28 ♪ House of cards

Ohne Ziel läufst du durch die Straßen

Durch die Nacht, kannst wieder mal nicht schlafen

Du stellst dir vor, dass jemand an dich denkt

Es fühlt sich an als wärst du ganz alleine

Auf deinem Weg liegen riesengroße Steine

Und du weißt nicht, wohin du rennst

[ Adel Tawil ]



MARA ║ Bei Niall zu sein machte mich wütend. Nicht, weil ich ihn hasste, sondern weil ich mich noch verletzlicher fühlte als sowieso schon und gleichzeitig auch nicht. Sein Haus lag so Abseits und er war seit Wochen unentdeckt. Dies gab mir Hoffnung.

Allerdings glaubte ich zu früh daran, dass ich mich sofort sicher fühlte.

Die erste Nacht in Nialls Haus wurde grausam. Ständig hörte ich in dem alten Haus ein Geräusch, das ich nicht kannte. Äste kratzten über das Dach und an der Fensterscheibe, und der Wind heulte ums Haus. Alles in einem war ich gefangen in einem Horrorfilm.

Ich bekam keine Ruhe, hatte nur einen Sekundenschlaf und war völlig fertig, als ich am Morgen wach wurde. Hier war niemand, nur Niall und ich. Sollte der Stalker mich doch irgendwie finden, dann würde man es nicht bemerken.

Es gab keinen Paul, der alles im Blick hatte. Und so, wie Niall aussah, glaubte ich nicht, dass er besonders widerstandsfähig war. Um halb sieben hörte ich Nialls Schritte über den Flur und im ersten Moment setzte mein Herz aus. Ich brauchte einige Sekunden, um ihn zu erkennen. Leise wurden Türen geschlossen und dann waren seine Geräusche wieder verschwunden.

Ich setzte mich aufrecht hin und schlurfte ins Bad. Wäre ich nicht so fertig, dann würde mir sicher auffallen, wie schön das Haus war, das Niall sich gekauft hatte. Altmodisch, aber auf dem besten Weg heimisch zu werden.

Die Bude war kalt und als ich angezogen und gewaschen ins Erdgeschoss ging, da war auch alles dunkel. Niall war weit und breit nicht zu sehen und ich machte mich in der Küche zu schaffen. Er hatte recht, ich konnte nicht besonders gut kochen, aber es erinnerte mich an Alex und Mattheo.

Beide hatten die Küche in der WG erobert und wenn wir alle zusammen am runden Tisch in der Küche saßen, redeten, einfach nur gemeinsam aßen, dann hatte es sich immer ein kleines Bisschen wie Familie angefühlt.

Die Kaffeemaschine zischte und ich wollte mich gerade an Nialls spärlichen Kühlschrank bedienen, als ein Lufthauch meinen Nacken streifte. Sofort fröstelte ich und mein Herz pumpte heftig. 

Leise bewegte ich mich aufmerksam durch die Räume, dann sah ich, dass im Wohnzimmer das große Fenster auf Kippe stand. Mit Nervosität im Rücken schloss ich es und da mir das Fenster keine Ruhe ließ, überprüfte ich jeden Raum.

Niall war wirklich nicht da und ich wusste nicht, was mich unruhiger machte, seine Abwesenheit oder diese dumme Fenster. Meinen Kaffee konnte ich nicht genießen und so saß ich fast eine halbe Stunde ängstlich und angespannt in der Küche. Beinahe zuckte ich zusammen als die Haustür ins Schloss fiel.

Ich musste mich zwingen aufzustehen, und stieß in der Tür fast mit Niall zusammen. Mir entwich ein erschrockener Laut und er taumelte zwei Schritte zurück. Er war verschwitzt, rot im Gesicht und sichtlich aus der Puste.

„Mach das nie wieder!", herrschte ich ihn an und er rieb sich über das Gesicht: „Was? Ich war nur laufen."

„Und hast dabei rein zufällig vergessen das Fenster im Wohnzimmer zu schließen?", meine Stimme war seltsam hoch. „Ich habe mir fast in die Hose gemacht!"

Niall verzog das Gesicht: „Ich lasse es jeden Morgen einmal durchlüften und dachte nicht, dass du so früh aufstehst."

