25 | the trust thing
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»Was ist los? Zu lange wach geblieben gestern Abend?«
»Nur ein bisschen müde«, gebe ich als Antwort, während ich ein Gähnen unterdrücken muss.
Wir sitzen auf der Dachterrasse eines feinen Restaurants, und bis jetzt habe ich es geschafft, mein müdes Gesicht hinter der Speisekarte zu verstecken. Auf dieser sind exakt drei Gerichte vermerkt: Eine Antipasti-Auswahl (hier besonders zu vermerken die Steinpilz-Crostini mit Flusskrebsen, der Artischockensalat und Pilz-Bruschetta), ein Garnelen-Ananas-Omelett, und Johannisbeer-Pancakes mit Cassis-Sauce. Die Kellnerin hat schon einen gigantischen Brotkorb nebst Aufstrichen und Honig auf den Tisch gestellt. Vermutlich als Vorspeise gedacht.
Ich warte noch auf meine Heiße Schokolade, während Dad und Pepper schon an ihrem Kaffee nippen. Es wäre unnötig zu erwähnen, dass ich schon seit sieben Stunden wach bin und aus Mangel an anderen Aktivitäten die meisten meiner Hausaufgaben in dieser Zeit erledigt habe.
»Der Schlafrhythmus pendelt sich schon ein«, sagt Dad gutgelaunt und schmiert sich ein Brötchen.
»Sagst ausgerechnet du.« Ich gähne hinter der Speisekarte. Leider kommt jetzt die Kellnerin und nimmt sie mit, nachdem wir bestellt haben. Ich nehme selbstverständlich die Pancakes. Die anderen Gerichte sind mir höchst suspekt.
Als die Kellnerin mit meinen Pancakes und zwei Omeletts wiederkommt, weiß ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Garnelen kann ich überhaupt nicht ausstehen. Den Erwachsenen scheint es allerdings zu schmecken, was ich kopfschüttelnd hinnehme.
»Willst du probieren?«, fragt mich Dad nach einer Weile.
»Oh Gott, nein, lieber habe ich eine Woche lang nur Französischunterricht.« Nein, das wäre dann doch übertrieben. »Lieber übernachte ich von nun an auf dem Dach.«
»Das sind aber drastische Maßnahmen.« Pepper lehnt sich lächelnd zurück. Sie sieht entspannt aus. Anscheinend war die Woche für sie ebenso stressig wie für mich.
Ich zucke mit den Schultern und widme mich den Pancakes. Sie schmecken einfach perfekt. Der süß-säuerliche Geschmack der Sauce vermischt sich mit dem Vanilleeis, das auf meiner Zunge zergeht. Das ist einer der Momente, in denen ich froh bin, dass wir uns solche Dinge leisten können. Nicht nur zweihundert Zoll Fernsehbildschirme und dreimal im Jahr Urlaub auf den Bahamas, sondern auch sowas wie Brunch in einem Dachterassenrestaurant in Midtown, das nicht einmal Preise auf seine Speisekarten druckt.
Peppers Handy klingelt. Sie blickt auf das Display, seufzt, und stellt ihre Kaffeetasse zurück auf den Tisch. »Da muss ich rangehen.«
»Ist okay, Liebling«, sagt Dad, und Pepper lässt uns zwei alleine.
Ich schiebe ein Stück Pancake auf meinem Teller umher, bis sich etwas in meinem Gehirn zu Wort meldet. Ich wollte mit ihm über Mum reden. »Dad?«, frage ich.
»Hm?« Er schiebt sich eine Gabel Omelett in den Mund.
»Du hast mir nie richtig erzählt, wie Mum und du euch kennengelernt habt.«
Er verschluckt sich beinahe an dem edlen Garnelen-Ananas-Omelett. »Ich und deine Mutter? Wieso brennst du so darauf, das zu erfahren?«
»Wieso nicht? Ich will nur wissen, wie sie so war. Früher.«
»Was soll ich sagen?«, beginnt er, nimmt einen Schluck Kaffee und überlegt. »Wir haben uns in einer Bar kennengelernt.«
Na klar, wo auch sonst, denke ich und verdrehe innerlich die Augen.
