32 | another beginning
Viele Geschichten beginnen mit ihrem Ende. Viele große Geschichten. Wie Titanic. Na gut, nicht unbedingt das beste Beispiel (unfassbar langweilige Lovestory; zu meiner Verteidigung, Cass hat mich quasi gezwungen, gemeinsam mit ihr diesen Film zu gucken). In gewisser Weise wird dadurch schon die Spannung auf den Ausgang der Geschichte genommen.
Aber wird es das wirklich? Ist es nicht interessant zu erfahren, wie der Held, die Hauptfigur, überhaupt in diese Situation gelangt ist? Oder in diesem Falle die Helden, denn es geht, wie nicht anders zu erwarten war, mal wieder um die Avengers. Größte-Helden-der-Welt-Kram, wie Dad sagen würde. Und so endet die Geschichte auch. Mit Dad, der mal wieder den Helden spielt und alle rettet. Ohne zu viel vorneweg zu nehmen, aber diesmal hatten die Avengers echte Schwierigkeiten, zu gewinnen. Sie haben Verluste erlitten. Ängste durchlebt. Doch am Ende... naja, werden wir ja sehen, was sie am Ende dazugewonnen haben.
In erster Linie geht es natürlich um mich. Um wen sonst? Ich bin nur ein einfaches Mädchen, dass an eine normale New Yorker High School geht, eine Handvoll gute Freunde hat, noch dazu einen Crush (oder wie sonst soll ich diesen Beziehungsstatus beschreiben?) - und dann sind da noch die nebensächlichen Dinge, wie die Tatsache, dass ich im Avengers Tower wohne; die von mir entwickelte KI; und auch noch Tony Stark, aka Iron Man, mein Vater. All das beschützt mich leider nicht vor Hausaufgaben.
Ich schwinge in meiner Hängematte hin und her und kaue an meinem Bleistift. Ab und zu schweift mein Blick aus dem Fenster. Noch drei Tage, dann ist Wochenende. Endlich. Ich könnte was mit Cass unternehmen. Die nasskalten Wintertage sind vorbei, und seit ein paar Wochen herrscht Frühlingswetter in New York City. Wir könnten im Central Park Inliner fahren gehen. Oder bei Cass rumhängen. Oder hier im Tower...
Ich puste mir eine Strähne aus dem Gesicht, als mein Blick wieder bei meinen Physik-Aufgaben landet. Genauer gesagt bei einem Lehrbuchtext über elektromagnetische Felder. Das ist alles so schwammig formuliert und liest sich wie von einem Drittklässler geschrieben. Ich brauche Experteninformationen.
»Tess, ruf Dad an«, befehle ich meiner KI.
»Wird erledigt.«
Bald darauf ertönt Dads Stimme aus den Lautsprechern über meinem Schreibtisch. »Wo brennt's denn?«
»Es geht um Quantenchromodynamik im Zusammenhang mit elektromagnetischer Wechselwirkung«, erkläre ich.
»Elementarteilchenphysik? Das ist doch kein Unterrichtsstoff für die zehnte Klasse.« Im Hintergrund erklingt ein Donnern wie aus weiter Ferne. »Küken, ist'n schlechter Zeitpunkt, ich bin gerade dabei, in einen dunklen Partykeller hinunterzugehen.«
»Verstehe«, sage ich schmunzelnd. »Der Iron Man ist mal wieder losgezogen, um irgendwelche bösen Jungs zusammenschlagen.«
»Ich helf dir mit deinen Aufgaben sobald wir Struckers Basis zerstört und das Zepter gefunden haben«, verspricht Dad. »Und danach gibt's 'ne große Party.«
»Ich kann's kaum erwarten.«
Dad legt auf und ich rolle mich aus der Hängematte. Gestern Abend sind Dad, Steve und Bruce Banner nach Europa aufgebrochen, um dort mit Thor, Clint Barton und Nat eine HYDRA-Basis aufzuspüren. Thor ist sich sicher, dort Lokis Zepter zu finden, dass nach dem Fall von SHIELD unauffindbar war. Bis jetzt.
Das Zepter ist ein großer, goldener Stab, der mit außerirdischen Schnörkeln versehen ist. Am oberen Ende befindet sich ein blauleuchtender Stein. Dieser hat natürlich abgefahrene Fähigkeiten. Er kann beispielsweise unschuldige Menschen in willenlose Marionetten verwandeln, und diese dann zwingen, sich von einem Dach zu stürzen. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass das wirklich nicht empfehlenswert ist.
