4. Kapitel
Ich fühle mich halb bewusstlos, als hätte all meine Kraft mich mit einem Schlag verlassen. Matt sinke ich an der Wand hinab. Es musste so kommen. Es war abzusehen. Gleichzeitig bricht meine ganze Welt zusammen. Wir sind seit der 10. Klasse zusammen. Ich korrigiere: wir waren.
Der erste richtige Freund, das erste Mal, der erste Urlaub ohne Eltern. So viele erste Male. Sie wurden gerade bedeutungslos. Ich sitze an der Wand, habe den Kopf gegen sie gelehnt und meine Beine angezogen.
Ich habe nicht nur ein Problem, ich habe duzende. Ich arbeite in dem Laden seiner Eltern. Seine Freunde sind meine Freunde. Ich bin jetzt obdachlos, die Wohnung läuft auf ihn. Also habe ich keine Arbeit, keine Freunde und kein Zuhause mehr.
"Komm mal mit," ein blondes Mädchen streckt mir ihre Hand entgegen und lächelt mir aufmunternd zu. Ich greife ihre Hand und lasse mich von ihr zu den Waschräumen ziehen. "Halt still," sie tupft mein Gesicht mit einem feuchten Tuch ab und trägt eine Schicht von ihrem Concealer auf.
Ich verharre reglos und starre auf meine Fingernägel. Oh kriege kaum mit, was sie macht und habe überhaupt keine Kraft in mich zu widersetzen. Wie konnte dieser Abend nur so aus dem Ruder laufen?
"Geht es dir schon etwas besser?" Fragt sie mich nach einer Weile und streicht mir mitfühlend über den Arm. Ich nicke nur, der Kloß in meinem Hals wird immer größer, fast übermächtig und ich kann nichts dagegen tun.
"Ich bin Nicole, du kannst mich Nici nennen." Ich versuche mich an einem Lächeln, doch ihrem Blick nach zu deuten, scheitere ich kläglich. "Vila," krächze ich und sobald ich den Mund öffne, kann ich die Tränen wieder nicht mehr zurück halten.
Sie tupft meine Tränen weg und ich senke den Blick. Ich will hier einfach nur weg.
Als wir die Waschräume verlassen, ist draußen alles leise und leer. Es ist niemand zu sehen. "Halloo?" Nicole schaut sich um, dann lächelt sie mich an. "Meinst du sie haben uns hier drin vergessen?" Wir müssen viel länger in Bad gewesen sein, als es mir vorgekommen ist.
"Was machen sie denn noch hier drin? Raus!" Ein Security Mann kommt auf uns zu und dirigiert uns zum Ausgang. Draußen ist immer noch eine große Menge versammelt und wir steuern genau auf sie zu.
Die Tür wird hinter uns geschlossen und dieses Mal hat es überhaupt keine beruhigende Wirkung. Ich halte den Blick gesenkt, schaue auf mein Handy und schalte das Internet wieder an.
Erneut hängt mein Bildschirm und reagiert nicht auf meine Finger. Da es November ist und meine Jacke mit den Taschen im Schließfach war, ist mir jetzt ziemlich kalt. Ich versuche durch die Menge zu kommen und ignoriere es, wenn irgendwer mich anspricht oder festhält.
Endlich ploppen Instagram Nachrichten und Whatsapp Chats auf meinem Bildschirm auf. Doch meine Erleichterung verwandelt sich schnell in Panik. Ich habe über 2k neue Follower, diverse Nachrichten von Leuten, die ich noch nie gesehen habe und über dreihundert Beiträge auf denen ich markiert bin.
"Waas.." Verwirrt lade ich mein Profil immer wieder und erwarte meine normale Followeranzahl von 250 zu sehen und nicht diese irre 2,25k. Das ist verrückt.
Ich lasse die anderen hinter mir und laufe durch einen dunklen Park. Dabei überhole ich ein paar kleine Gruppen, gehe an zwei Polizeiwagen vorbei und lande dann an einer Straßenbahn Haltestelle.
Wenn mich irgendwer kontrolliert, bin ich am Arsch. Kein Ticket, kein Geld, kein Perso oder sonst was. Die Anzeigetafel verrät mir, dass die nächste Straßenbahn zum Hauptbahnhof in dreizehn Minuten kommt. Das Konzert hat um 19 Uhr angefangen und inzwischen ist es kurz nach 12. Dabei hat er nur bis 10 Uhr gesungen.