»An dem einen Abend habe ich ihr einen Drink ausgegeben. Und am nächsten Tag war sie wieder in der Bar. Aber wir sind Essen gegangen. Sie war sympathisch, lustig... habe ich dir das nicht schonmal erzählt?«
»Ja, in der Pizzeria, erinnerst du dich? Deswegen will ich etwas anderes wissen. Wieso hat sie dich verlassen?«
Er seufzt. »Küken, ist das denn so wichtig? Ich glaube nicht, dass das eine unglaublich spannende Geschichte ist.«
»Bitte, Dad.«
»Na schön, wenn's dich so brennend interessiert.« Er kratzt sich am Hinterkopf. »Da waren diese Briefe, die sie nach einiger Zeit erhielt, die sahen aus wie Drohungen. Sie sagte mir, sie wäre aus ihrem alten Leben abgehauen, hätte zwei Ex-Männer an den Fersen kleben und eine Menge Schulden.«
»Ich hoffe, das hast du ihr nicht geglaubt«, werfe ich ein. Ich hätte es nämlich nicht.
»Natürlich nicht«, sagt Dad, als wäre allein die Vorstellung davon geradezu lächerlich. »Außerdem hat sie einen anderen Namen benutzt, als wir uns kennengelernt haben. Cara. Bevor sie ging hat sie mir noch gesagt, ihr echter Name wäre Lindsey. Aber ich habe Nachforschungen angestellt. Es gab nie eine Cara Roberts. Und einen anderen Nachnamen wusste ich nicht, bis du dann aufgetaucht bist. Über Lindsey Linford habe ich einige Sachen gefunden, aber nicht viel.«
»Okay stopp«, befehle ich. Mein Kopf dreht sich. War Cara Roberts ein Deckname? War es Lindsey Linford? Ist es vielleicht keins von beiden? Wer ist diese Frau, die ich für meine Mutter halte? »Sie hat einen anderen Namen benutzt und du hast es mir nie erzählt?«
»Du hast nie danach gefragt«, rechtfertigt er sich.
Ich schiebe den Teller mit dem Rest des Pancakes von mir. Der Appetit ist mir vergangen. »Und... und du hast ihr nicht geholfen?«
»Wie denn? Sie ist gegangen, und das nächste Mal, als ich sie wiedergesehen habe prangte ihr Gesicht auf einem Totenschein.«
Meine Augen prickeln. »Du hättest ihr helfen können.«
Zu meiner Überraschung widerspricht er mir nicht. »Vielleicht hätte ich das. Vielleicht auch nicht. Spielt das denn noch eine Rolle?«
»Für mich tut es das!« Es gibt ein klirrendes Geräusch und brauner Kakao ergießt sich über die hellrote Tischdecke. Mit verärgerter Miene lehne ich mich in meinem Stuhl zurück, als auch schon ein Kellner angelaufen kommt, um das Chaos zu beseitigen. Die ganze Zeit über werfe ich Dad böse Blicke zu.
Pepper kommt zurück an den Tisch. »Welche Laus ist euch denn über die Leber gelaufen?«, fragt sie und sieht uns verwundert an.
»Ach, das war nichts«, sagt Dad schlicht. »Wie war der Anruf? Wo brennt's denn?«
Mir wird etwas klar, was mich direkt noch ein Stück tiefer in meinen Stuhl sinken lässt: Dad möchte deshalb nicht Mum nachtrauern, weil er etwas anderes gefunden hat. Er und Pepper gehören einfach zusammen, das kann ich immer wieder gesehen. Er ist glücklich, er hat Pepper, seine Arbeit, mich, seine anderen Freunde... die Sache mit Mums Tod wäre nur eine zusätzliche Belastung für ihn. Aber ich kann es einfach nicht loslassen. Ich weiß, Mum ist tot und wird nie wiederkommen, aber ich sollte wenigstens dafür sorgen, dass ihr Mord - denn das war es zweifellos - gerächt wird. Jemand hat sich da mit der falschen Judy Stark angelegt, wenn er dachte, er könnte die Sache einfach so unter den Tisch kehren. Ich kriege raus, wer daran schuld ist. Und dieser jemand wird nicht glimpflich davonkommen.
