand es nicht! Sie alle...sie wirkten so verdammt glücklich und sorglos. Berührte sie das, was geschehen war, denn kein bisschen? Oder war er selbst einfach viel zu sentimental und empfindlich? Interessierte es sie denn überhaupt nicht, dass-
Nein! E-Er konnte das einfach nicht! Diese fröhlichen und sorglosen Unterhaltungen. Er konnte sie sich nicht länger mitanhören! Er konnte nicht einfach so tun, als wäre nichts passiert! Er konnte es nicht, egal wie sehr er es versuchte!

Abrupt stand er von seinem Stuhl auf und hörte, wie die Stimmen um ihn herum von der einen Sekunde auf die nächste verstummten. Ohne einen Blick nach hinten zu werfen leerte er seinen Teller aus und stellte ihn dann in der Spühle ab. "Danke, für das Essen. Es war wirklich lecker." Selbst in seinen eigenen Ohren hörte sich seine Stimme fremd an. So starr und emotionslos. Als würde er einen Text ablesen, den er schon hundert Mal aufgesagt hatte. Ohne einen Blick in die besorgten Gesichter um ihn herum zu werfen, lief er an dem langen Tsich vorbei und in Richtung des Ausgangs dieses Zimmers. Er wollte nicht so sein, wirklich nicht, doch er konnte auch nicht länger mit diesem scheinheiligen Getue weitermachen! "Dabi, warte!" Die Worte wurden ihm aus mehreren Mündern zugerufen, doch er ignorierte sie einfach, um diese ganze Situation nicht noch viel komplizierter zu machen. Stattdessen lief er zügig die Treppen in das obere Stockwerk hinauf und atmete erleichtert auf, als es endlich wieder Stille war, welche ihn umgab, statt diesen lauten und fröhlichen Stimmen. Diejenigen, die mit seinem Verhalten umgehen mussten taten ihm Leid, doch er konnte einfach nicht so weitermachen, wie vorher! Nicht wenn-
Statt den Gedanken zu beenden, schüttelte er den Kopf und lief weiter. Anders, als üblich steuerte er jedoch nicht sein eigenes Zimmer, sondern einen anderen bekannten Raum mit der Nummer 7 an. Als er die Tür öffnete kam ihm sofort dieser leicht fruchtige Duft entgegen, an den er sich mit der Zeit so gewöhnt und lieben gelernt hatte. Auch jetzt verfehlte der bekannte Geruch nicht seine Wirkung und bereits der erste Atemzug sorgte dafür, dass sich seine Nerven beruhigten. Zumindest für einen Teil. Lautlos schloss er die Tür hinter sich und trat dann ein paar Schritte nach vorn. In der Mitte des kleinen Zimmers blieb er stehen und blickte sich schweigend um. Das alles, der Duft, die Einrichtung und die gesamte Atmosphäre, kamen ihm so nah und doch so unendlich fern vor. Man merkte deutlich, dass etwas wichtiges fehlte. Seufzend fuhr er sich über das taube Gesicht und wischte sich ein paar verrutschte Strähnen aus dem Sichtfeld. Er war müde, aber schlafen konnte er auch nicht.

Wie von selbst bewegten sich seine Füße, führten ihn weiter hinein in das Zimmer, bevor er sich schließlich an einem bekannten Ort widerfand. Stumm ließ er sich auf den rechteckigen Fenstersitz sinken. Seine Beine streckte er über die Fläche aus und musste sie anwinkeln, damit ihre volle Länge hinpasste. Es war schon witzig. Oft fühlte er sich kleiner, als er eigentlich war. Seinen Kopf lehnte er an das kühle Glas der abgerundeten Fensterscheibe und seine Augen waren auf die verschneite Umgebung unter ihm gerichtet. Es war keine sehr belebte Gegend, in der sie wohnten, doch es fühlte sich so an, als wäre die dunkle Straße in den letzten Tagen noch einsamer und trister geworden. Nichtmal die streunenden Katzen, die für gewöhnlich hierherkrochen, um nach einem sicheren Ort zum schlafen und einer festen Mahlzeit zu suchen und die er jeden Abend heimlich mit Überresten ihres eigenes Essens versorgte, hatten heute den Weg durch die Schneemassen hierhergefunden. Das einzige Zeichen, dass es hier überhaupt noch lebendige Gestalten gab, waren die unscharfen Fußabdrücke, die sich durch den Schnee bahnten. Sie stammten von Togas und seiner Einkaufspatrollie. Eigentlich hatte man es ihm verboten mit seinem geschwollenen Knie durch den Schnee und über die zugefrorenen Wege zu laufen, doch er hatte es schlichtweg nicht ausgehalten Minute für Minute, Stunde für Stunde die selben vier Wände anzustarren. Er brauchte frische Luft und einen halbwegs klaren Verstand, um weiter rational denken zu können, statt sich vollständig von seinen Gefühlen übermahnen zu lassen. Eine einzelne Schneeflocke landete vor ihm auf dem Fenster und verharrte standhaft in ihrer Postion. Sie wirkte einsam auf der großen Glasscheibe. Verloren. Er fühlte sich genauso, wie diese Schneeflocke.

