17. Kapitel

Das Konzert war der Wahnsinn. Die Stimmung ist jedes Mal aufs Neue so aufgeladen, dass man nicht anders kann, als sich berauscht zu fühlen. Es ist immer wie das erste Mal und der Gedanke, dass sich das nie ändert löst gleichzeitig Angst und Euphorie in mir aus.

"Ich werde mich nie daran gewöhnen."Caro hat gerade Pause und steht neben mir im abgesperrten Bereich.
"Ich auch nicht", stimme ich ihr zu. "Die Freundin mit der ich bei seinem ersten Konzert war, hat fast die ganze Zeit durchgeheult."

Caro nickt. "Ja, man kann sich schnell in seinen Liedern verlieren."
Dazu sage ich nichts weiter, weil sie weiß, wie ich dazu stehe. Wie jedes der anwesenden Mädchen hier dazu steht.

"Es sind nur noch zwei letzte Lieder." Sie seufzt und checkt ihr Handy, ob sie irgendwo gebraucht wird. Die Crew kommuniziert oft über das Handy und selten über die Walkie-Talkies. Gestern haben Wincent und ich uns über dieses Wort lustig gemacht. Walkie-Talkie. Wie kann man ein technisches Gerät mit so einer Verniedlichung bezeichnen?

Ed spielt sein Solo und Wincents Blick wandert durch das Publikum. Es sieht jedenfalls danach aus, aber in Wahrheit sieht er wegen dem hellen Scheinwerfer Licht so gut wie nichts. Überall gehen Hände in die Luft. Als würde sein Blick eine La-Ola-Welle erzeugen. Ich beruhige meinen Atem und gehe zurück in den Raum unter der Bühne. Mein Herz donnert noch immer zum Rhythmus seiner Stimme, die in mir nachhallt.

Es ist erst kurz vor neun und ich beschließe kurzerhand meine Mutter anzurufen. Es dauert etwas bis sie ran geht. Sie gehört nicht zu den Menschen, die ihr Handy ununterbrochen bei sich tragen. Noch nicht jedenfalls.

"Hey Spatz, wie gehts dir?", begrüßt sie mich. Ich höre das Rascheln von Buchseiten und sehe förmlich vor mir, wie sie auf ihrem rot gemusterten Sessel sitzt und das Buch zur Seite legt.

"Gut und dir? Was liest du gerade?"

"Mir gehts prima. Ich habe nach der Arbeit mit einem neuen Buch begonnen und es ist richtig toll. Die Autorin hat einen super schönen Stil und die weibliche Protagonistin ähnelt dir in ihren Wesenszügen." Ich höre an ihrer Stimme, dass sie lächelt.

"Wie heißt das Buch? Jetzt muss ich es ja wohl lesen, oder?" Ich lache leise und stelle sie auf Lautsprecher um den Titel gleich bei Amazon einzugeben.

"Scheint so."
Sie gluckst leise und wieder raschelt es. "Save me von Mona Kasten", liest sie vor und ich tippe den Titel und die Autorin in die Suchleiste.
"Wow, das Cover ist ja bildschön", schwärme ich.
"Ja, du wirst schon sehen. Ich bin mir sicher, dass es dir gefällt."

"Ich bin gespannt." Schnell überfliege ich den Klappentext zu der Geschichte von Ruby und James.

"Und Vila? Hat es einen Grund, dass du mich so spät abends anrufst, obwohl das Konzert noch läuft?"

Mist. Erwischt. "Was hast du gesagt?" Ich räuspere mich, um noch mehr Zeit zu schinden.
"Du hast mich schon verstanden", erwidert sie und ich lache leise. "Na gut", lenke ich widerwillig ein.

"Ich brauchte eine Pause von... der Atmosphäre. Von Allem." Das Blut rauscht durch meinen Körper. Eine Mischung aus den Cocktails vorhin und dem wummernden Bass, bringt mich dazu mich auf den Lounge Möbel auszustrecken.

"Aber sonst bist du gerne mit den Anderen zusammen?", fragt sie nach und ich nicke.
"Ja, definitiv."

"Dann ist das immer noch ein riesen großer Fortschritt. Das du ab und zu Zeit für dich brauchst wird niemanden überraschen. Nimm sie dir dann einfach und geh wieder zu den Anderen, wenn dir nach ihrer Gesellschaft ist."

Ist es normal, dass die eigene Mutter immer weiß, was richtig ist? Auch wenn sie gar nicht alle Einzelheiten kennt? Ich finde es fast schon ein bisschen beunruhigend. Aber der größere Teil in mir ist mehr als froh über ihre Worte.

"Danke, Mama."

"Und du weißt ja, dass du immer zurück nach Hause kommen kannst. Meine Tür wird dir immer offen stehe." Ich habe diesen Satz schon so oft von ihr gehört und trotzdem ist er nicht selbstverständlich geworden. Denn er ist nicht selbstverständlich. Ich habe von Freunden und Bekannten schon ganz andere Geschichten über ihre Eltern gehört.

"Ich weiß, Mama." Lächeln lege ich den Kopf in die Kissen. "Und jetzt störe ich dich nicht weiter. Verrat mir bloß nichts über Ruby und James", ermahne ich sie, weil ihre Kommentare nicht immer spoilerfrei sind.
Sie lacht leise. "Schlaf später gut, Spatz."

"Du auch", verabschiede ich mich und lege auf. Ich lasse mein Handy auf die Couch fallen und schließe für einen Moment die Augen. Ich merke, dass ich erschöpft bin und dass nicht nur die langen Nächte und aufregenden Tage daran schuld sind. Und trotzdem fühle ich mich gut. Obwohl ich immer noch keinen richtigen Job, keine Wohnung, keinen Freund und auch keine beste Freundin namens Nina habe.

Aber ich bin nicht einsam. Ich glaube einfach, dass ich zu oft Wert auf die falschen Dinge gelegt habe. Ich wollte dem Ideal entsprechen. Am besten den Master Abschluss mit 23 in der Tasche haben, beruflich erfolgreich, den langjährigen Freund heiraten. Ich habe all das für meinen Traum gehalten und merke jetzt erst, dass er es nie war.

Bei dieser Reise, bei diesem Abenteuer geht es um mich. Um mein Selbstwertgefühl. Um mein Leben. Um die Entwicklung eines Traumes der wirklich mein eigener ist.

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