16 | Judy | it begins

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Die gute Nachricht ist: Wir sind alle drei ohne Verluste von Körperteilen zurück nach West Virginia teleportiert. Die weniger gute Nachricht: Alyssa steht seit fünf Minuten an einen Baum gelehnt und übergibt sich. Mittlerweile würgt sie nur noch gelegentlich.

»Beschissener Nebeneffekt. Das legt sich«, versuche ich sie zu trösten.

Matt dehnt seine Arme und reibt sich den Nacken.

»Wie geht's dir?«, frage ich.

»Ganz okay, denke ich«, sagt er und mustert unsere Umgebung. Wir stehen, mal wieder in einer ländlichen Gegend mit Bäumen und Sträuchern. »Wo sind Zach und Cass?«

»Sekunde.« Ich habe einen Chat mit einer sicheren Verbindung aufgestellt, die quasi unauffindbar ist. Niemand sollte uns aufspüren können. Im Übrigen ist das gerade unser größtes Problem; vor allem nach der Aktion in dieser Lagerhalle. Das Bild der scharfen, rotierenden Klinge taucht in meinem Kopf auf. Ich wische es beiseite und schicke Cass eine Nachricht. »Ich hoffe sie haben irgendetwas gefunden, wo wir sicher untertauchen können.«

»Untertauchen? Judy, da draußen sind noch mehr Leute, die unsere Hilfe brauchen.«

»Das sagst du jetzt schon zum was-weiß-ich-wievielten Mal, aber ich glaube nicht, dass es noch so viele sind«, gebe ich zu bedenken. »Sehen wir mal, was das Orakel sagt.« Ich hole das GPS-Gerät aus meinem (um einige Klamotten erleichterten, danke Matt) Rucksack. »Alles klar... Tess, streich die uns bekannten Werte aus der Karte raus, und lade die anderen neu.«

»Bitte warten... Es gibt noch ein weiteres Zielsubjekt.«

Matt beugt sich über das GPS-Gerät. »Eine Person? Sicher?«

»Es handelt sich hier um die stärkste Energieanomalie ihrer Art.«

»Nein, es muss noch mehr geben. Kannst du deine KI weitersuchen lassen?«

Ich seufze. »Ich kann's versuchen. Aber ich schätze mal viel bringen wird das nichts.« Vielleicht gibt er dann Ruhe.

Als Alyssa zu uns stößt, immer noch ziemlich blass um die Nase, erreicht mich eine Nachricht von Cass. »Der Straße folgen, am nächsten Feldweg rechts und dann bis zu einer Scheune«, lese ich vor.

»Eine Scheune?«, fragt Alyssa skeptisch.

»Sieht so aus. Na dann, auf geht's.« Ich bin heute ja noch nicht genug gelaufen, gerannt oder geklettert. Ich betaste meine Haare. Und dann musste auch noch das passieren. Großartiger Tag, und es ist erst Mittag.

Besagte Scheune befindet sich am Rand eines Maisfeldes. Wer auch immer sich hier eine Scheune hinbaut, benutzt man zur Maislagerung nicht Silos? Auf einem Flecken Gras campen Zach und Cass. Letztere winkt uns heran, steht auf und läuft zu mir.

»Zum Glück seid ihr da. Ich schwöre, Zach ist der nervigste Mensch auf diesem Planeten«, sagt sie mit einem Seitenblick zu ihm. Dann wendet sie sich zu Alyssa. »Hi, ich bin Cass. Das wandelnde Thermostat, sozusagen.«

»Alyssa Davis, hey. Und ihr seid also ›die beiden anderen‹?«

»Sieht so aus. Also, wir haben noch nicht in die Scheune reingeguckt, als Vorsichtsmaßnahme. Wer weiß, was da drin sein könnte, aber es ist auf jeden Fall ein cooler Ort,«

»Ein tollwütiger Traktor?«, schlage ich vor, stelle meinen Rucksack vor dem Holztor auf den Boden und hole ein paar Dietriche heraus.

