20 | Matt & Judy | get home


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Der Jet der britischen Geheimagenten ist geräumig und groß genug für mindestens zwölf Personen. Tony Stark ist nicht eingestiegen, hat aber versprochen, aus der Luft alles zu beobachten.

Jetzt sitzt Matt zwischen Sam Wilson, dem Falcon, wie dieser ihm erklärt hat, und Captain America. Letzterer hat seine Uniform angezogen, den Schild an die Seite seines Sitzes gelehnt.

Matt ist viel zu nervös, um still zu sitzen. Vielleicht hätte er sich schnell zu den anderen teleportieren sollen, um nach dem geretteten Mädchen zu sehen. Hoffentlich geht es allen gut. Mittlerweile könnte HYDRA Judy, Zach und Cass alles Mögliche angetan haben. Er muss wohl einfach auf das Beste hoffen. Außerdem hat er jetzt Hilfe, sogar mehr, als er erwartet hat. Nicht nur einen Teil der Avengers, sondern auch noch eine kleine Gruppe britischer Agenten. Obwohl deren Auftauchen immer noch rätselhaft ist.

»Woher kennen Sie sich?«, fragt Matt den Falcon, um ein Gespräch in Gang zu bringen.

»Ich und der Captain?« Wilson schlägt die Beine übereinander. »Ich habe eine Selbsthilfegruppe für Kriegsveteranen geleitet. Da ist er mal zu Besuch gekommen.«

»Nein, Sam, du vergisst die Trainingsrunde am Lincoln Memorial«, berichtigt ihn Steve Rogers.

»Das habe ich versucht zu verdrängen.« Er lehnt sich zu Matt. »Für einen alten Mann kann er ganz schön schnell rennen.«

Der Captain steht auf und beginnt eine Konversation mit den Agenten. Matt berührt das Kommunikationsgerät in seinem Ohr. Es ist gerade mal so groß wie ein Ohrstöpsel, und daher kaum sichtbar. Dadurch wird er Anweisungen erhalten, wenn sie erst mal gelandet sind. Laut dem Piloten dauert der Flug keine zwanzig Minuten. Matt schreckt zusammen, als eine Stimme aus dem Headset zu ihm spricht. Es ist Tony Stark.

»Hey, Romeo, hör zu: Was auch immer Judy dazu bewegt hat, mit dir auf dieses Himmelfahrtskommando zu gehen, ich will, dass du weißt, dass ich extrem sauer bin. Und was auch immer Judy passiert, das wird auf dich zurückfallen. Wenn ich Brooklyn nicht schnappen kann, bist du der Sündenbock. Alles klar soweit?«

Matt nickt, bis ihm auffällt, dass Stark das nicht sehen kann. »Ja, Mr. Stark. Aber–«

»Was, aber

»Ich hab sie da mit reingezogen, der Teil stimmt, und die Rettung der anderen haben wir zusammengeplant. Strategisch gesehen war unser Plan – naja, jedenfalls war sie bereit, die anderen zu retten, egal was passiert. Sie hat sie gefunden, mit einem selbsterstellten GPS-Programm. Was ihre Computerfähigkeiten angeht, ist sie echt spitze.«

Stark braucht eine Weile, um zu antworten. »Sieh dich einfach vor, Wonderboy. Nur Superkräfte zu haben macht dich nicht zu einem Helden.

Er kappt die Verbindung, und lässt einen irritierten Matt zurück. Wonderboy hat er ihn genannt. Das lenkt Matts Gedanken nur wieder zu Judy. Einschüchtern lassen wird er sich nicht, das hat schon bei Judy nicht geklappt, also genauso wenig bei ihrem Vater. Auch, wenn er Iron Man ist.

»Wir befinden uns im Landeanflug«, informiert ihn Captain Rogers. »Von der Landestelle aus müssen wir in den Wald laufen.«

Matt nickt nur. Er kann es immer noch nicht fassen, dass er mit seinem Idol auf eine Mission gehen soll. Von Sam Wilson bekommt er eine Taschenlampe und eine Pistole in die Hand gedrückt.