Er wusste nichtmehr, wie lange er auf diesem Platz gesessen und nach draußen ins endlose Nichts gestarrt hatte, als ein leises Klopfen in seinen Verstand drang. Als er nicht antwortete, ertönte ein weiteres Klopfen, danach noch eines und noch eines, bis er sich schließlich zu einem kratzigen "Herein" quälte. Er drehte seinen Kopf nicht von der Scheibe weg, als er hörte, wie die Person die Tür öffnete und danach in das Zimmer eintrat. Mit einem "Klick" schaltet sich das Licht ein und er kniff überrascht die Augen zusammen. Ihm war gar nicht aufgefallen, wie dunkel es in dem Raum war. "Ich dachte mir schon, dass du hier bist.", erkannte er Togas Stimme in der Stille, die ihn umgab. Er murrte, doch drehte seinen Kopf nicht weg. "Wieso bist du hier?" Seine eigene Stimme klang wie ein weit entferntes Flüstern in seinen Ohren. Er hatte keine Lust auf ein Gespräch. Er wollte allein sein und sich nicht dauernd rechtfertigen müssen. Andererseits wollte er das Mädchen auch nicht einfach herausscheuchen. Sie kam mit guten Absichten und sie dauernd nur vor den Kopf zu stoßen, wäre nicht fair. Er hörte ihr leises Seufzen im Hintergrund, bevor sie die Tür leise hinter sich zuzog und dann langsam zu ihm lief. "Aus dem selben Grund, wie du.", beantwortete sie seine Frage und kam direkt neben ihm zum stehen. "Und der wäre?" Er konnte sich nicht entsinnen, dass Toga die gleichen Sorgen und Probleme wie er hatte. Nicht, wenn sie sich so sorglos und glücklich verhielt. Rascheln ertönte neben ihm und er schielte beiläufig zur Seite. Die blondine hatte es sich zwischen seinen angewinkelten Beinen auf der Fensterbank gemütlich gemacht und atmete einmal wohlig auf, als sie sich in die weichen Kissen kuschelte. Auch ihr Blick war nun auf die abgerundete Fensterscheibe gerichtet und in der Reflektion konnte er erkennen, wie ihre Augen den vom Himmel fallenden Schneeflocken hinterherjagten. "Um nicht allein zu sein." Ihre Worten waren nun leiser und bedachter, als zuvor. Es war fast so, als hätte sie Angst die Stille zwischen ihnen zu durchbrechen. Bei ihrer Antwort rümpfte er nur die Nase und zog skeptisch die Braue nach oben. "Ich war allein. Zumindest vor ein paar Minuten noch." Sie sagte nichts weiter zu seiner Aussage. Musste sie auch gar nicht. Sie wussten beide, dass es nicht der Wahrheit entsprach.