»Funktioniert das echt?«, fragt Zach erstaunt. Er und Matt gesellen sich zu den beiden Mädchen, die neben mir am Scheunentor stehen.

»Das werden wir gleich sehen. Mann, wieso kann keiner von euch Telekinese? Oder wenigstens Metall-Beherrschung, was weiß ich... ha!« Triumphierend halte ich das Schloss in die Höhe.

»Das war aber auch schon rostig«, bemerkt Matt.

»Jetzt gönn mir doch mal mein Siegesgefühl.« Augenverdrehend werfe ich das Schloss zur Seite und lehne mich gegen das Tor. Knarzend öffnet es sich und gibt den Blick auf einen leeren, hallenartigen Raum frei. Der Boden ist nackte Erde, kein einziger Strohhalm liegt herum, geschweige denn ein Maiskolben. »Gute Nachricht an die unter uns mit Heuschnupfen«, sage ich.

Alyssa schnuppert in der Luft herum. »Hier wurde kein Heu gelagert. Jedenfalls seit langer Zeit nicht mehr.«

»Und das kannst du riechen? Ist ja krass«, sagt Zach beeindruckt.

Matt geht an mir vorbei in die Mitte der Scheune und besieht sich die Räumlichkeiten. »Sieht so aus, als würden wir hier erstmal unser Lager aufschlagen.« Da spricht wohl der Pfadfinder in ihm. Wer weiß, vielleicht sammelt er nachher noch ein paar Pilze zum Abendessen. »Ich bin dafür, dass wir uns einen Überblick verschaffen, einen Plan möglichst«, fährt Matt fort.

»Die Idee finde ich gar nicht so übel«, meint Cass, wirft ihre Jacke auf den Boden und setzt sich hin. »Und erzählt bitte: Ist irgendwas aufregendes passiert?«

»Also bis darauf, dass wir beinahe erschossen, beziehungsweise zersägt wurden-« Ich lasse mich ebenfalls auf der Erde nieder. »Nein, nichts Besonderes eigentlich, bei euch?«

»Wow, stopp mal, ihr wurdet gejagt?«

»Durch ein altes Sägewerk, ja.«

»Wir können nur hoffen, dass die uns nicht finden«, sagt Matt. »Judy, kannst du irgendwie dafür sorgen?«

»Soll ich einen Hexenkreis um die Scheune legen?«, witzele ich, hole auf Matts ernsten Blick hin aber mein Notebook heraus. »Ich müsste eine Art Gegenstrahlung aussenden oder irgendetwas, das stark genug ist, eure zu überdecken.«

»Kurze Zwischenfrage, von was für einer Strahlung reden wir hier?«, fragt Alyssa.

»Gammastrahlung. Rund 1200 Kilo-Elektronenvolt, aber aus irgendeinem Grund komplett unschädlich. Also, für Außenstehende.«

»Also brauchen wir Bleischürzen. Wie beim Röntgen«, schlägt Zach vor.

»Zach, das ist eine total dämliche Idee, weißt du wie schwer diese Teile sind?«, sagt Cass.

»Nein, er hat Recht. Eigentlich. Entweder eine Gegenstrahlung oder eine Dämmung. Etwas, wo die Strahlung nicht durchkommt, ergo, kein Signal. Selbst bei einer Dicke von 'nem Viertel Millimeter verringert sich die Strahlendosis um 90 Prozent.«

»Wie wollen wir das anstellen? Wir können schlecht einen Haufen Bleischürzen aus einem Krankenhaus klauen.«

Mittlerweile sitzen wir alle fünf um das Notebook herum auf dem Boden.

»Mit fällt schon was ein«, sage ich zuversichtlich. »Jetzt müssen wir uns noch um den Transport des letzten Mitglieds unserer Gesellschaft kümmern.«

»Das vorerst letzte«, verbessert mich Matt.

»Wieso vorerst?«, fragt Zach.