»Ernsthaft?«, fragt Colonel Rhodes entgeistert. »Der Junge ist fünfzehn und du gibst ihm 'ne Waffe?«

»Er muss sich doch verteidigen können.«

»Ich kann damit umgehen«, sagt Matt schlicht. Dass er auch im Nahkampf geschult ist, erwähnt er nicht. Auch nicht, dass er in den letzten Tagen bereits drei Menschen umgebracht hat. Drei Agenten HYDRAs. Trotzdem waren es Menschen, die es nicht verdient haben zu sterben. Aber genauso wenig verdienen es Zach, Cass und Judy. Doch rechtfertigt das Matts Taten? Ja, entscheidet er, und setzt sich aufrechter hin. Er kämpft für eine gute Sache.

Als sich die Luke des Jets öffnet, sieht Matt nichts. Es ist stockdunkel draußen. Die besten Bedingungen für eine Rettungsmission.

»Das Gebäude befindet sich zwei Kilometer nördlich von hier«, sagt die brünette Agentin. »Es gibt nur einen Eingang, und der ist streng bewacht. Wir vermuten, dass der größte Teil der Anlage unterirdisch ist.«

»Wenn man reinkommt ist da ein Gang, nach der dritten Tür gibt es hinter einer Wand eine versteckte Treppe«, meldet Matt zögernd. Als er nicht unterbrochen wird, holt er tief Luft und fährt fort. »Hinter einer der Türen im Erdgeschoss ist eine Art Büro, bei den anderen weiß ich es nicht. Unten gibt es ein verzweigtes Gängesystem. Die Überwachungskameras sind ausgeschaltet, dafür habe ich gesorgt. Drei der Jugendlichen befinden sich in den Räumen 023, 029 und 030. Vielleicht haben sie mittlerweile Wachen davorgestellt, keine Ahnung. Ich weiß auch nicht, wo die anderen sind, aber ich nehme mal an, sie befinden sich ebenfalls in dem Gang.« Er stockt und sieht hilfesuchend zum Captain.

»Falls Sie nichts dagegen haben, Agent Ellington, würde ich eine kleine Gruppe zusammenstellen, die sich um die Verteidigung von außen kümmert.«

»Keine Sorge, Captain Rogers. Wir interessieren uns nur für die HYDRA Agenten.« Sie gibt zweien ihrer Agenten ein Zeichen. »Ihr sucht das Obergeschoss ab.«

»Aber wir retten sie doch, oder?«, sprudelt es aus Matt hervor.

»Kleiner, das ist nicht meine Mission. Ich hab euch hierhergebracht, das ist alles.«

Matt fühlt sich wie ein kleines Kind, dem alles erklärt werden muss. Zwischen den ganzen erwachsenen, erfahrenen Agenten und Soldaten kommt er sich wirklich winzig vor. Aber dann erinnert er sich wieder daran, was er innerhalb der Basis alles geleistet hat. Sie werden es schaffen.

Die Gruppe marschiert durch den Wald. Der Weg kommt Matt unglaublich lang vor. Alle schweigen, und nur ab und zu erhellen Lichtkegel der Taschenlampen die Baumgruppen vor ihnen. Die Waffe in Matts Hand fühlt sich warm in seinen kalten Händen an. Er hofft, damit nicht noch jemanden töten zu müssen.

»Wir sind da«, murmelt Matt, der die Energie, die aus der Basis strömt, deutlich spüren kann. Sie ist wie eine dichte Kuppel, die sich über das Gebäude gestülpt hat. Beinahe bildet er sich ein, einen blassblauen Schimmer zu sehen.

Er kann im Dämmerlicht erkennen, wie der Captain ein Handzeichen gibt, und schon schwingt sich Sam Wilson in die Höhe. Jetzt versteht Matt, warum man ihn den Falcon nennt: Metallene Flügel mit messerscharfen Federn scheinen aus seinem Rücken zu wachsen. Colonel Rhodes steckt in dem vertrauten War Machine Anzug und fliegt ebenfalls aus, um die Basis von außen zu bewachen.

Das bedeutet wohl, dass Matt mal wieder mitten im Geschehen sein wird. Das stört ihn nicht, ganz im Gegenteil. Neues Adrenalin fließt durch seine Adern. Jetzt werden sie es HYDRAs Handlangern zeigen. Doch zuerst muss er die anderen in Sicherheit bringen.