Einige Zeit später bemerke ich einen Jet, der gefährlich nah an den Tower heranfliegt, ihn umrundet, und dann aus meinem Blickfeld verschwindet. Dieser Flugstil kann nur zu einer bestimmten Person gehören, und das bedeutet nur eins: Die Avengers sind zurück.
Das Physikbuch achtlos auf mein ungemachtes Bett werfend flitze ich aus meinem Zimmer und fahre mit dem Fahrstuhl hoch zur Laborebene, da ich dort die versammelte Mannschaft vermute. Schon von weitem leuchtet mir ein nur allzu bekanntes Gerät entgegen. Das Zepter. Vor drei Jahren hat Loki mich mithilfe dieses blauen Steins einem Gedankenbann unterworfen. Das trage ich ihm immer noch nach, auch wenn er tot ist. Als ich die paar Treppenstufen zu Dads Labor hochlaufe, komme ich an Thor vorbei, der an der Fensterfront steht und in die Abendsonne Manhattans hinausstarrt.
»Das Zepter ist außerirdisch. Es gibt Elemente, die ich nicht bestimmen kann«, ertönt Jarvis' Stimme, als sich die Glastür vor mir öffnet.
»Aber andere kennst du.« Dad werkelt zunächst an einer Art Tablet herum, dann geht er zu einem nahen Tisch und gießt eine grüne Flüssigkeit in mehrere Becher.
»Der Edelstein selbst scheint ein Schutzgehäuse zu sein für etwas, das sich darin befindet. Etwas sehr Leistungsstarkes.«
»Wie ein Reaktor?«
»Wie ein Computer. Ich glaube ich bin auf einen Code gestoßen.«
»Interessant«, bemerke ich.
Dad dreht sich zu mir um. »Wir kriegen heute aber 'ne Menge Besuch«, sagt er.
Ich betrachte das Zepter näher. Der Schimmer, den es abgibt, wirkt tatsächlich sehr außerirdisch. In etwa so wie der Tesserakt. »Und? Was war noch im Partykeller?«
»Ach, nichts eigentlich.« Dad kratzt sich am Kopf. »Nur Lokis Zepter.« Er hält mir einen der Becher hin.
»Nie. Im. Leben«, sage ich angeekelt. »Du weißt, dass ich grüne Smoothies hasse.« Stattdessen schnappe ich mir die Schale mit den Nüssen und schlendere zur Glasplatte im Boden, durch die man die Iron Legion beobachten kann. Gerade werden die Roboter wieder aufgepäppelt, damit sie für ihren nächsten Einsatz bereit sind. Ich runzele die Stirn. »Die sehen diesmal übel zugerichtet aus.«
»Weißt du, wer noch übel zugerichtet aussieht?«, fragt Dad und deutet in die kleine Kabine, in der Barton sich auf einer Liege von einer Frau in einem weißen Kittel behandeln lädst.
»Herrjemine, ich hoffe es sah wenigstens episch aus. Eine Granate oder so etwas in der Art.« Ich folge ihm in die Kabine, wo er das Tablett mit den Drinks abstellt.
»Oje, er stirbt. Zeugen, Uhrzeit?«
»Nein, ich werde ewig leben«, lacht Clint. Eine Maschine fährt um ihn herum und sendet Strahlen auf seine Wunde aus. »Ich bestehe bald nur noch aus Plastik.«
»Sie bestehen aus sich selbst, Mr. Barton. Nicht mal ihre Freundin bemerkt den Unterschied.« Doctor Helen Cho habe ich persönlich noch nie getroffen, allerdings habe ich einiges über sie gelesen. In ihrem Labor in Seoul hat sie spezielle Maschinen, die echtes künstliches Gewebe erzeugen können.
»Ich hab gar keine Freundin«, meint Clint und schlürft an dem grünen Drink, den Dad ihm in die Hand gedrückt hat.
