13 | Judy | the kids aren't alright

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Seit wann ist mein Bett so unbequem? Wieso ist es so kalt in meinem Zimmer, obwohl die Temperatur immer automatisch angepasst wird? Wo ist meine Decke? Liegt da jemand neben mir? Sofort bin ich hellwach, über mir sehe ich nur das Blau einer Zeltplane. Ich lasse den letzten Tag Revue passieren und entspanne mich ein wenig. Matt, SHIELD und HYDRA, Wanderung, Wald, Campingplatz. Okay.

Matt sitzt mit dem Rücken an die Zeltwand gelehnt da. »Gut geschlafen?«, fragt er.

»Es ging.« Als ich mich aufrichte, meldet mein Rücken, dass es ganz und gar nicht ging. »Wie lang bist du schon wach?«

»'Ne Weile.«

Was soll das bedeuten? Dass er mich beim Schlafen beobachtet hat? Darüber will ich lieber nicht länger nachdenken, Matt scheint ohnehin mehr über mich zu wissen, als ich ihm erzählt habe. Ich schnappe mir meinen Rucksack und die Jacke, und krauche aus dem Zelt ins Freie. Der Pfadfindertrupp ist noch nicht zu sehen. Ich fände es sowieso besser, wenn wir unauffällig verschwinden würden. Sonst bereiten wir vermutlich noch mehr Probleme. Vielleicht gehen wir einfach wieder ein Stück in den Wald hinein, dann übermittelt uns Tess den ersten Standort, und Matt teleportiert uns dort hin. Ich blinzele in den blauen Himmel hinaus. Wie's aussieht wird heute wieder ein perfekter Sommertag. Ohne Wolken, ohne Regen, ohne Abkühlung. Hervorragend.

»Matt?«, rufe ich in das Zelt hinein. »Wir treffen uns vor den Duschhäuschen.« Ich glaube, daran sind wir gestern vorbeigekommen. Mehr als eine Katzenwäsche ist allerdings nicht drin, weil ich kein Handtuch dabeihabe. Und bei meiner Kleidungsauswahl habe ich wohl blind in den Schrank gegriffen. Meine Haare lasse ich offen. Wird schon gehen.

Als ich mein Handy einschalte, sehe ich zwei weitere entgangene Anrufe von Dad. Ich weiß immer noch nicht, wie ich es ihm sagen soll. Vielleicht bin ich kurzfristig zu Celly gefahren und mein Akku war leer? Yep, das klingt nach einer guten Erklärung. Und ich komme nicht drumherum, ihn anzurufen, sonst schickt er einen ganzen Suchtrupp, die Air Force und die Avengers los, um mich zu finden. Also verlasse ich das Toilettenhäuschen und wähle Dads Kontakt. Es klingelt nur zweimal.

»Judy? Bist du das?« Dad klingt müde, entweder habe ich ihn gerade aufgeweckt, oder er hat nicht geschlafen.

»Ja, hi Dad.«

»Ich hab dich bestimmt zwanzig Mal angerufen, wo zur Hölle treibst du dich rum?«

»Ich bin zu Celly gefahren, kurzfristig«, lüge ich.

»Ohne mir Bescheid zu sagen? Wieso bist du nicht ans Handy gegangen?«, fragt er, der Ärger in seiner Stimme ist deutlich zu hören.

»Mein Akku war leer.« Ich spüre, dass er mich nicht glaubt. Kein Wort. Aber wenigstens weiß er jetzt, dass er sich keine Sorgen machen muss.

»Wenn da dieser Brooklyn etwas damit zu tun hat, dann schwöre ich-«

»Warum sollte er? Dad, mir geht's gut. Ich ruf dich später nochmal an, Tschüss.«

»Junge Dame, du kommst sofort nach Hause, sonst-«

Ich lege auf und lehne mich an die Wand hinter mir. Dad ist sowas von wütend. Wie krieg ich das nur wieder geradegebogen? Und überhaupt, wieso denkt er, Brooklyn hätte etwas damit zu tun? Ich höre Schritte und fahre hoch. Es ist nur Matt. Ich straffe meine Schultern und versuche, mir nichts von dem Telefonat anmerken zu lassen. »Hey. Sind deine Powerlevel wieder auf Maximum? Denn das werden wir brauchen.«

»Hab mich nie besser gefühlt.« Er grinst, aber unter seinen Augen liegen Schatten, als hätte er schlecht geschlafen.

»Also dann. Ich dachte, wir könnten vielleicht ein Stück tiefer in den Wald gehen, und unsere erste Station aussuchen.«

»Und du bist sicher, dass es klappt? Dass der Algorithmus funktioniert, meine ich.«

»Entschuldige mal, du redest hier mit Tony Starks Tochter, Wonderboy. Ich hab alles genau berechnet, die Strahlungswerte analysiert und kategorisiert, die Software des GPS-Gerätes neu programmiert, und eine angefangene Packung Kaugummi in meinem Rucksack gefunden, willst du einen?« Matt schüttelt den Kopf, aber ich werfe mir einen in den Mund.