»Matt denkt, es gibt noch mehr als euch fünf.«

»Gar nicht mal so abwegig, eigentlich. Vielleicht haben die ein Gegenstrahlungsfeld erzeugt. Um eben nicht gefunden zu werden. Vielleicht sind sie uns da einen Schritt voraus.«

Alle starren Alyssa an. Sie zerschlägt meine Argumentation zwar vollkommen, scheint aber eine Ahnung von diesen Dingen zu haben.

»Okay, Leute, folgende Aufteilung: Alyssa bleibt jedenfalls hier - auch, weil du bestimmt nicht nochmal teleportieren willst - und Matt geht zu unserem neuen Freund Schrägstrich neuer Freundin mit-«

»Können wir bitte Zach loswerden?«, flüstert Cass mir ins Ohr.

»-mit Zach. Ihr bekommt das schon hin. Cass bleibt mit hier bei uns.«

Zufrieden lehnt sie sich zurück auf ihrem Platz. »Großartig.«

Matt und Zach stehen auf, während Cass und Alyssa noch auf meinem Notebook die Karte auswerten. Ich weiß noch nicht so ganz, wie ich das Versprechen einer magischen Abwehr einhalten soll, aber für's erste muss es reichen, wenn wir vorsichtig sind. Obwohl ›aufteilen‹ da wohl nicht die beste Idee ist.

»Judy?« Matt steht vor dem Tor und wartet, bis Zach seinen Kram eingepackt hat.

Ich lehne mich gegen den Holzrahmen. »Ich weiß, du willst nicht hierbleiben, aber das ist momentan unsere einzige Möglichkeit. Nachher sind wir, wenn alles glatt läuft, zu sechst, und dann kommen wir hier mit Gruppen-Teleportation nicht weg.«

»Ich weiß... Deshalb brauchen wir einen verdammt guten Plan.«

»Yep. Wir berufen besser ein Meeting ein.«

»Was macht ihr, während wir weg sind?«

»Oh, Sightseeing, die Landschaft bewundern... Diese Katastrophe in Ordnung bringen.« Ich deute auf meine Haare. »Wir sehen mal nach etwas Essbarem, machen es uns ein bisschen gemütlich.«

Matt nickt langsam, blinzelt nach oben, dann wendet er sich an Zach. »Bereit?«

»Ehrlich gesagt: nein«, sagt dieser nervös.

»Viel Spaß, Jungs.« Cass ist ebenfalls im Tor aufgetaucht und beobachtet mit mir, wie die beiden in einem blauen Schimmer verschwinden. »Yay, Mädels-Zeit«, sagt sie grinsend. »Übrigens, wir haben eine Tankstelle entdeckt, ein paar Meilen von hier. Also ich hab Hunger auf ein paar Schokoriegel. Was sagt ihr?«

»Sollten wir nicht lieber vorsichtig sein?«, meint Alyssa.

»Ich schätze mal so ein kleiner Ausflug ist okay«, sage ich. »Außerdem bezahlen wir in Bar.«

Matt wird das definitiv nicht gutheißen, aber mein Magen denkt momentan lauter als mein Kopf. Also sind wir fünf Minuten später auf dem Feldweg zurück zur Straße, und nach weiteren dreißig Minuten an einer einsamen Tankstelle mit zwei Zapfsäulen. Cass stößt als erste die Glastür auf und macht sich direkt auf den Weg zum Süßigkeitenregal. Ich durchstöbere die Haushaltsartikel und nehme auch noch ein paar Dosen voll Fertig-Futter mit. Auf dem Weg zur Kasse komme ich an Alyssa vorbei, die bei den Zeitschriften steht und durch eine Zeitung blättert.

»Irgendwas Interessantes?«, frage ich, voll beladen mit Dosenfutter und sehe ihr über die Schulter.