„Es ist doch völlig egal, wann ich aufstehe! Du warst nicht da, hast das Fenster aufgelassen und es hätte sonst wer einsteigen können!", beschwerte ich mich. Ich wollte platzen, vor Wut über ein dummes Fenster, seine Nichtachtung und vor allem über meine furchtbare Angst.

Niall sah mich an, als hätte ich sie nicht mehr alle und ich verstand ihn sofort. Peinlich berührt ließ ich ihn stehen und verschwand nach oben in das Gästezimmer. Ich war so verdammt empfindlich geworden, dass ich es hasste.

Laut knallte ich die Tür und kroch unter die Decke. Dabei ignorierte ich meinen knurrenden Magen und schloss die Augen. Ich würde so gerne Penny anrufen, ihre Stimme hören, ihr Lachen und mit ihr über unwichtige Dinge reden. Sie würde genau das Richtige sagen.

Wie es den Anderen ging?

Ob ihnen auch die Decke auf den Kopf fiel?

Hatte auch nur einer so die Hose voll, wie ich?

Ich wünschte, ich wüsste, wie es den Jungs ging und Paul hätte uns zusammen gelassen. Dieses Drama hätten wir zusammen sicher besser durchgestanden. Mittlerweile traute ich mich nicht einmal mehr Musik zu hören, aus Angst, dass ich dann vielleicht überhörte, wenn sich der Stalker näherte.

Rationales Denken setzte bei mir aus, denn wie sollte er wissen, wo ich war? Gleichzeitig könnte ich mich aber auch fragen, wie er meinen Email-Account hatte hacken können. Müde schloss ich die Augen und lauschte weiter den Geräuschen im Haus. Irgendwann hörte ich die Dusche rauschen und dass sich mehrere Türen öffneten und schlossen.

Als es an der meinen klopfte, da zuckte ich unter der Decke zusammen. Niall wartete nicht auf meine Antwort, er kam einfach rein und Sekunden später setzte er sich auf die Bettkante.

„Willst du mit in den Ort?", fragte er und ich zögerte: „Nein."

Er schwieg einen Moment. Dann wollte er wissen: „Brauchst du etwas Bestimmtes?"

Ich räusperte mich: „Du könntest mehr einkaufen." Das war ja wohl nicht zu viel verlangt. Doch leider schien Niall andere Absichten zu haben: „Tja, bleibt dir wohl nichts anderes übrig als doch mitzukommen."

„Wieso fragst du dann überhaupt!", entwich es mir pampig, doch er ging nicht drauf ein und teilte mir mit: „Ich fahre in zwanzig Minuten mit dem Boot los. Sei bis dahin fertig."

Am liebsten wäre ich einfach geblieben, wo ich war, aber ich wusste, dass ich schlussendlich nur unruhig in meinem Zimmer geblieben wäre. Ich hätte nur darauf gewartet, dass Niall zurückkam. In dicken Boots, meinen Mantel und die Mütze tief ins Gesicht gezogen, schnappte ich mir meinen kleinen Rucksack und trat nach draußen.

Niall befand sich bereits bei seinem Boot und sah mich überrascht an, als er mich erkannte. Ich musste mich daran gewöhnen, dass er nun keine blonden Haarspitzen mehr hatte. Ein bisschen vermisste ich die Sonne in seinem Haar.

„Wieso nutzt du nicht das Auto?", fragte ich, er reichte mir die Hand, damit ich sicher ins Boot stieg. Niall erklärte: „Man ist schneller mit dem Boot, mit Auto macht man einen ziemlichen Umweg."

„Was willst du überhaupt im Ort?", ich setzte mich auf einen der Sitze, während Niall sich daran machte das Boot zu lösen. Seine Stimme hallte fast über den Wind: „Ich muss zur Kontrolle ins Krankenhaus, es kann also gute drei Stunden dauern. Du kannst also einkaufen was und soviel, wie du willst."

Brissago war eher ein Ort, an dem man sich im Sommer aufhielt, deshalb wunderte es mich nicht, dass so gut wie nichts los war. Das Boot surrte sicher über den See, wir fuhren durch leichten Nebel und ich sah die bunten Wälder des Herbstes. Die Berge wirkten nicht einschüchternd, eher majestätisch und ich atmete zum ersten Mal seit langer Zeit richtig durch.