Knappe zehn Minuten später stehen wir an einem verlassenen Picknickplatz. Ich bin mir sicher, dass es funktionieren wird. »In Ordnung Tess, schieß los. Wohin soll die Reise geh'n?«

»Suche wird gestartet... Die früheste Energieanomalie, die in das Schema passt, ist auf ein Ereignis in Atlanta, Georgia zurückzuführen.«

»Na dann, nichts wie los.« Ich zeige Matt die genaue Adresse auf meinem Handydisplay. Dann bereite ich mich auf das Teleportieren vor, und lege meine Arme um Matts Rücken.

»Bereit?«, fragt er.

Ich nicke. »Ich wurde bereit geboren.« Die Welt um mich herum verlangsamt sich, alle Geräusche werden ausgeblendet, bis auf Matts langsamen Herzschlag. Ich kneife meine Augen zusammen, doch nichts kann mich auf den Sog und die dahinterliegende Finsternis vorbereiten.

Matts Arm ruht um meine Schulter, als wir beide in die Realität zurückkatapultiert werden. Mir ist noch schwindeliger als beim ersten Mal. Ich hole ein paar tiefe Luftzüge, bis sich die Welt nicht mehr dreht und tippe an meine Brille, die glücklicherweise noch auf meiner Nase sitzt. »Tess? Wie weit-«

»Ungefähr 1300 Meilen Luftlinie.« Wow, das muss fast dreimal so viel sein wie von New York nach Maine.

Matt lässt sich heftig atmend auf der Bank der Bushaltestelle nieder, unter der wir gelandet sind. Ich lasse meinen Blick schweifen. Auf der anderen Straßenseite befindet sich eine Konzerthalle, daneben stehen 6-stöckige Gebäude. Die Straße ist fast leer. Hier ist also die Stelle, an der unsere Zielperson den Stein gefunden hat. Tja, wer auch immer es war, er oder sie ist nicht hier.

»Okay Matt, ich glaube ab hier müssen wir uns von Tess weiterleiten lassen - Matt?«

»Mir geht's gut. Ich brauch nur ... 'ne kleine Verschnaufpause.« Er lässt seinen Kopf zwischen die Knie fallen und plustert die Wangen auf, um die Luft stoßweise wieder auszuatmen.

»Berechne Route zum Standort des Objekts«, sagt Tess an meinem Ohr.

»Kannst du bitte aufhören, Objekt zu sagen?« Wenn wir diese Leute nicht als normale Menschen betrachten, sind wir nicht besser als HYDRA. »Etwa drei Kilometer von hier entfernt«, stelle ich mit einem Blick auf das GPS-Gerät fest. »Wir nehmen den Bus.«

»Nein, ich kann laufen«, protestiert Matt und steht schwankend auf.

»Kannst du vergessen, wenn du umkippst schleppe ich dich nicht ins nächste Krankenhaus.«

Im Bus kaufe ich zwei Tickets und drücke Matt in einen der Sitze. Er lehnt seinen Kopf an. »So weit hab ich's noch nie versucht«, murmelt er.

»Dafür siehst du nicht schlecht aus.«

»Echt?«

»Nein. Du siehst aus wie von einem Zug überfahren. Was ist mit deiner Kondition passiert, Wonderboy?«

Er lächelt schwach. Als wir austeigen hat sein Gesicht schon wieder etwas Farbe bekommen, und er läuft nicht mehr in Schlängellinien. Wir befinden uns in einer Vorstadtsiedlung in South Atlanta voller Einfamilienhäuser.

»Zielperson verlässt das Haus«, meldet Tess. Ich sehe die Straße entlang, und tatsächlich kommt gerade ein Mädchen aus einer Einfahrt gerannt, allerdings in die entgegengesetzte Richtung. Ihre braunen Haare, die zu den Spitzen hin heller werden, sind zu einem Pferdeschwanz gebunden, der mit jedem Schritt hin und her schwingt.

»Hey, warte!«, rufe ich, ohne nachzudenken und laufe ihr hinterher. Sie sieht nur kurz nach rechts auf die andere Straßenseite, bleibt aber nicht stehen. Erst als ich sie eingeholt habe und an ihrem Ärmel ziehe, dreht sie sich um.

»Wow, stopp mal«, sagt sie irritiert und sieht mich aus hellbraunen, mandelförmigen Augen an.

»Ich, äh...«, schnaufe ich, außer Atem vom Rennen.

»Hey, irgendwie siehst du aus wie die Tochter von Iron Man«, stellt sie fest.

»Ja, das wird mir öfters gesagt. Weil ich es bin«¸ bemerke ich und plötzlich fällt mir ein, dass ich keine Ahnung habe, was ich ihr sagen soll. ›Guten Morgen, wir glauben, dass du Superkräfte hast und möglicherweise von einer bösartigen Organisation gejagt wirst‹?