Als die Bahn anfährt, klingelt mein Handy. Unbekannte Nummer. Ich hoffe, wenigstens dieses Mal ist es Nina. Ich gehe ran. "Hallo?"
"Vila?" Eine männliche Stimme. Es ist nicht Nina. Es ist glücklicherweise auch nicht Mark. Es ist Wincent. "Hey," antworte ich kurzangebunden, während ich mich frage, wieso er mich anruft.
"Es tut mir leid." Es folgt Stille. Er klingt traurig und betroffen, so mitfühlend, dass ich kurz in mich zusammen sinke. "Wofür entschuldigst du dich?"
"Ich habe das Telefonat vorhin mitgehört. Ich habe dein Instagram gecheckt und den ein oder anderen Artikel gelesen. Ich wollte das nicht." Er räuspert sich zwischendurch, seine Stimme klingt leicht brüchig und ich kann ihn fast vor mir sitzen sehen, mit hängenden Kopf und schuldbewusstem Blick.
Die Straßenbahn hält und ich steige ganz hinten ein. "Bist du auf dem Weg nach Hause?" Fragt er und ich nicke, bis mir auffällt, dass er das nicht sieht. "Bin ich."
"Kannst du nochmal herkommen?"
Schwups. Innerhalb einer Sekunde bin ich aufgesprungen und hechte aus der Bahn. "Ich denke, das ist möglich." Auf meinen Lippen formt sich ein halbes Lächeln. Komisch. Wie kann es sein, dass ein Fremder mit einem Satz dafür sorgen kann, dass es mir besser geht?
"Ich warte unten auf dich. Hier sind jetzt alle weg." "Okay, bis gleich." Ich lege auf und bin froh, dass ich den Heimweg noch nicht antreten muss.
Wahrscheinlich ist das eine schlechte Idee, eine richtig schlechte, aber ich würde gerade eigentlich alles tun, damit es mir ein bisschen besser geht. Marks Worte laufen in Dauerschleife in meinen Kopf ab, jedes Mal sind sie lauter, dröhnen durch meinen Körper und erschüttern jegliches bisschen Selbstbewusstsein, dass mir bis hierhin noch geblieben ist.
Das Schlimmste ist, dass er zwar maßlos übertrieben hat, aber grundlegend Recht hat. Ich war mit Wincent zusammen in einem Zimmer, habe mich mit ihm unterhalten und für Mark ist das schon Betrug.
Meine Schritte verlangsamen sich, im Park kommt mir niemand mehr entgegen. Ich schaue mich um, sehe keine Menschenseele und höre nichts bis auf das Rauschen der Bäume im Wind. Ich bleibe stehen, starre zweifelnd auf mein Handy und überlege.
Ich sollte nicht. Wirklich nicht. Aber trotzdem bewegen sich meine Füße weiter, immer weiter. Die Halle kommt in Sicht und er hatte Recht, es ist niemand mehr zu sehen. Meine Füße marschieren weiter, obwohl sie es nicht sollten. Bin ich dann nicht genau das, was Mark gesagt hat?
Aber deshalb gehe ich da nicht hin. Ich gehe hin, weil ich mich mit ihm wohl fühle und so verrückt das auch klingen mag. Ich habe ihn vor wenigen Stunden das erste Mal gesehen, aber ich fühle mich ihm gerade näher als allen anderen Menschen in meinem Leben. Vielleicht liegt es an seiner Musik oder einfach an seiner Persönlichkeit. Man muss ihn mögen.
Ich nähere mich, immer noch zögerlich der Halle, doch als er heraus tritt und mich anlächelt, sind alle Zweifel vergessen. Am liebsten würde ich mich in seine Arme schmeißen und heulen wie ein dreijähriges Kleinkind, aber ich reiße mich zusammen, bewahre Haltung und richte mich auf.
Er registriert jede meiner Bewegungen, sein Blick ist fokussiert. Auf mich. Und es fühlt sich unglaublich an. Wenn ich nicht selbst seine Wirkung spüren könnte, würde ich niemandem glauben, dass ein Mensch überhaupt so für einen anderen empfinden kann. Es ist so unrealistisch. Und doch wieder nicht. _________
Hoffe, das Kapitel hat euch gefallen💕
Was schaut ihr gerade bei Netflix? Kennt ihr schon The Ranch oder Virgin River?
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