„Und man fällt sicher nicht auf?", horchte ich, denn ich konnte mir Besseres vorstellen, als aufzufliegen. Musste ich weiterziehen, würde ich Italien oder Spanien anpeilen, vielleicht auch Bulgarien. Sicher war sicher.

„Nein und mit den kaputten Haaren glaube ich nicht, dass dich überhaupt jemand erkennt", meinte Niall. Obwohl ich es nicht wollte, musste ich ihm recht geben. Meine Haarspitzen waren äußerst schlecht blondiert und der Stich im Blond nicht besonders toll. Aber für Eitelkeit hatte ich ein anderen Mal mehr Zeit.

Die Aussicht war beruhigend, schön und ich ließ den Blick immer wieder schweifen. Dass Niall nicht erst seit Gestern diese Route fuhr, erkannte ich daran, dass er sich sehr routiniert anstellte. Eingeübt parkte er das Boot und befestigte es im Hafen. Dann half er mir auf den Steg.

„Geh die Straße nach links, dort ist die Einkaufsstraße und auch einige Lebensmittelläden", er reichte mir den Schlüssel fürs Boot. „Hier hin schleppen musst du die Sachen jedoch alleine."

„Ich habe drei Stunden?", hakte ich nach. Niall verzog das Gesicht: „Vielleicht auch ein bisschen länger."

Das war ja eine lange Kontrolle, was wollten sie da Checken, seine Nahrungsverdauung? Ohne ein weiteres Wort machte er sich auf dem Weg ins Krankenhaus. Kurz sah ich ihm nach und konnte mich nur schwer abwenden.

Sich an den neuen Klang von Nialls Stimme zu gewöhnen war noch schwerer, als an die dunklen Haare. Ich fand den Klang nicht.. schlecht oder erschreckend, viel eher interessant. Er hörte sich rauer an, ein bisschen tiefer und ich begann mich zu fragen, ob er bereits wieder am Mikro gestanden hatte.

Seine Stimme wäre nun perfekt für Rockmusik oder dramatischen verlebten Balladen. Kam eben auch ganz drauf an, wie viel Volumen er zusammenkratzen konnte.

Ich schlenderte durch die Einkaufspassage, blickte in Schaufenster und achtete immer wieder darauf, ob mir jemand folgte, oder nicht. Dabei bemerkte ich, dass Niall recht hatte. Im Spiegelbild sah ich mein abgestumpftes Haar, es sah nicht gerade toll aus, aber noch war ich nicht bereit das wieder zu ändern.

Mit dem Einkaufswagen kurvte ich durch den Supermarkt und kaufte allerhand Zeug ein, denn Nialls Vorratskammer war nur spärlich eingerichtet. Ich musste zweimal in den Laden, da ich nicht alles tragen konnte. Sicher verstaute ich alles auf dem Boot und ging denselben Weg noch einmal. 

Da ich niemanden direkt ansah, konnte ich nicht sagen, ob der Typ an der Kasse mich für bescheuert hielt. Es war mir auch egal. Niemand sprach mich während der Zeit an und ich deutete dies als gutes Zeichen.

Nach der zweiten Runde machte ich einen Abstecher zu einem Marktstand, den ich vorab gesehen hatte. Dort kaufte ich viel Obst und Gemüse. Die ganze Schlepperei machte mich nicht müde, im Gegenteil, es fühlte sich endlich so an, als würde ich endlich mal wieder etwas sinnvolles machen.

Da ich mit einem Blick auf die Uhr immer noch Zeit hatte, nahm ich die andere Seitenstraße. Man musste ab und an Bergauf und ich kam an vielen kleinen süßen Läden vorbei. In einer Bäckerei kaufte ich Plätzchen und in einem Kramladen jede Menge Schnickschnack – so viel ich nur tragen konnte. Irgendwie musste ich mich schließlich beschäftigen. Ein bisschen Basteln würde mir nicht schaden, auch wenn Penny immer die Geschicktere von uns beiden gewesen war.

Am liebsten hätte ich noch Zucker gekauft, als ich an einem altmodischen Süßigkeitenladen vorbei ging, doch ich hatte beim besten Willen keinen Platz, geschweige denn noch einen Finger frei, um die Tüte zu tragen. Vielleicht beim nächsten Mal.

Schon von weitem sah ich, dass Niall bereits am Boot war und über die vielen Einkaufstüten die Stirn runzelte. Er entdeckte mich: „Erwartest du Besuch?"