Matt findet die drei an der gleichen Stelle, an der er sie vor einer knappen Stunde zurückgelassen hat. Das Mädchen mit den schwarzen Haaren hat sich an Alyssas Schulter gelehnt, aber sie schläft nicht. Marcelo läuft ungeduldig vor ihnen auf und ab. Als Matt auf einen Zweig tritt, fährt er zusammen.

»Matt, du bist wieder da!«, ruft er. Dann senkt er die Stimme und sieht sich um. »Hast du Hilfe gefunden?«

»Ja, ihr werdet nicht glauben, wen: Die Avengers. Also, einen Teil davon. Captain America, Iron Man – Bruce Banner ist im Jet geblieben, ich bring euch zu ihm, dort seid ihr sicher, versprochen.« Matt hilft dem Mädchen hoch. Er greift auch nach Alyssas Arm. Sobald sie beim Jet sind, werden sie in Sicherheit sein. HYDRA wird ihnen nicht bis dorthin folgen.

»Ich kann kämpfen«, sagt Marcelo bestimmt und wehrt Matts Versuch, nach seinem Arm zu greifen, ab.

»In Ordnung«, sagt dieser nach kurzem Zögern. Sie können jede Hilfe brauchen, oder nicht? Marcelo ist stark und schnell. »Warte hier. Dauert nur eine Sekunde.«

Das sonst so gewohnte Magenziehen bei einer Teleportation spürt Matt diesmal gar nicht, aber anhand Alyssas Gesicht sieht er, dass sie sich nicht dran gewöhnt hat. Er klopft gegen die Luke des Jets. »Doctor Banner?«

Im Inneren lässt Alyssa sich sofort in einen der Sitze fallen, während Banner das Mädchen auf eine provisorische Liege hilft. Er wird sich um sie kümmern.

»Wenn ich mein Labor hätte...«, murmelt er und öffnet einen großen Koffer.

»Alles okay?«, fragt Matt Alyssa.

Sie nickt. »Ging mir nie besser. Also, worauf wartest du noch? Musst du nicht noch jemanden retten?«

»Zwei hab ich schon, bleiben nur noch... sechs.« Er zieht einen Mundwinkel hoch, dann steht er auch schon wieder im düsteren Wald bei Marcelo.

Im Laufschritt erreichen sie die anderen, die kurz davor sind, loszulegen. Knapp stellt Matt ihnen Marcelo vor, beide bekommen eine kugelsichere Weste gereicht. Das wäre vielleicht von Anfang an eine gute Idee gewesen, denkt Matt. Das Brennen an seinem Arm ist einem dumpfen Pochen gewichen. Er muss sich nur noch auf eine Sache konzentrieren. Die Erwachsenen werden ihm den Weg freihalten. Und das Erste, was Matt zu tun hat, ist, Judy zu suchen. Und sie finden.

Es ist dunkel, dunkel, immer dunkel. Ich mache mir mein eigenes Licht, in meinen Träumen. Aber ich schlafe nicht. Ich darf nicht einschlafen. Irgendetwas fließt durch meinen Körper, doch es gehört nicht dorthin. Meine Muskeln stehen unter Strom, auch wenn ich mich zu schwach fühle, um aufstehen zu können. Ich lausche dem Summen der Wände. Doch da ist nur Stille. Wo ist das Summen hin? Eine Welle von Panik überflutet mich. Die letzten Stunden – Tage – Wochen war es da, beruhigend, beständig, und jetzt ist es weg.

Stattdessen ist da ein Trampeln, eine ganze Armee marschiert über meinen Kopf hinweg. Nein, es ist ein Rumpeln, ein Zug, ich liege auf einem Gleisbett. Es ist ein Quietschen, ein Stöhnen, eine Kiste, die langsam aufgestemmt wird.

Jemand greift unter meine Arme und hievt mich hoch. Ich blinzele. Da ist Licht, aber es ist düster und rotorange. Zwei starke Hände halten mich fest, aber ich sinke immer wieder in die Knie. Meine Gedanken sind verworren. Ist das wieder nur eine Illusion? Müdigkeit überkommt mich. Bevor meine Augenlider zuklappen sehe ich eine Gestalt über mir, mit blonden, schweißnassen Haaren. Dort, wo seine Hand meine Haut berührt, schießt flüssige Lava durch meine Adern.