»Es ging nur um die Organisation der Veranstaltung bei Rubicon«, fährt Pepper fort. »Anscheinend soll William Nicholson nun doch eine Rede halten, direkt nach Rowan, und sie meinte auch Stark Industries solle sich noch einbringen.«
Das gewinnt wieder meine Aufmerksamkeit. »Eine Veranstaltung diesmal bei Rubicon? Kommt der Boss diesmal auch persönlich?« Bei der Gala vor ein paar Monaten ging es zwar um die Zusammenarbeit zwischen Rubicon und Stark Industries, aber McMillan war ›aus familiären Gründen verhindert‹.
»Ja, aber Pepper und ich fliegen nächsten Dienstag alleine nach Toronto«, sagt Dad und nimmt mir damit den Wind aus den Segeln.
»Wie bitte?«
»Es ist mitten in der Woche, du hast Schule.«
»Na und? So lange wird das schon nicht gehen. Außerdem habe ich eh nur Physik am Mittwochmorgen.«
Dad schüttelt den Kopf. »Nein, da gibt's auch keine Diskussion. Happy wird da sein und auf dich aufpassen, er bringt dich dann auch zur Schule.«
»Happy ist kein Babysitter, und ich brauche keinen!«
»Es ist doch nur ein Abend, Judy«, versucht Pepper mich zu beruhigen. »Und es ist nur eine Jubiläums-Veranstaltung. Du würdest dich langweilen.«
Ich gebe mich geschlagen. Nicht ohne Trotz, aber für noch eine weitere Diskussion bin ich einfach zu müde. Mittlerweile wurde mir eine weitere Tasse Heiße Schokolade hingestellt, die ich nun schweigend austrinke.
♦
Am Montagabend sitze ich über meinen Mathehausaufgaben, als sich mein Handy vibrierend bemerkbar macht. Das Display zeigt eine eingegangene Nachricht einer anonymen Nummer an. Nur eine Person würde sich diese Mühe machen.
>> Warte morgen nach Schulschluss an der Metrohaltestelle. D.E.
Melissa. Ich sollte vermutlich nicht hingehen. Ich sollte sie ihrem Detektivkram alleine überlassen und lieber auf eigene Faust nach weiteren Hinweisen suchen. Aber wenn wir unser Wissen zusammenlegen, kommen wir vielleicht schneller zu einem Ergebnis. Kann ich mich auf Melissa verlassen? Die Sache mit dem Vertrauen hat mich vor einiger Zeit ganz schön auf den Kopf fallen lassen. Ich muss herausfinden, was ihr eigentliches Ziel ist. Und wofür sie mich braucht. Wenn sie mich nur ausnutzt werde ich ihr aber was erzählen. Nochmal lasse ich das garantiert nicht zu. Aber es gibt nur einen Weg, ihre wahren Absichten aufzudecken. Ich muss mich mit ihr treffen und sie ausfragen, während sie mich ausfragt.
♦
Melissa wartet inmitten von Unmengen an Schülern an der Haltestelle. Dabei trägt sie die unauffälligste Verkleidung, die man sich vorstellen kann: ein schwarzes Basecap und eine getönte Sonnenbrille.
»Wenn du dachtest, ich erkenne dich nicht... ich hab viele solche Actionfilme gesehen«, begrüße ich sie.
»Wie wär's mit einem Spaziergang?«, sagt sie und geht ohne Umschweife ein paar Schritte voraus.
Ich folge ihr. Cass habe ich an den Fahrradständern vorm Schulgebäude verabschiedet. Sie meinte, solange das Wetter noch gut ist, fährt sie die kurze Strecke bis zu sich nach Hause. Glückspilz. »Ich hab nachgedacht. Über das, was du über Mum erzählt hast. Es klingt zwar total irre, aber ich will mehr darüber herausfinden.«
»Woher der plötzliche Sinneswandel?«
Ich zucke mit den Schultern. »Mein Dad hat mir erzählt, als er sie kennengelernt hat, hat sie den Namen Cara Roberts benutzt.«
»Das stimmt. Hätt' ich dir auch schon sagen können.«
»Und wieso hast du's nicht?«
»Ganz einfach, du wolltest es ja nicht glauben.«
»Okay, jetzt tu ich es.« Wir betreten einen kleinen Park. Bis auf eine alte Frau mit Hund und zwei fußballspielenden Jungs ist er leer. »Also, schieß los: wer war Mum? Ich habe dir alles gesagt, was ich weiß, jetzt bist du dran.«
»So funktioniert das nicht«, sagt Melissa. »Ich habe eine Mission, es geht um...«
»...die nationale Sicherheit? Komm schon, das ist jetzt nicht dein Ernst. Willst du, dass ich dir helfe oder nicht? Du solltest mir ein bisschen entgegenkommen.«
Sie setzt sich auf eine Bank, nimmt die Sonnenbrille ab und klappt sie zusammen. Ihre grün-blauen Augen blitzen wie immer. »Setz dich.«
»Oh nein, ich bleib hier stehen, bis du mir sagst, was du weißt«, sage ich stur.