»Nicht wirklich. Das Layout ist grauenvoll, und die Bilder amateurhaft.«

»Äh, so genau habe ich mich noch nicht mit Zeitungen beschäftigt, aber ich stimme dir zu.«

Raschelnd legt Alyssa die Zeitung zurück in den Zeitungsständer. »Meintest du das ernst? Die ganze Heilungs-Geschichte? Denn ich ertrag das nicht mehr lange. Mein ganzes Leben wird dadurch auf den Kopf gestellt, ich bin letztes Semester fast durchgefallen. Das kann so nicht weitergehen.«

Ich ändere meine Armposition und hindere eine Dose am Herunterfallen. »Mein Dad ist ein Genie und Doctor Banner ein brillanter Wissenschaftler. Es gibt nichts, was sie nicht hinbiegen könnten. Versprochen.« In letzter Zeit gebe ich ganz schön viele Versprechen. Hoffentlich übersteigt das nicht mein Pensum.

»Hast du nie daran gedacht, wie unglaublich nützlich solche Kräfte sein können?«, fragt Cass. In den Armen hält sie Unmengen and Snacks, Schokolade und Chips, und ist damit fast noch mehr beladen als ich.

»Und wozu? Damit ich Deo-Marken in Talentshows erriechen kann? Glaub mir, ich habe versucht, die positive Seite daran zu sehen, aber die wird von enormen Mengen an Lärm und Gestank überdeckt. Also nein, ich denke nicht, dass mir meine ›Fähigkeiten‹ irgendwie nützlich sein könnten. Auf keine Weise.«

Der gelangweilte, unterbezahlte Mann an der Kasse verzieht keine Miene als wir unsere Einkäufe auf die Theke fallen lassen, auch nicht, als ich den (doch recht hohen) Betrag Bar bezahle. Jeder von uns nimmt zwei prall gefüllte Tüten und wir verlassen die Tankstelle.

»Anstrengender als eine Shopping-Tour«, schnauft Cass bereits nach zehn Minuten.

»Das sind die Kalorien. Die ziehen dich runter«, bemerke ich und stelle die eine Tüte kurz ab, um meine Hand auszuschütteln. »Wir hätten einen Truck kurzschließen sollen.«

Langsam finde ich Gefallen an der gesamten Situation. Ich bin 500 Meilen von meinem Zuhause entfernt, Dad dreht mittlerweile wahrscheinlich komplett durch, wir werden gejagt, ich wurde beinahe umgebracht, und wir müssen uns in einer alten Scheune mitten in West Virginia verstecken. Aber, hey, wenigstens habe ich eine neue Frisur. Das, was Cass mit meinen Haaren angestellt hat, sobald wir zurück an unserem Campingplatz waren, sieht gar nicht mal so übel aus. Sie sind jetzt - glücklicherweise auf beiden Seiten - etwas kürzer als schulterlang, und soweit ich das in meiner Handykamera beurteilen konnte, gut geschnitten.

»Erzählst du eigentlich noch die ganze Story?«, fragt Cass aufgeregt. »Ich brenne darauf, alles zu wissen.«

»Nah, ich denke die Jungs werden auch etwas zu erzählen haben, also warum warten wir nicht bis nachher. Dann können wir uns austauschen, lustige Lagerfeuergeschichten erzählen, Marshmallows rösten - haben wir Marshmallows?«

Cass hält eine Packung hoch. »Natürlich. Was wäre ein Campingtrip ohne Marshmallows?«

»Weniger Tiermisshandlung«, sagt Alyssa trocken. Auf unsere verwirrten Blicke fügt sie noch hinzu: »Ich bin Vegetarierin. Hab' ziemlich viel Recherche zu dem Thema betrieben, also...« Sie zuckt mit den Schultern.

Damit scheint sie bei Cass einen Nerv getroffen zu haben. Sie richtet sich auf und beginnt eine hitzige Auseinandersetzung mit Alyssa, aber auf ihre Gegenargumente schien sie nicht gefasst zu sein, was in Verwirrung ihrerseits endet. Ich halte mich aus der Diskussion raus und betaste meine Haare. Ehrlich gesagt gefallen sie mir so sogar noch besser. So eine Frisur ist viel luftiger, und gerade jetzt im Sommer sehr praktisch.