»Nein!«, schreie ich mit rauer Stimme, huste, und versuche, mich der Berührung zu entreißen. Es ist nicht Matt. Nicht Matt. Eine Illusion.

»Judy, ich bin's«, murmelt die Person, die vorgibt, Matt zu sein.

»Nein«, wiederhole ich, heftig den Kopf schüttelnd. »Das ist nicht real. Ich hallu– hallizu–« Meine Zunge ist schwer wie Blei und an meinem Gaumen festgeklebt. Ich spüre, dass Matt mich hält, aber es fühlt sich nicht echt an. Wie kann ich entscheiden, was real ist?

Zwei kühle Hände legen sich an meine Wangen. Ich blicke in ein Gesicht. Es sieht aus wie das von Matt. Die besorgten, braunen Augen unter blassen Augenbrauen, die geröteten Stellen an Stirn und Kinn, die Nase mit dem leichten Knick – alles nicht echt.

»Du bist nicht hier.« Ich lege meine Hände auf seine. Erst jetzt merke ich, wie sehr ich zittere.

»Judy, hör mir zu, wir müssen hier raus, bald stürzt alles ein.« Diese Stimme – sie klingt wie die von Matt. Wie kann ich sichergehen, dass er real ist? Dass er kein Trugbild ist, ausgelöst von dieser irreführenden Strahlung?

»Wer bist du?«

Ein verletzter Ausdruck schleicht sich in seine Augen. »Ich bin Matt, der Matt. Du kennst mich.«

»Nein. Ich weiß ja kaum, wer ich selbst bin«, flüstere ich. Meine Finger krallen sich um Matts Handgelenke. Die angenehme Kühle strömt über mein Gesicht.

»Du? Du bist Judy. Du bist diejenige, die mir geholfen hat, die allen hilft. Du bist stur und eigen und unglaublich leichtsinnig und dumm, dich einfach so schnappen zu lassen.« Den letzten Teil sagt er mit einem gequälten Grinsen auf den Lippen. Die Oberlippe ist nur ein kleines Stück schmaler als die untere, beide sind blass und trocken. Sie bewegen sich auf und ab, als er weiterspricht. »Doch du bist auch klug. Du bist mit mir gegangen, als mir nichts anderes übrigblieb. Verdammt, du hast ein GPS-Gerät aus dem Nichts umprogrammiert, du hast eine kleine Armee zusammengestellt! Du hast diesen Leuten Hoffnung gegeben. Du hast mir Hoffnung gegeben, und jetzt kann ich mit meinen Kräften besser umgehen als je zuvor. Judy, du hast uns geholfen, als wir in der Klemme steckten, und jetzt hole ich dich hier raus.«

Ich zwinge mich, einige Zentimeter weiter hoch zu seinen Augen zu blicken. In Matts Augen. Denn es ist Matt, und keine Illusion. Ich lasse seine Hände los und ziehe ihn in eine Umarmung, wobei ich fast schon wieder das Gleichgewicht verliere. »Du bist hier«, murmele ich, beinahe erleichtert.

Er erwidert die Umarmung ohne Umschweife. »Wo sonst?«

Wir verharren in dieser Position, ich atme tief ein, bis das Zittern verschwunden ist. Matts Kleidung riecht nach Rauch und Wald, sein Atem an meinem Ohr geht tief und gleichmäßig. Ich könnte stundenlang so dastehen, das Gefühl von seinem Körper an meinem beruhigt mich, seine Hand auf meinem Rücken gibt mir Sicherheit. Meine Gedanken werden klarer.

»Und jetzt?«, frage ich mit fester Stimme. Auch wenn mein Kopf immer noch dröhnt, fange ich an, die Puzzleteile zusammenzufügen.

»Jetzt?« Matt greift nach meiner Hand. »Jetzt rennen wir.«

Außerhalb des Raumes, in dem ich eingesperrt wurde, ist die Hölle los. Sirenen heulen – wie kann ich den Lärm vorher nicht bemerkt haben? – und entferntes Gebrüll ist zu hören. Die Notfallbeleuchtung ist angeschaltet und taucht alles in ein dämmrig-rotes Licht. Ich habe keine Erinnerung daran, wie ich hier rein gekommen bin, aber Matt scheint ein klares Ziel vor Augen zu haben. Er zieht mich durch die Gänge. Die ganze Basis ist unterirdisch, wie ich es geahnt habe. So wie alle Bösewicht-Verstecke. Apropos...