»Das kann ich nicht reparieren«, sagt Doctor Cho. »Das ist der nächste Schritt, Tony. Ihre klobigen Metallanzüge sind bald Vergangenheit.«
Dad beobachtet die Maschine. »Ganz genau das ist der Plan. Und, Helen, ich hoffe Sie kommen am Samstag auf die Party.«
»Ich habe nicht so viel Zeit für Partys wie Sie.« Sie hält kurz inne. »Wird Thor auch da sein?«
»Das ist also die Siegesparty, von der du gesprochen hast?«, mische ich mich ein. »Klasse. Darf ich Leute einladen?«
»Äh Küken, das ist die Siegesparty der Avengers. Keine Kids erlaubt. Du bist eine Ausnahme, weil du hier wohnst.«
Bevor ich mich weiter beschweren kann, verschwindet Dad mit Banner aus der Kabine, und lässt mich mit Nat, Clint und Doctor Cho zurück. Ich setze mich auf einen drehbaren Rollstuhl. Die Nüsse stelle ich auf einem Schrank ab. »Okay Leute, erzählt mal. Was habt ihr in Europa getrieben?«
Nat trinkt einen letzten Schluck aus dem Becher und stellt ihn dann zurück auf das Tablett. »Na was wohl, wir haben HYDRA fertig gemacht.«
»Und sie uns«, gibt Clint seinen Senf dazu.
»Clint wurde von einem Talent angegriffen«, erläutert Natasha.
»Es gibt noch ein Talent?« Wie? Hat Strucker Experimente durchgeführt, so wie die an den Jugendlichen in der HYDRA-Basis bei Gettysburg damals?
»Zwei Talente, um genau zu sein. Sie müssten etwa in deinem Alter sein. Er ist schnell-«
»Verdammt schnell«, murmelt Barton.
»-und sie kontrolliert Gedanken oder so etwas in der Art. Muss wohl mit dem Zepter zu tun haben.«
Natürlich. Cass und Matt haben ihre Kräfte durch den Tesserakt erhalten. Und die beiden neuen Talente durch das Zepter. Banner hat damals schon vermutet, dass HYDRA weitere Experimente in Europa durchführt, aber jetzt haben wir den Beweis dafür. »Wo sind sie jetzt?«, frage ich.
Clint schnaubt auf. »Wenn wir das wüssten.«
»Nicht bewegen, Mr. Barton«, warnt ihn Doctor Cho. »Die Geweberegeneration ist noch nicht vollständig abgeschlossen.«
Noch mehr Jugendliche mit Fähigkeiten also. Davon muss ich Cass erzählen.
♦
In der Schule hat sich nicht viel geändert. Geschichte ist genauso stumpf und öde wie eh und je, und dank Französisch beträgt mein GPA momentan nur 3.8. Cass versteht nicht, wie ich mich darüber beschweren kann. Ich weiß noch wie Dad mir damals gesagt hat, ich sollte mir Freunde in der Schule suchen, von denen ich notfalls Hausaufgaben abschreiben kann, aber wie's aussieht bin ich wohl diejenige, die ihre Aufgaben freigeben muss.
Es ist Frühstückspause, und Cass hockt neben mir auf unserer Mauer und schreibt die Mathehausaufgaben von mir ab. Gerade habe ich ihr von meinen gestrigen Erkenntnissen erzählt.
»Also gibt es doch mehr durchgedrehte Teens als uns momentane drei?«, fragt sie ohne aufzublicken.
»Bestimmt noch viel mehr. Um genau zu sein haben die Avengers nur zwei gesehen. Und einer von ihnen hat ein Stück Hawkeye mitgehen lassen.«
»Krass. Hey, hast du in letzter Zeit eigentlich was von Matt gehört?«
»Wir schreiben. Ab und zu.« Aber wirklich nur ab und zu. Meistens nur das Übliche ›Hey wie geht's dir, da wo du bist, denn du darfst mir ja nicht sagen, wo genau du bist‹ und so neutral wie mögliche Emojis. Nach den Strapazen mit seinen unkontrollierbaren Kräften hat er endlich Banners Ratschlag angenommen, sich professionelle Hilfe zu suchen. Tja, ich hab ihn dabei zwar unterstützt, aber dass er innerhalb weniger Monate dann direkt zu einem Rund-Um-Training muss, stand nicht auf meinem Plan. »Er hat viel mit seiner Ausbildung zu tun«, sage ich nur.
»Ah ja.« Cass klingt wenig überzeugt.
»Wie kommt's eigentlich, dass du nicht zu diesem Spezial-Kurs eingeladen wurdest?«
Sie zuckt mit den Schultern, klappt ihren Hefter zu und gibt mir mein Blatt zurück. »Ich wollte nicht. Ich will einfach nur ganz normal meinen Schulabschluss machen. Und nebenbei als Hobby Metalle zum Schmelzen bringen, im Winter Kanonenkugeln aus Schneebällen machen und den East River in eine einzige, große Fischsuppe verwandeln.«
Diesmal bin ich diejenige, die skeptisch eine Augenbraue hochzieht. »Du kannst doch nichtmal 'ne Tasse Tee aufwärmen«, stichele ich.