»Judy. Du verstehst es noch nicht, aber ich muss dich um einen letzten Gefallen bitten. Danach erzähle ich dir alles, versprochen.«
Ich drehe mich kopfschüttelnd zu Seite. Nichts als leere Versprechen, ich kenne die Leier. »Versprechen sind sowas von aus der Mode gekommen. Wenn du willst, dass ich dir vertraue, braucht es etwas mehr als das.«
»Also gut. Ich schwöre es.«
»Worauf?«
»Deine Mutter.«
Das klingt wie ein lahmer Witz, aber Melissas Gesicht ist dabei so ernst wie auf einer Beerdigung. So kenne ich sie gar nicht. Das hier muss ihr wirklich wichtig sein.
»Gut«, sage ich langsam und setze mich neben sie auf die Parkbank. Ich habe echt keine Lust, nach ihrer Pfeife zu tanzen. Ich arbeite nicht für sie, wir arbeiten zusammen. »Also, was ist dieser letzte Gefallen?«
»Es ist weniger ein Gefallen als mehr ein Vorschlag. Nein, das trifft es auch nicht. Es ist eine Gelegenheit für dich - für uns beide - einen großen Schritt zu machen.«
Mit verschränkten Armen lehne ich mich zurück. »Ich höre.«
»Nächste Woche findet eine Veranstaltung statt, auf die du gehen musst. Ein großer kanadischer Konzern feiert sein Zehnjähriges. Es werden viele wichtige Leute anwesend sein, und außerdem...« Sie zögert kurz. »...und deswegen vermutlich auch jemand, der deine Mutter kannte und in ihren Mord verwickelt war.«
»Heißt diese Firma zufälligerweise Rubicon?«, hake ich nach.
»Ja. Ich dachte mir schon, dass du dich daran erinnerst.«
»Dad und Pepper fliegen nach Toronto, aber sie haben mir klargemacht, dass ich nicht mitkomme.«
»Nein, du musst da hin«, beharrt Melissa und lehnt sich ein Stück vor. »Es ist wichtig.«
»Soll ich mir 'nen falschen Schnauzer ankleben, damit mich keiner erkennt? Warum gehst du nicht?«
»Wir haben Vorschriften beim Secret Service. Ich habe eine Genehmigung für meine Nachforschungen in den USA, aber die Veranstaltung findet auf kanadischem Boden statt.«
»Verstehe. Ich nehme an, du besorgst mir trotzdem einen Maskenbildner inklusive Kostüme? Und einen Privatjet, mit dem ich unbemerkt dahin komme?«, frage ich. Ansonsten habe ich keinen Plan, wie Melissa das anstellen will. Und Dad werde ich ganz bestimmt nicht anbetteln, mitzukommen. »Ich kann mich schlecht hinbeamen.«
Ihr linker Mundwinkel zieht sich zu einem angedeuteten Lächeln nach oben. »Aber du kennst jemanden, der es kann.«
Matt. Nein, das kann sie sowas von vergessen, er redet nicht mit mir, ich rede nicht mit ihm, wir leben in friedlicher Koexistenz. Und Melissa wird das nicht ruinieren.
»Und soweit ich weiß, beherrscht er auch eine Art des Gestaltenwandelns«, fügt sie wie beiläufig hinzu.
»Ich kann ihn nicht um Hilfe bitten«, stelle ich klar. »Es ist kompliziert.« Komplizierter, als sie denkt. Es ist sogar komplizierter als kompliziert.