Erneut breitete sich eine eigentümliche Stille zwischen ihnen aus. Diese hier war jedoch sehr viel weniger unangenehm und spannungsgeladen, als zuvor. Vielleicht war es ja wirklich besser zusammen zu schweigen, als allein? Er würde es zwar niemals so offen heraus sagen, dafür war sein Stolz einfach viel zu groß, doch er war dankbar über ihre Gesellschaft. "Oh, das hätte ich fast vergessen. Ich habe dir etwas mitgebracht." Das war die einzige Vorwarnung, die er bekam, bevor ihn etwas mitten ins Gesicht traf. Es war weich und fühlte sich, wie Stoff an. Er blinzelte perplex, bevor er murrend zu seinem Schoß blickte, wo das Objekt gelandet war. Rote Wolle stach ihm sofort ins Auge und zum ersten Mal in dieser Situation blickte er zu dem Mädchen neben ihm. Bei der deutlichen Verwirrung in seinem Blick, zuckte sie nur gleichgültig mit den Achseln. "Es lag so einsam auf deinem Bett herum. Ich dachte, vielleicht möchtest du es fertig machen?" Demonstrativ nickte sie zu dem roten Bündel in seinem Schoß und sein eigener Blick folgte ihr. Es war noch nicht fertig, genau wie sie gesagt hatte. Eigentlich hatte er nicht die Absicht gehabt es in nächster Zeit zu beenden. Wenn er ehrlich war, dann hatte er gar nichtmehr richtig daran gedacht. Jetzt jedoch, wo nichts so lief, wie er es geplant hatte, könnte er sich auch damit beschäftigen. Vielleicht könnte er seine Sorgen und aufgewühlten Emotionen damit für eine kurze Zeit in den Hintergund verbannen...
Mit geübten Händen schnappte er sich die zwei filigranen Nadeln und stach damit in das unfertige Bündel Wolle. Faden für Faden vereinte er miteinander. Die gesamte Zeit über unter den wachsamen Augen Togas. Sie wirkte gebannt, geradezu fasziniert von seiner Arbeit und das Leuchten in ihren goldenen Augen erinnerte ihn an eine andere Person, die ihn jedesmal mit dem gleichen Strahlen ansah.

"Ist es für ihn?" Die Worte ließen ihn abrupt inne halten und seine Hände, welche die Stricknadeln festhielten, zuckten gefährlich. "Tut mir Leid. Das hätte ich nicht fragen sollen.", murmelte sie schuldbewusst. Er brauchte einen Momemt, um sich wieder zu fangen, bevor er mit dem Kopf schüttelte. "Nein, ist schon in Ordnung. Und ja, es ist für ihn.", antwortete er leise und begann nach einem weiteren Augenblick wieder seinem Handwerk nachzugehen. Sein Vater hatte dieses Hobby nie gemocht. Er sagte, stricken und nähen sei für Weiber gedacht und nicht für echte Männer. Dennoch hatte er es immer wieder heimlich getan. Die freudigen Blicke seiner Geschwister, wenn er ihnen selbstgemachte Geschenke überreichte, waren die gemeinen Bemerkungen seines Vaters alle Mal wert gewesen. Er konnte nicht genau sagen, wieso, doch er mochte es einfach zu stricken. Seine Mutter hatte ihm damals gezeigt, wie es ging und es entspannte ihn. Es löste eine innere Ruhe in ihm aus, die er selten mit etwas anderem vergleichen konnte. "Hast du wieder angerufen?" Diesmal fing er sich schneller und sorgte dafür, dass seine Züge nicht zu sehr entglitten. "Ja." Jeden einzelnen Tag hatte er in dem Krankenhaus angerufen und hatte sich sogar einmal heimlich herausgeschlichen, um persönlich nachzufragen. Jedes Mal wurde er jedoch höflich abgewimmelt und bekam nur die selben Worte zu hören, dass er sich gedulden müsse und man ihm jetzt noch keine genaue Auskunft geben könnte. Es war ernüchternd. Mehr als ernüchternd. "Toya?" Das sanfte Wort ließ ihn beiläufig aufsehen. Er war es nicht gewöhnt, dass das Mädchen ihn so nannte. Normalerweise tat dies niemand außer...
Sanft legte sie ihm eine Hand auf die Schulter. Zuerst wollte er diese abschütteln, doch tat es nicht und sah nur stumm dabei zu, wie Togas Lippen sich zu einem zuversichtlichen Lächeln verzogen. Ehrlicher, als er es von ihr kannte.

"Keine Sorge. Es wird alles gut gehen. Du wirst schon sehen."

Ich glaube, ich habe noch nie soviele Metaphern und wagen Andeutungen in eines meiner Kapitel eingebaut! Das waren echt viele...

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top