Ein Schein aus blauem Licht auf der Wiese vor der Scheune lässt mich neugierig aufblicken, stört Cass und Alyssa allerdings nicht bei ihrer Diskussion. Wie zu erwarten sind es Matt und Zach, und sie haben jemanden mitgebracht. Keiner von ihnen sieht auf irgendeine Weise verletzt oder gekidnappt aus. Gute Nachrichten. Sogar Matt scheint es gut zu gehen. Vielleicht gewöhnt sich sein Organismus endlich an das Teleportieren.

Die drei Jungs kommen gemächlich näher, der Unbekannte in der Mitte sieht ein wenig verwirrt aus, aber das tut jeder nach einem Sprung von 500 Meilen in so kurzer Zeit. Ich komme ihnen entgegen.

»Hey, wie lief's?«, frage ich Matt auf einige Meter Entfernung.

»Ganz gut. Bis auf ein paar Probleme mit der Flughafen-Security.«

Ich ziehe fragend eine Augenbraue hoch.

»Erklär' ich dir später. Was ist mit deinen Haaren?«

»Erklär' ich dir später.« Grinsend wende ich mich an den Neuankömmling. »Hi, ich bin Judy Stark. Willkommen im Team.«

»Marcelo«, sagt er knapp. »Ich hoffe ihr können alles erklären, weil deine Freunde haben mich einfach mitgenommen ohne wirklich zu sagen warum.«

Neben seinem italienischen Akzent nehme ich noch den leichten Hauch von Zigarettenhauch wahr, der ihn und seine dunklen Locken umweht, genauso wie eine Aura des Geheimnisvollen. »Wir sind jetzt komplett, also sollte eine Menge an Dingen heute aufgeklärt werden«, verspreche ich.

Die Jungs haben - keine Ahnung wie - ein kleines Lagerfeuer vor der Scheune angezündet. In einem Gebilde aus Altmetall hängt ein kleiner Topf, in dem der Inhalt einer von Cass ausgesuchten Dosen vor sich hinblubbert.

»Ich war noch nie campen«, sagt Cass und wirft sich fröhlich noch ein Marshmallow in den Mund. »Meine Eltern schleppen mich immer nur in Museen und auf Flohmärkte.«

»Ich liebe Flohmärkte«, schwärmt Alyssa. »Einmal hab ich eine einwandfreie Spiegelreflexkamera gefunden. Noch komplett funktionstüchtig!«

Wir quatschen eine ganze Weile über dies und das, bis wir uns hungrig über das Essen hermachen. Für jeden einzelnen von uns war dieser Tag stressig. Es stellt sich heraus, dass die Jungs Marcelo auf dem Kennedy-Flughafen in New York überrascht haben (nachdem sie fast eine Stunde nach ihm suchen mussten) und aufgrund der Flughafen-Security nur wenig Zeit hatten zu verschwinden.

Marcelo stellt seine Schüssel beiseite und lehnt sich an die Scheunenwand. »Wie kommt Iron Man's Tochter dazu, Jugendlichen mit mutierte Gene zu helfen?«

»Du kennst Iron Man?«, frage ich, immer noch kauend.

»Ich wohne in Europa, nicht hinter Mond.«

Ich erzähle die ganze Geschichte ab dem Fund des merkwürdigen GPS-Geräts, wie ich Matt getroffen habe, von meinem Versuch, SHIELD zu hacken, der Flucht aus New York und die anschließende Suche nach den anderen. Mit Matts Hilfe rekonstruiere ich den Angriff der beiden Agenten im Sägewerk, woran ich nun wirklich nicht gerne erinnert werden will. Ab hier ist nun auch den anderen klar, wie ernst unsere Lage ist.

Womit wir zum Tagesordnungspunkt Nummer Eins kommen.