»Willst du deine kleinen Teeniebeziehungsstreitereien wirklich über diese Mission setzen? Überleg dir das.«
Ich muss es abwägen. Nein, eigentlich gibt es da nichts zu entscheiden. Ich muss zu dieser Veranstaltung, um mehr über Mums Tod zu erfahren, aber ohne Matts Hilfe gibt es keinen Weg, das zu erreichen. Ich seufze. »Gut. Ich rede mit ihm.«
»Hervorragend«, sagt Melissa und setzt ihre Sonnenbrille wieder auf. »Gib mir spätestens Freitag Bescheid.« Dann holt sie einen braunen Umschlag aus ihrer Tasche und hält ihn mir hin.
Ich nehme ihn entgegen »Was ist das?«
»Die Eintrittskarten inklusive Ausweise. Zwei Stück.« Sie zwinkert mir mit blitzenden Augen zu. »Wir seh'n uns.«
Ich ziehe beides aus dem Umschlag. Mr. und Mrs. Smith. Das kann nicht ihr Ernst sein. Doch als ich wieder aufblicke, ist Melissa bereits spurlos verschwunden.
♦
Nervös auf und ab wippend warte ich vor der Jungsumkleide auf die eine Person, die am wenigsten mit mir zu tun haben will. In Rekordzeit habe ich mich umgezogen, trotzdem befürchte ich, dass er schon wieder weg ist. Wahrscheinlich ist das hier mal wieder ein richtig bescheuerter Plan, und nur verschwendete Zeit. Ein paar Typen kommen aus der Umkleide. Ich rümpfe die Nase. Es gibt hier nicht umsonst Duschen. Beinahe hätte ich meine Zielperson verpasst, die hinter der Gruppe in den Korridor tritt.
»Hey, Matt, hast du mal 'ne Minute?«, spreche ich ihn an und berühre ihn am Arm, damit er mir nicht davonläuft.
»Von mir aus.«
Mann, ich vermisse den alten Matt. Die Person, die hier vor mir steht, hat mehr Ähnlichkeit mit einem Granitblock als mit dem entschlossenen Jungen, den ich im Sommer kennengelernt habe. Aber ich brauche nichtsdestotrotz seine Hilfe.
»Es geht um - also, ich muss dich um einen Gefallen bitten.« Ich sehe ihn an und versuche, in seinem Gesicht zu lesen. Aber da ist so gut wie nichts.
»Einen Gefallen«, wiederholt er.
»Ein ziemlich großer sogar. Und bevor du Nein sagst, ich bin mir bewusst, dass ich dir dann was schulde«, sage ich schnell. Natürlich weiß ich, dass es absolut keinen Grund für ihn gibt, mir zu helfen, und eine Gegenleistung ist das Einzige, was ich momentan zu bieten habe. Ich würde die Aktion auch viel lieber alleine durchziehen, aber das würde nie funktionieren.
Matt sieht sich im Gang um, bevor sein Blick wieder bei mir landet. »Muss das hier sein?«
Ich beiße mir auf die Zunge. »Wir können auch woanders hingehen, wenn dir das lieber wäre.«
Chase Mills kommt an uns vorbei, und ich kann nicht sagen, ob der verächtliche Blick mir oder Matt gelten sollen. Was hat er getan, um seinen Ärger auf sich zu ziehen? Auf jeden Fall bin ich jetzt auch eher dafür, unseren Plausch zu verlagern. Cass wird das sicher verstehen. »Wie wär's mit Mittagessen außerhalb? Ich kenne 'nen super Imbiss nur einen Block von hier.«
Zu meiner großen Überraschung erklärt sich Matt damit einverstanden. Wir verlassen das Schulgelände.
»Okay, dann erzähl mal«, fordert er mich auf.
Ich habe mir zwar in den letzten zwei Tagen durchgehend darüber den Kopf zerbrochen, wie ich ihm die Sache am besten beibringe, doch das ist jetzt alles wie weggefegt. »Also, eins möchte ich vorher noch festlegen. Ich werde ganz ehrlich zu dir sein. Keine Geheimnisse meinerseits, versprochen. Als Gegenleistung erwarte ich dasselbe von dir. Deal?«
»Dafür will ich erst hören, worum es geht.«
»Nächsten Dienstag gibt es eine Jubiläumsfeier bei Rubicon. Du weißt schon, die Partnerfirma von Stark Industries. Und da muss ich unbedingt hin, weil ich einen Hinweis habe, dass dort jemand sein wird, der mir mehr über meine Mum erzählen kann.«
»Wieso?«
Ich bereue es jetzt schon, die ganze Ehrlichkeitssache aufgezogen zu haben. Also erzähle ich ihm von den Treffen mit Melissa und meinen Vermutungen Mums Tod betreffend. Ich muss komplett verrückt sein, das habe ich vorher noch niemandem erzählt, und jetzt ausgerechnet Matt?