„Du hast nur trockenes Zeug, Müsli, Brot, Butter und Marmelade. Was isst du sonst so, Luft?", ich hielt ihm die Tüten hin, damit er sie entgegennahm und er tat mir den Gefallen.

„Und was ist das jetzt?"

„Kram", blieb ich vage und verzichtete darauf die vielen Lichterketten, Einmachgläser und den zusätzlichen Demokram aufzuzählen. Nachdem ich ebenfalls im Boot war, da begann das große Schweigen. 

Ich nannte es so, weil Niall und ich kein Wort mehr miteinander wechselten. Es schien überflüssig. Die gesamten zwei nächsten Tagen wirkte es ein bisschen, als würden wir uns gegenseitig bestrafen oder aus dem Weg gehen. Dabei war das eigentlich gar nicht die Absicht.

Ich räumte die leere Vorratskammer ein, füllte den Kühlschrank und verkroch mich im Gästezimmer. Da ich eh nicht schlafen konnte, bastelte ich.

Aus den Einmachgläsern machte ich Leuchtgläser, im angrenzenden Wald suchte ich Kastanien, Eicheln und alles, was man gebrauchen konnte. Diese füllte ich in einen alten Weidenkorb, den ich im Keller fand. Dort stapelte sich eine Menge Klimbim. Ich säuberte den Korb, füllte ihn mit den Sachen aus dem Wald und fusselte die Lichterkette dazwischen.

Am Ende stellte ich alles auf die große Kommode in meinem Zimmer und ließ die zahlreichen Lichter die Nacht über an. Doch sie beruhigten mich nicht, ich schlief weiterhin schlecht. Nun mischte sich noch Regen zu den nächtlichen Geräuschen.

Immer wieder sah ich auf mein Handy, klickte auf Instagram die Bilder mit meinen Freunden durch und kämpfte gegen die Versuchung einen von ihnen anzurufen. Von niemanden gab es ein Lebenszeichen. Außer von Penny.

Ich konnte zwei neue Fotos betrachten. Auf einem schnitt sie Oli die Haare und auf einem anderen kuschelte sie mit Stan. Dieser Fetzten Normalität ließ mich sentimental werden. Manchmal machte mich ihr großes Glück ein bisschen neidisch, aber dann wurde mir klar, dass sie jedes Bisschen davon verdient hatte.

Ganze drei Tage war es, als würden Niall und ich uns nicht im selben Haus aufhalten. Ich achtete darauf, wohin er sich bewegte, hörte ein paar Mal die Klingel und versuchte ihn zu ignorieren. So lange, bis ich ihn Klavierspielen hörte.

Die Musik drang bis zu mir nach oben und ich rollte mich wie eine Katze aus dem Bett. Da ich ständig fror, obwohl die Heizung lief, hatte ich zwei Pullis an und zwei paar Socken. Ich kam mir vor wie ein rolliger Pinguin.

Leise schritt ich über den Flur und setzte mich schließlich auf die Treppenstufen. Schweigend hörte ich Niall zu und erkannte, dass er "A Sky Full Of Stars" von Coldplay spielte. Er spielte toll und ohne es zu merken, entspannte ich mich merklich. Die Angst wich, ich atmete frei durch und verspürte wieder dieses warme Gefühl, dass Musik in mir auslöste.

Beinahe hatte ich vergessen, wie sich das anfühlte. Zu lange war eben jenes Gefühl eher dumpf und stumpf gewesen. Eigentlich sollte ich mich dagegen sträuben, denn es war schließlich Niall, der es auslöste.

Doch das tat ich nicht. Stattdessen war ich dankbar dafür.

Durch die Musik war es, als würde der Graben zwischen uns schrumpfen und eine Brücke gebaut werden. Ich beugte mich vor, lehnte meine Stirn gegen meine Knie und schloss die Augen.

Meinetwegen könnte Niall für immer so Klavierspielen, oder zumindest den Tag über. Es war, als hätte er mich gehört, denn er spielte tatsächlich. Nach "A Sky Full Of Stars" von Coldplay folgte Adeles "Hello", "Let Her Go" von Passenger und zahlreiche weitere Songs. 

Ich erkannte sie alle.

Niall schenkte mir Ruhe und ich sollte ihn dafür hassen, aber ich konnte das einfach nicht. 


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