Ich klatsche in die Hände. »Hiermit erkläre ich diese außerordentliche Sitzung des Verbands für die Rettung niedlicher kleiner Koalabären für eröffnet.«

»Was Judy damit sagen möchte«, Matt blickt zu mir »ist, dass wir einen Plan brauchen, der unser weiteres Handeln bestimmt. Wir können uns nicht ewig hier verstecken, aber auch nicht nach Hause zurückkehren. Unsere beiden Optionen sind klar: Entweder begeben wir uns auf die Suche nach den Leuten, die uns das angetan haben und retten diejenigen, die diese Leute in Gewahrsam haben-«

»-oder wir holen uns Hilfe von Personen, denen wir vertrauen können. Allerdings ist die Liste momentan sehr eingeschränkt, da SHIELD gestürzt wurde«, sage ich.

»Wir können niemandem vertrauen, Judy. Begreif das doch, wir sind auf uns allein gestellt!«

Mir fällt jemand ein, der uns helfen könnte, aber das erwähne ich nicht. Noch nicht. Cass spießt ein Marshmallow auf einen Stock und hält ihn über das Lagerfeuer.

»Was haben wir denn gegen die?«, fragt Alyssa, und rutscht ein Stück weg von Cass.

»Euch fünf und das hier«, sage ich und tippe an meinen Kopf. Wow, ich sitze hier mit fünf Supermenschen und habe nichts außer einer sprechenden Brille und Intelligenz. »Zählen wir durch: Matt kann sich teleportieren, die Gestalt von jemand anderem annehmen und hat manchmal Visionen - gibt es das betreffend eigentlich Neuigkeiten?«

Er schüttelt den Kopf.

»Dann haben wir Zach, den Gedankenleser, und Cass, die die Temperatur von Gegenständen regulieren kann - kurze Frage, kannst du eigentlich ein Marshmallow mit deinen Händen rösten?«

»Judy, das ist gerade unwichtig«, schaltet sich Matt ein.

Cass probiert es trotzdem aus. Es funktioniert. Begeistert leckt sie sich die karamellfarbene Pampe von den Fingern.

Matt fährt fort. »Alyssa hat ein super gutes Gehör, dazu einen sehr ausgeprägten Geschmacks- und Geruchssinn.«

»Wie bei Ratatouille«, flüstert Cass Zach zu, und beide fangen an zu kichern. Aha, dabei dachte ich, sie kann ihn nicht leiden?

»Marcelo, was ist mit dir?«

Der Italiener saß die meiste Zeit schweigsam zwischen mir und Matt. Jetzt sieht er auf. »Ich bin stark...«, sagt er zögernd. »Und ich kann schnell rennen.«

»Na das ist ja mal nützlich«, sagt Cass und beginnt, noch ein Marshmallow zwischen ihren Fingern zu brutzeln.

»Leute versteht ihr das nicht?« Matt rückt näher ans Feuer heran. Im Schein der Flammen glüht seine Haut und seine Augen leuchten. »Wir haben Fähigkeiten, von denen andere nur träumen können. Wir könnten Menschenleben retten.«

»Oder uns umbringen und Schaden anrichten«, wende ich ein. »Matt, wenn ich mich recht erinnere wolltest du deine Kräfte loswerden.«

»Jetzt nicht mehr. Ich kann sie kontrollieren. Wir alle können das lernen. Dazu müssen wir aber erstmal diejenigen finden, die für all das hier verantwortlich sind. HYDRA. Ich verwette mein Skateboard darauf, das es HYDRA ist. Sie wollten - sie haben mich rekrutiert. Und ich hab denen auch noch geglaubt.«

Schweigen. Das Lagerfeuer knistert vor sich hin. Im Gegensatz zu der Pfadfinderrunde gestern wirkt die Stimmung unserer Gemeinschaft ziemlich bedrückt.