Am Imbiss angekommen bestellen wir uns zwei Paninis zum Mitnehmen, und schlagen den Weg zurück zur Schule ein. Dass wir zwei in Verträglichkeit nebeneinander herlaufen, macht die Situation nur noch verrückter. Und aus irgendeinem Grund auch entspannter.
»Und wofür brauchst du jetzt meine Hilfe?«, greift Matt das Gespräch wieder auf.
»Mein Dad hat mir verboten, mitzukommen, weil es mitten in der Schulwoche liegt. Außerdem findet die Feier in Toronto statt.«
Die Worte bleiben zwischen uns in der lauwarmen Herbstluft schweben. Matt schweigt.
»Was ich damit sagen will...«, fahre ich vorsichtig fort. »...ich brauche dich und deine Fähigkeiten.«
»Ich soll meine Kräfte benutzen?«
»Ja.«
»Kommt gar nicht in Frage.«
»Warum nicht?«, frage ich. »Es ist auch nur dieses eine Mal.«
»Aber dabei wird es nicht bleiben, oder? Das tut es nie.«
»Was ist so Schlimmes passiert, dass du deine Kräfte auf einmal nicht mehr benutzen willst? Als es um HYDRA ging konntest du dich gar nicht zurückhalten, so viel Spaß hat es dir gemacht.«
Er starrt auf sein Sandwich.
»Was, willst du mir sagen, du hast deine Kräfte seitdem nicht mehr benutzt? Ich bitte dich.«
»Das ist kein Kinderspiel, Judy«, sagt Matt energisch. »Das, was ich kann, ist nicht harmlos. Du hast es gesehen.«
Widerwillig erinnere ich mich an die Ereignisse in der HYDRA-Basis zurück. Wie Matt auf die Agenten losgegangen ist. Wie er den Mann im Sägewerk erschossen hat. Aber damit hat er andere Leute gerettet. »Matt, ich verspreche dir, alles, was du tun musst, ist, uns beide in einer Verkleidung nach Toronto zu bringen und später am Abend wieder zurück. Mehr verlange ich nicht von dir.«
Er schüttelt den Kopf. »Ich kann nicht.«
»Natürlich kannst du das. Ich habe dich in Aktion gesehen.«
»Nein, du verstehst das nicht.«
Doch, das tue ich. Er hat Angst. Angst, dass es nochmal passiert. Dass er sich in einen Berserker verwandelt, der alles in seiner Umgebung niedermetzelt. Aber das wird nicht passieren. Nicht, wenn ich es nicht zulasse.
»Ich kann es nicht kontrollieren, ich kann mich nicht kontrollieren, wenn es passiert.« Ein Hauch von Hilflosigkeit liegt in seiner Stimme. Sie hat ihren monotonen Klang verloren, und ehrlich gesagt gefällt sie mir so besser. Anscheinend habe ich mit den Fähigkeiten einen wunden Punkt getroffen.
»Und deshalb versuchst du, es zu unterdrücken?«, hake ich weiter nach. »Matt, das ist unglaublich bescheuert. Genau für den Fall, dass du nicht damit klarkommst, hat Doctor Banner zwei Optionen bereitgestellt. Entweder, du gibst deine Kräfte auf, oder lernst mithilfe von professionellen Leuten damit umzugehen.«
»Ich kann es unter Kontrolle halten«, beharrt er.
»Dann beweis es mir. Ich bezweifle, dass du dich in einen Berserker verwandelst, nur weil wir einen kurzen Trip nach Kanada machen.«
Matts Gesicht behält einen zweifelnden Ausdruck. »Das weißt du nicht.«
»Stimmt, tu ich nicht. Aber wussten wir, was passieren wird, als wir uns damals nach Maine teleportiert haben? Nein, und du hast es trotzdem getan. Und wir sind da heil wieder rausgekommen, Ich hab dir geholfen, HYDRAs Experimente zu befreien, und jetzt brauche ich dich. Bitte.« Ich hatte nicht vor, ihn anzubetteln, deshalb versuche ich es mit meinen Überredungskünsten.