»Ich könnte dich in deinem tollen Iron Man Anzug schmoren lassen«, gibt Cass zurück.
»Okay, das geht zu weit, ich lass dich nie wieder die Hausaufgaben abschreiben.« Dramatisch mir meinen Rucksack über die Schulter werfend stehe ich auf.
»Spätestens morgen, wette ich.« Es klingelt zum Ende der Pause. Cass sieht auf ihre Armbanduhr. »Komm jetzt, sonst sind wir zu spät dran für Chemie.«
Freitagnachmittag ist wie üblich das Academic Decathlon Training. Bree ist immer noch Diskussionsleiterin und Mr. Harrington sitzt wie üblich auf seinem Stuhl und liest merkwürdige Ratgeber. Diesmal bin ich nicht dran mit Fragen beantworten, also liege ich mit Kate und Sienna auf dem Boden und mache Hausaufgaben. In letzter Zeit gibt Mrs. Warren uns tonnenweise davon. Heute sind Fragen im Bereich der Naturwissenschaften dran. Ich höre mit halbem Ohr zu.
»Wie bezeichnet man die Kombination einfacherer Moleküle zur Herstellung komplexerer Moleküle durch eine chemische Reaktion?«, liest Bree vor.
Sebastian schlägt als erster auf die Klingel. »Anabolismus.«
»Korrekt. Wie nennt man eine organische Verbindung, die in vielen Industriezweigen als Lösungsmittel verwendet wird und ein krebserregendes Mittel ist?«
So ungefähr laufen die Treffen hier ab. Eine eigentlich ganz gemütliche Nachmittagsbeschäftigung. Sienna, die neben mir auf dem Boden sitzt, liest die Fragen mit.
»Hast du schon Aufgabe vier?«, flüstert mir Katherine zu. Sie ist ebenfalls in meinem Physik-Kurs und muss Mrs. Warrens Berg an Aufgaben ertragen.
»Energieerhaltungssatz«, flüstere ich zurück. »Kannst es auch über die Rotationsgeschwindigkeit machen, aber so ist es am einfachsten.«
Sie macht große Augen, nickt, und streicht in ihren Notizen herum.
Ich hebe kurz meinen Blick zu den vier Leuten auf der Bühne. Sebastian, Sun, Theo und Winston. Zwischen Winston und mir ist mittlerweile alles geklärt. Zum Glück. Mit der Aktion beim letzten Homecoming-Ball habe ich mich nicht wirklich beliebt gemacht. Es war aber auch echt peinlich. Ich würde nur zu gerne wissen, was Matt Sophia erzählen musste. Jedes Mal, wenn sie mir auf dem Gang begegnet, sehe ich sie aus zusammengekniffenen Augen an.
Bree setzt zur nächsten Frage an. »Als was bezeichnet man eine besonders durchdringende elektromagnetische Strahlung, die bei Zerfall der Atomkerne vieler natürlich vorkommender oder künstlich erzeugter radioaktiver Nuklide entsteht?«
»Gammastrahlung«, ruft Theo, gleichzeitig mit dem Bimmeln der kleinen Klingel auf dem Tisch vor ihnen.
Gammastrahlung... der Tesserakt... das Zepter... Und solches gefährliches Zeug hab ich bei mir Zuhause rumliegen. Super sicher. Von Dad habe ich erfahren, dass Thor den Leuchtstab des Schicksals nach der Party am Samstag wieder nach Asgard zurückbringt. Bis dahin behalten er und Banner es vorerst im Labor.
Woher wussten die Avengers überhaupt, wo das Zepter zu finden war? Haben sie irgendwelche Strahlenwerte analysiert und kategorisiert, so wie ich damals, um unsere Reisegruppe zusammenzustellen? Ich weiß, dass Dad mittlerweile einen Satelliten in die Umlaufbahn der Erde geschossen hat, der sogar mit Jarvis verbunden ist, aber selbst mit dessen Hilfe wäre der Prozess viel zu aufwändig gewesen.
Das herauszufinden wäre um das Tausendfache spannender als Physikhausaufgaben.
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Der GPA ist übrigens der Grade Point Average, also der Gesamtnotendurschnitt in amerikanischen High Schools. Es geht bis 4.0 (just FYI)
Ich hoffe euch gefällt der Anfang dieses neusten Teils und ihr genießt eure Ferien :)
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