Ich ergreife die Initiative. Irgendwie müssen wir ja zu einer Einigung kommen. »Also, wer ist dafür, dass wir uns auf eine lebensgefährliche Mission begeben, ohne Aussicht auf Erfolg, die wahrscheinlich in unserem Tod endet?«

Matt hebt, ohne zu zögern, die Hand. Zach und Cass folgen.

»Und wer will in den nächsten Tagen nicht sterben?« Ich strecke meinen Arm in die Luft. Alyssa ebenfalls. Ich sehe zu Marcelo. »Es hängt an dir, Marcie.«

Er blickt auf, als hätte er nicht richtig zugehört. »Ich werde mit helfen. Die anderen zu retten.«

Super. Die vielgelobte Demokratie hat wohl auch ihre Grenzen.

»Hilfst du uns trotzdem?«, fragt Cass.

Verbissen nicke ich. Alleine lassen kann ich den Trupp auf keinen Fall. Außerdem, wenn ich die Leitung übernehme, kann ich vielleicht verhindern, dass sie wegen schlechter Planung draufgehen.

Matt nickt, sichtlich zufrieden. »Morgen werden wir sehen, wozu unserer Kräfte wirklich gut sind.«

Die anderen - am lautesten von ihnen Cass - schnarchen seit geraumer Zeit vor sich hin. Wahnsinn, wie sie auf dem unbequemen Boden schlafen können. Ich habe letzte Nacht schon in einem Zelt übernachten müssen, und so langsam reicht es mir. Außerdem sehe ich jedes Mal, wenn ich meine Augen schließe, die scharfe, kreischende Säge vor mir. Ich rolle auf die andere Seite und versuche an etwas anderes zu denken.

Wir werden verfolgt... jemand will uns umbringen... Dad wird mich umbringen...

Nein, das wird heute nichts mehr. Leise stehe ich auf, ziehe mein Notebook aus meinem Rucksack und klettere einhändig die Leiter ins Gebälk hinauf. Mit dem Rücken an einen Balken gelehnt (nicht wirklich bequemer als der Boden) klappe ich das Notebook auf.

Alles klar, aufgehört habe ich mit der Suche nach Matt, dem gruseligen Projekt namens ›Durchlauf 3‹ (wer auch immer sich diesen Namen ausgedacht hat) und dem Erstellen eines Algorithmus' zur Suche von genmanipulierten Teenagern. Damit komme ich jetzt zurück zu dem Mord an Nadias Familie. Irgendwo muss ich mit dem Versprechen-Einlösen ja anfangen.

2. Februar 2013, Marshall und St. Petersburg, gebe ich in die Suchzeile des Computerprogramms ein. Sofort öffnen sich etwa ein Dutzend Dokumente, die ich Schritt für Schritt abarbeiten muss. Die Nacht ist noch lang.

Thomas Marshall, amerikanischer Botschafter, verheiratet mit Svetlana Orlova, drei Kinder - ja ja ja. Lebenslauf - ohne Makel.

»Was versteckst du, Thomas?«, murmele ich.

Die nächste Datei enthält Familienfotos. Die Zwillinge Boris und Mikael, hinter ihnen der Vater der Familie, und daneben Nadia und ihre Mutter, alle fünf in Winterkleidung vor einem verschneiten Hintergrund. Ich schließe den Ordner wieder.

Irgendwen muss Thomas verärgert haben. Der Fall wurde nie aufgeklärt, wie Nadia sagte, alle nahmen es als Autounfall hin. Wer könnte ein Motiv haben? Nadias Onkel Nikolai Orlov? Ich meine, er ist Berater einer Waffenfirma, er hat definitiv Dreck am Stecken. Aber würde er so weit gehen, seine eigene Schwester und deren Familie zu töten?

Mal sehen, was SHIELD über den Fall zu berichten hat.

Wie zu erwarten war, nichts. Zumindest oberflächlich. Aber sie hätten es definitiv getan, so blöd können sie nicht gewesen sein. Das von HYDRA unterwanderte SHIELD allerdings... Ich blicke von dem hellen Bildschirm auf.