»Ich... ich werde darüber nachdenken.«
»Wirklich?«
»Ja. Versprochen«
Innerlich grinse ich wie ein Honigkuchenpferd, während ich mich äußerlich um einen neutralen Gesichtsausdruck bemühe. Ich hab ihn fast. »Morgen in der Frühstückspause vor meinem Schließfach?«
»Sicher. Bis dann.« Er knüllt das Einwickelpapier zusammen und wirft es gekonnt in die einige Meter entfernt stehende Mülltonne.
Ich sehe ihm hinterher. Habe ich wirklich einen Verbündeten gefunden? Ohne ihn werde ich den ganzen Plan nicht durchziehen können. Kann ich auf ihn zählen? Das wäre fast zu schön, um wahr zu sein, nach all dem, was wir erlebt haben.
»Ich hoffe ihr hattet Spaß.«
Ich fahre herum. »Heilige Scheiße, Cass, erschreck mich doch nicht so.«
»Du hättest mir wenigstens Bescheid sagen können. Seit wann redet ihr wieder miteinander?«
Ich sehe auf die große Uhr, die über dem Eingang zur Schule hängt. »Seit ungefähr 27 Minuten.«
Sie zieht eine Schnute. »Schön für euch.«
»Hey, wie war eigentlich dein Training gestern?«, versuche ich das Thema umzulenken, während wir das Schulgebäude betreten.
Glücklicherweise springt sie darauf an. »Mir tut immer noch alles weh. Weißt du eigentlich, wie viele verschiedene Judorollen es gibt? Grauenvoll. Und dann wirft mir Xander auch noch vor, ich sei nicht ausgelastet genug.«
»Xander? Der Typ mit dem Todesblick?« Er war unter den Teenagern, die wir befreit haben, und der einzige der vier, der seine Kräfte behalten wollte. Wie's aussieht wird er jetzt ebenfalls trainiert.
»Genau der«, sagt Cass. »Aber seine eigentlichen Fähigkeiten beschränken sich auf Luftbändigen. So hat er es zwar nicht ausgedrückt, und es nervt ihn, wenn ich ihn die ganze Zeit Aang nenne, aber er ist mein einziger Trainingspartner. Hey, wollte Matt nicht auch zu den Trainingssessions aufkreuzen?«
»Ich glaube, das hat er eher nicht vor. Keine Ahnung.«
»Wieso, du hast doch mit ihm geredet?«
»Nicht darüber«, blocke ich ab.
»Worüber dann?«, hakt sie nach.
»Hast du heute Nachmittag schon was vor? Wir könnten zu mir gehen und den Tower unsicher machen. Möglicherweise sind Nat, Steve und Sam wieder zurück.«
»Nee, ich hab Bandprobe. Aber am Wochenende hätte ich Zeit.«
Es klingelt zum Unterricht, also setze ich mich in Bewegung zum nächsten Klassenraum. »Klingt super, also am Wochenende bei mir?«
»Dann kannst du mir alles erzählen!«, zwitschert Cass mir hinterher.
Ich verdrehe die Augen, so dass sie es sehen kann. Grinsend verschwindet sie am oberen Ende der Treppe.
Wieso sollte ich ihr nicht alles erzählen? Ihr kann ich vertrauen, da bin ich mir sicher. Dass es mir schwerer fällt, Cass von meinem Vorhaben zu erzählen, als Matt um Hilfe zu bitten, ist fast schon lächerlich. Sie verdient wenigstens einen Teil der Wahrheit. Andererseits weiß ich auch relativ wenig über sie. Können wir uns überhaupt als Freunde bezeichnen, wenn wir uns nur in der Schule treffen und uns über Banalitäten unterhalten? Nein, das muss sich dringend ändern. Aber zuerst muss ich Matts Antwort abwarten, und natürlich, was er sich als Gegenleistung ausgedacht hat.
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Was haltet ihr von Judys Plan? Matts Reaktion?
Und dem leicht verändertem Cover?
In der nächsten Zeit (vermutlich noch heute), werde ich ein kleines Spin-Off Buch zur Judy Saga veröffentlichen, bei dem ab und zu ein paar kleinere Stories oder Ausschnitte kommen werden.
Vielleicht habt ihr ja Interesse daran :)
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