Ich bleibe abrupt stehen. »Warte. Ich muss Brooklyn finden. Mit ihm habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen.«

»Die anderen werden ihn schon finden und festnehmen.«

Ich schüttele energisch den Kopf. »Nein, das ist eine private Rache.«

Matt sieht mich beschwörend an. »Die kannst du auch später noch ausüben. Jetzt müssen wir erstmal hier raus.«

Widerwillig lasse ich mich von ihm weiterziehen. Er hat mich immerhin befreit, ein wenig Dankbarkeit sollte ich schon zeigen. »Weißt du überhaupt, wohin wir rennen?«, frage ich und ringe nach Luft, als wir um eine Ecke biegen. Dort hinten brennt etwas, beißender Rauch steigt mir in die Augen.

Matt kneift die Augen zusammen, um den Gang entlang etwas sehen zu können. Er zieht sich etwas über den Kopf und gibt es mir. Es ist eine kugelsichere Weste.

»Damit du erschossen wirst bei einer deiner Slapstick-Aktionen? Nein danke, die behältst du lieber.«

»Die behindert mich nur.« Und dann verschwindet er im gelben Rauch.

Das Gewicht der Weste zieht mich nach unten, ich bin immer noch etwas wackelig auf den Beinen. Ich stütze mich an der Wand ab und versuche vergeblich, etwas im Gang vor mir zu erkennen. Ich höre nur die Geräusche fallender Gegenstände und Körper. Jetzt, wo Matt nicht mehr in meiner Nähe ist, wird mir wieder heiß. Es ist, als würde seine bloße Anwesenheit meinen Organismus auf eine ertragbare Temperatur herunterkühlen. Ich habe immer noch die Strahlung in mir. Und die Frau in Weiß hat mein Blut. Was sie wohl damit anstellt? Wenn wir Glück haben, werde ich das nie herausfinden müssen, denn dann wird diese Basis dem Erdboden gleichgemacht, und die kranken Experimente ebenfalls. Ob Matt die anderen Gefangenen gefunden hat? Was ist mit Cass und dem Rest? Vielleicht helfen sie in diesem Moment, die Basis einzunehmen. Immerhin hat Matt etwas von Hilfe erwähnt. Hat also mein Plan funktioniert, den ich ausgetüftelt habe?

Die Kampfgeräusche haben aufgehört. Eine Gestalt kommt durch den Rauch auf mich zu, doch mein Gefühl sagt mir, dass es nur Matt ist. Seine kühle Hand schließt sich um meine, und wir rennen weiter die Gänge entlang. Ich komme mir vor wie in einem Action-Film, wenn die Helden aus dem Versteck des Superschurken fliehen.

»Treffen wir die anderen draußen?«, frage ich, stolpere über einen metallenen Kasten und wäre beinahe der Länge nach hingeflogen, hätte Matt mich nicht an meinem Arm hochgezogen.

»Vielleicht«, sagt er knapp, hält an einer Tür inne und lauscht.

»Vielleicht? Aber wir hatten doch einen Plan, oder nicht?«

»Der hat nicht so ganz funktioniert.«

Ich starre ihn von der Seite an. »Und wo sind sie jetzt?«

»Gute Frage«, murmelt er, und dann etwas lauter: »Aber sie werden gerettet, keine Sorge. Ich war für dich zuständig.«

»Moment, ich komm grad gar nicht mehr mit. Wir haben ein Rettungsteam für das Rettungsteam

»Sozusagen.«

»Und wen, wenn ich fragen darf?«

Matt stößt mit Leichtigkeit eine Tür auf. Dahinter befindet sich ein dunkles Treppenhaus. Die Lampen scheinen ausgefallen zu sein. »Die Avengers.«

Ein Schwindelanfall überkommt mich, als ich knapp hinter Matt die Treppe hochhechte. Die Avengers sind hier? Dad ist hier? Wann hat Matt sie überhaupt dazugeholt? Ich kann unmöglich tagelang in dem Raum gelegen haben. Und wenn unser ursprünglicher Plan gescheitert ist, was ist dann mit den anderen passiert? Wo sind Cass und Zach, und Alyssa und Marcelo?