»HYDRA«, flüstere ich in die muffige Dunkelheit des Dachgebälks. Das war HYDRAs Werk. Bei SHIELD wurde der Mord einfach durch die Agenten der Parasiten-Organisation vertuscht. Alles führt auf die zurück. Sie sind es, die Matt manipuliert haben, und die uns jagen.

Das Video. Jetzt müsste es verfügbar sein, ohne dass ich einen Alarm auslöse und innerhalb einer halben Stunde ein Haufen uniformierter SHIELD-Agenten vor dem Scheunentor steht. Ich halte den Atem an, als sich die Videodatei öffnet.

Ein stark verpixeltes Bild erscheint. Man erkennt eine asphaltierte Straße, die von Scheinwerferlicht erhellt wird. Am Rand der Straße fliegen dunkle Bäume vorbei. Der Ton funktioniert, allerdings ist nur das Brummen des Motors zu hören. Wie aus dem Nichts erscheint eine Person auf der Fahrbahn. Der Fahrer reißt das Lenkrad herum, um einen Zusammenstoß zu verhindern. Es gibt einen lauten Krach, das Geräusch zersplitternden Glases, und im linken Bildrand ist die verkohlte Rinde eines Baumes zu sehen. Die Kamera hat einen Riss. Links kommt eine vermummte Gestalt näher, geht mit großen Schritten am Bildschirmrand vorbei und öffnet, dem folgenden Geräusch zu urteilen, die Beifahrertür. Schreie und Wimmern folgt, begleitet von einem Zischen, das aus der Motorhaube dringt. Dann wird es still. Stiefel knirschen im Schnee, die Gestalt bleibt direkt vor der Kamera stehen. Dann duckt sie sich und starrt direkt hinein.

Ich zucke zusammen. Das Gesicht einer Mörderin. Hier endet das Video, aber ich habe genug gesehen. Als ich das Video schließe, ploppt ein neuer Ordner auf.

Polizeibericht ... Am Unfallort wurden keine Bremsspuren gefunden. Trotzdem befand sich das Auto mehrere Meter neben der Fahrbahn, nachdem es einen felsigen Abhang hinuntergestürzt ist. Es brannte vollständig aus -

Warte... das habe ich schonmal gelesen. Mein Blick fällt auf das Datum. Nein. Ich klappe den Laptop zu. Mit dem Stichwort 2. Februar hat mir das System nicht nur Zugang zu diesem Tag im Jahr 2013 gegeben, sondern in allen Jahren. 2006. Der zweite Februar 2006. Der Tag, an dem Mum starb.

SHIELD hat Berichte über Mum's Tod.

Ich sollte diese Dokumente nicht lesen. Ich sollte alles schließen und versuchen zu schlafen. Morgen wird ein langer Tag. Mein Finger schwebt über der Escape Taste.

Ich muss es wissen. Und dann fange ich an zu lesen. Ich lese alles, was ich finden kann. Schon von Beginn an ist eins klar: Mum ist nicht bei einem Autounfall gestorben. Es gibt Bilder, die von einer Straßenkamera aufgenommen wurden. Mum's Leihwagen und dahinter eine Person auf einem Motorrad. Sie sieht verdächtig nach der Frau aus, die vor dem Auto der Marshalls stand. Ich vergleiche die beiden Bilder.

Auf einen Schlag wird es mir klar.

Wer auch immer an dem Mord an Nadias Familie schuldig ist, hat auch meine Mutter getötet.

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Surprise surprise, guess who's still alive.
Ich habe euch ganz schön lange hängen lassen, und zu sagen, es täte mir nicht leid, wäre gelogen. 😅

Deswegen gibt es heute ein etwa längeres Kapitel, und in nächster Zeit wird es definitiv weiter gehen. Wer weiß, vielleicht kommt sogar dieses Jahr noch ein weiteres Kapitel?

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