Oben angekommen erwartet uns ein in Trümmern liegender Flur, mit einer sehr hässlichen Tapete. Matt will weitergehen, aber ich halte mich keuchend am Türrahmen fest. »Bin ein wenig aus der Form«, merke ich hustend an. Ich brauch nur ein, zwei Minuten, um wieder zu Atem zu kommen.

Und dann sehe ich ihn. Die grauen Augen streifen mich für eine Sekunde, bevor er von einem Agenten, der anscheinend einer von den Guten ist, weggezerrt wird. Wie ein Reh im Scheinwerferlicht bleibe ich stehen, unfähig, den Blick von ihm zu wenden. Meine Hände zittern. Meine Beine drohen, unter mir wegzuknicken.

Matt bemerkt das und berührt meine Schulter. »Wir müssen raus.«

Ich kann noch nicht einmal den Kopf schütteln, so paralysiert bin ich. Er ist hier, und er wagt es auch noch, mich anzusehen. Der Agent schiebt ihn knapp an uns vorbei durch den Flur. Für eine Sekunde atmen wir die gleiche Luft. Mir wird schlecht. Und dann lächelt er mich an. Das gibt mir den Rest. Ich sinke mit dem Rücken an der Wand auf den staubigen Boden, während alles in mir schreit.

Ich sollte mich nicht von ihm einschüchtern lassen. Ich bin so viel besser als er. Er ist ein Monster, er hat mein Vertrauen missbraucht. Er, der charmante Milliardärssohn mit dem makelhaften Lächeln. Ich habe mich täuschen lassen. Doch ich bin stark. Die anderen vier glauben an mich. Matt glaubt an mich. Ich lasse mich nicht unterkriegen, denn dann bekommt Brooklyn nur das, was er von vornerein geplant hat. Und diese Genugtuung werde ich ihm nicht gönnen.

Ich ergreife Matts angebotenen Arm, um mich wieder aufzurichten. Brooklyn ist an uns vorbeigegangen, in Richtung Ausgang, und dorthin bewegen wir uns jetzt auch. Matt sagt nichts, und dafür bin ich ihm dankbar. Die Sirenen haben mit ihrem ohrenbetäubenden Kreischen aufgehört.

Als erstes spüre ich den Luftzug. Zuerst bin ich verwirrt, weil es mir so ungewohnt vorkommt. Doch da ist sie eindeutig, die sanfte Brise, die durch die Bäume weht, das Laub zum Rascheln bringt und den Duft des Waldes – der Freiheit – in meine Richtung trägt. Ich bin nicht mehr in der Basis. Ich habe festgetretene Erde unter meinen Füßen, und als ich mich bücke streifen meine Finger über kleine Grasbüschel, die am Rand einer Mauer wachsen.

»Wow«, sage ich und lege den Kopf in den Nacken, um einen Blick in den nächtlichen Himmel zu erhaschen. Ich bemerke, dass Matt mich beobachtet. »Was ist?«

»Nichts«, sagt er schmunzelnd.

»Hey, ich lag gerade 'ne Ewigkeit in einem sonnenlosen Raum eingesperrt, da darf ich doch wohl mal die frische Luft genießen.«

»Judy!«

Jemand ruft meinen Namen und ich blicke mich suchend um, bis der Urheber der Stimme vor mir landet, in einem rot-goldenen Roboteranzug. Dad lässt ihn stehen und zieht mich in eine Bärenumarmung, die mir die Luft aus den Lungen presst.

»Dad, mir geht's gut«, murmele ich in seine Schulter.

»Gut? Nichts ist gut.«

»Ich hätte auf dich hören sollen.«

»Ja, das hättest du wirklich.« Er hält mich auf eine Armlänge Abstand. »Du schuldest mir eine Erklärung. Um genau zu sein eine Menge Erklärungen.«

»Dad...«, fange ich an, doch da hat er mich schon wieder in eine Umarmung gezogen. Er ist hier, um mich zu beschützen, so wie schon die ganzen anderen Male, als ich ihn brauchte. Tränen laufen mir über die Wangen und ich werde von heftigen Schluchzern durchgeschüttelt.

»Küken, was hast du dir nur dabei gedacht?«, flüstert er und drückt mir einen Kuss auf den Haaransatz.

Ich schlucke. »Ich – ich wollte den anderen nur helfen. Sie von diesen Experimenten befreien. Das haben sie nicht verdient. Ich dachte – ich dachte ich könnte es schaffen.« Aber nicht allein. Ich hatte ja Matt – als ich mich nach ihm umblicke, ist er nirgendwo zu sehen. Wie kann er so unauffällig verschwunden sein?

»Wie geht es dir jetzt?«, fragt Dad und lenkt meine Aufmerksamkeit wieder auf die Situation zurück.

Mein Magen grummelt. Wie lange ist es her, dass ich was Ordentliches gegessen habe? »Ich hab richtig Hunger. Auf Pizza.«

Dad lacht. Dann legt er beschützend einen Arm um mich und wir gehen weg von der halb zerstörten HYDRA-Basis. Wenigstens sind wir nicht fürs Aufräumen zuständig.

»Was ist eigentlich mit deinen Haaren passiert?«, fragt Dad, als er mich genauer betrachtet. »Noch ein Akt von Teenager-Rebellion?«

»Lange Geschichte... Wer waren diese Leute? Ich meine die anderen Agenten, die, die...« Ich will seinen Namen nicht aussprechen. »Die HYDRAs Handlanger verhaftet haben?«

»Keine Ahnung, irgendwelche britischen Geheimdienstler. Sie haben den Jet gesponsert.«

Ich habe noch so viele Fragen, aber jetzt, in der kühlen Nachtluft werde ich wieder ganz schläfrig. Wir werden alle Zeit der Welt haben. Nach einigen Minuten sehe ich einen schwachen Lichtschein hinter einer Baumgruppe, und kurz darauf auch den Jet, den Dad erwähnt hat. Die Luke steht offen, und auf der Rampe sitzt eine Person mit einem brünetten Pferdeschwanz. Die Decke um ihre Schultern rutscht herunter als sie aufspringt, um mich zu begrüßen.

»Judy, du lebst!« Cass hält ihren linken Arm in einer Schlinge, über ihrem Auge blüht ein violettes Veilchen, aber sonst scheint sie wohlauf zu sein.

»Tja, ich bin zäh«, sage ich müde lächelnd. »Die ganze Sache ist wohl irgendwie aus dem Ruder gelaufen, oder?«

»Das kannst du laut sagen.« Sie deutet mit ihrem gesunden Arm auf Zach. »Er hat's nicht so gut vertragen. Von den Kopfschmerzen ist er in Ohnmacht gefallen. Sieht süß aus, wenn er schläft.« Sie spielt an einem Zipfel der Decke herum und erzählt schnell, was während meiner Abwesenheit passiert ist, um die letzte Bemerkung zu überspielen.

Ich drehe meinen Kopf, um einen Blick ins Innere des Jets zu erhaschen. Er ist größer als derjenige, in dem wir damals von Stuttgart aus zum Helicarrier geflogen sind, auch ist er völlig anders aufgebaut. Also kein SHIELD Quinjet. Auf einer Liege sitzt ein hageres Mädchen, auf einer anderen ein dunkelhäutiger Junge mit kurzen, struppigen Haaren. In einem der Sitze sehe ich Alyssa, die den Kopf nach hinten gelehnt hat und anscheinend schläft. Über ihrem Auge klebt ein Pflaster. Zach liegt quer auf den beiden Sitzen ihr gegenüber. Marcelo kann ich nirgendwo sehen, genauso wenig wie Matt. Wo ist er nur hin?

Dad drängt mir eine Flasche Wasser auf, die ich fast in einem Zug leer trinke. Mir ist gar nicht aufgefallen, wie ausgedörrt mein Hals war. Doctor Banner ist auch hier, und nach etwa einer halben Stunde tauchen die anderen Mitglieder des Rettungskommandos auf.

Captain America geht ganz vorne, neben ihm ein Mann mit einem mechanischen Vogelanzug, den ich noch nie gesehen habe. Dads Kumpel Rhodey setzt mit seinem War Machine Anzug auf der Lichtung auf. Wie so viele Menschen in den Jet passen sollen, ist mir noch unklar. Die Agenten laufen knapp hinter den drei Helden, mit dabei haben sie die anderen zwei Jugendlichen.

»Wo ist Zoe?«, fragt das blonde Mädchen verwirrt. »Ich muss zu meiner Schwester.« Plötzlich klappen ihre Augen zu und sie sinkt zu Boden, wird aber vorher von einer Agentin aufgefangen.

Sie kommt mir bekannt vor. Als sie näherkommt, werden ihre Gesichtszüge klarer. Die Augen werden von einem brünetten Fransenpony verdeckt, aber ich bin mir so sicher, dass ich sie schonmal gesehen habe. Die Scheinwerfer des Jets erhellen ihre Gestalt.

»Melissa?«, frage ich ungläubig.

»Hallo Judy.« Sie zwinkert mir zu. »Brauchst du eine Mitfahrgelegenheit?«

»Aber–« Kann dieser Tag noch verwirrender werden? »Ich dachte du wärst eine Freundin von Will...«

»Bin ich auch. Aber keine Studentin im Auslandssemester. Und eigentlich heiße ich auch nicht Melissa.«

Wieso hat sie mich dann vor drei Jahren durch halb Amerika kutschiert? »Ich bin... total verwirrt.«

»Warte 'ne Sekunde, auf dem Flug können wir alles klären.« Sie gibt ein paar Anweisungen, wonach ein Teil ihrer Agenten zurückbleibt, weil nicht alle gleichzeitig mit dem Jet zurück nach New York fliegen können. Die örtliche Polizei wird alarmiert, die HYDRA-Agenten, soweit sie nicht geflohen sind, verhaftet und in ihrer Basis festgehalten. Ich traue mich nicht zu fragen, was mit Brooklyn passieren wird. Ich hoffe, nur das Schlimmste. Denn das hat er verdient.

Rhodes bleibt mit bei der Basis, genauso wie der Mann, der sich als Sam Wilson vorgestellt hat und Captain America. Dad bleibt bei mir im Jet. Ich lehne meinen Kopf an seine Schulter. Dabei schwirrt mir nur ein Gedanke im Kopf herum: Wo ist Matt? Er kann nicht einfach so abgehauen sein, nicht nach alldem, was wir gemeinsam durchgemacht haben. Ich lasse meinen müden Blick über die anderen schweifen. Cass und Zach sind beide eingenickt, ihre Köpfe aneinander angelehnt. Alyssa redet beruhigend auf das Mädchen ein, was vorhin nach ihrer Schwester gerufen hat. Marcelo sitzt bei dem schwarzhaarigen Mädchen, Yuna, und dem Jungen, Xander; auch er führt eine Unterhaltung mit ihnen, aber die Worte wabern um meine Ohren herum, ohne wirklich Sinn zu ergeben.

Melissa – oder sollte ich lieber sagen Agent Donna Ellington? – textet mich die ersten paar Minuten zu, merkt aber bald, dass meine Aufmerksamkeitsspanne überschritten ist.

Ich will einfach nur noch schlafen. Eigentlich müsste das jetzt ganz einfach gehen, schließlich bin ich hundemüde und erschöpft von den Ereignissen der letzten Tage. Außerdem bin ich in Sicherheit. Weit weg von der Strahlung. Auch, wenn ich sie immer noch in mir trage. Sie hat mich nicht umgebracht, vielleicht hätte sie es, wenn ich noch länger geblieben wäre. Allein der Gedanke an den dunklen, giftigen Raum hält mich wach. Und das bin ich auch noch, als der Jet auf dem Dach des Avengers Tower landet. Meine Augenlider sind schwer wie Blei, und trotzdem offen. Ich nehme durch einen hellgrauen Schleier wahr, wie Dad mich hochhebt. Ein sanftes Schunkeln, als er mich irgendwo hinträgt. Eine weiche Matratze, in die ich einsinke. Dann ist da ein Pieksen in meinem Arm, und schließlich – erleichternde Dunkelheit.

-–-

Ohne euch lange mit einer Author's Note zu nerven: Das vorletzte Kapitel.

(Btw ich bin so stolz auf mich, wöchentliche Updates xD)

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