»Cool, habe ich irgendwas gewonnen?«

»Nein, ehrlich gesagt, äh, glaube ich, dass wir dir helfen können.«

»Wir?«

Matt hat uns mittlerweile erreicht, er schnauft wie eine Dampflok.

Das Mädchen sieht zwischen uns hin und her. »Oh, sagt nichts weiter - die reiche Tochter des berühmten Tony Stark ist mit dem mittellosen Sohn eines Superschurken durchgebrannt und jetzt auf der Flucht vor dem Gesetz und den Avengers!«

»Was, nein, wir sind nicht - darum geht es nicht, wir wollen-«

»Was sind deine Kräfte?«, fragt Matt unvermittelt.

Sie starrt ihn an. »Wie bitte?«

»Der Stein, den du berührt hast. Irgendwann letztes Jahr. Was hat er mit dir gemacht?«

Ich verdrehe die Augen und hätte mir gerne auch noch die Hand vor die Stirn geschlagen, doch das Mädchen rennt nicht weg oder ruft die Polizei, sondern kommt näher.

»Woher wisst ihr davon?«, fragt sie mit gesenkter Stimme.

»Weil ich genau das gleiche Problem habe wie du.«

Sie sieht kurz die Straße hinauf, dann geht sie zurück zu ihrem Haus. »Was soll's, in Spanisch falle ich dieses Jahr sowieso durch. Ich bin übrigens Cass.«

Matt sieht mich triumphierend an. Ich zucke nur mit den Schultern und ärgere mich, dass ich keine bessere Idee hatte als er.

In der Küche wirft Cass ihre Schultasche auf einen Stuhl und lehnt sich gegen die Kochinsel. »Also? Wie genau wollt ihr mir helfen?«

»Hast du jemals von SHIELD gehört?«, frage ich.

»Klar. Das ist doch diese nicht-so-geheime Geheimorganisation mit dem Adler, oder?«

»Genau die. Tja, wie's aussieht wurden sie gestürzt, von einer Superschurken-Organisation namens HYDRA, die vorher schon hinter deren Rücken gearbeitet hat.«

»Wow. Und was genau habe ich jetzt damit zu tun?«

»Kannst du es uns zeigen?«, fragt Matt vom Tisch aus. Er hat sich ein Glas Limonade eingegossen, was er jetzt mit großen Schlucken leert.

»Was zeigen?«

»Du weißt was.«

Cass tippt mit ihren Fingern auf die Theke hinter sich. Ihre Augen huschen nervös zum Fenster. »Okay, also erstens: Ich hab keine Ahnung, woher ihr davon wisst, und ich hoffe für euch, dass ihr mir wenigstens das noch erzählt, bevor ihr mich umbringt.«

»Nicht wir wollen dich umbringen«, werfe ich ein.

»Also irgendjemand anderes, toll. Und zweitens: Ich hab verschlafen und werde momentan nur durch Koffein und Klebeband zusammengehalten, also garantiere ich für nicht.« Sie geht zum Tisch, legt eine Hand an die Kanne mit der Limonade und legt konzentriert die Stirn in Falten.

Sollte ich in Deckung gehen? Wer weiß, was gleich passiert. Doch nach einem Schritt rückwärts ist Schluss, als ich gegen die Glastür zum Garten stoße. Nichts explodiert. Aber die Limonade in der Glaskaraffe beginnt zu brodeln, Dampf steigt auf und lässt den Deckel klappern. Wenigstens bedeutet das, das wir zur richtigen Person gekommen sind. Alles andere wäre peinlich geworden. Cass entspannt ihre Gesichtszüge, und im nächsten Moment ist die Limonade zu einem Block Eis gefroren, in dem Minzblätter wie Fossilien eingeschlossen sind.

»Funktioniert das nur bei Flüssigkeiten?«, fragt Matt.

»Echt jetzt? Ihr seid nicht überrascht oder verängstigt?« Cass wirkt enttäuscht.

Ich verschränke meine Arme und komme wieder einen Schritt näher an den Tisch heran. »Ich wurde von 'nem durchgeknallten Halbgott entführt, dabei habe ich einen tiefgekühlten Supersoldaten, zwei erstklassige Assassinen und einen Wissenschaftler mit Aggressionsproblemen kennengelernt; außerdem ist mein Dad 'ne fliegende Blechbüchse. Und Matt ist nicht so der Typ, der seinen Emotionen freien Lauf lässt. Ansonsten war das echt beeindruckend.«

»Es klappt nicht nur mit Wasser, eigentlich mit allen Gegenständen. Irgendwie ist das so 'ne Art abgefahrene Temperaturregulierungs-Sache. Cool, oder?«

»Hast du in letzter Zeit Leute bemerkt, die dir folgen?«, fragt Matt.

Cass sieht ihn mit schiefgelegtem Kopf an und lehnt sich zu mir.

»Paranoia. Kann ich ihm nicht abtrainieren«, erkläre ich, gerade so laut, dass er es auch mitbekommt.

»Hey, denkst du das hier ist lustig?«, fährt er mich an.

»Matt, wie wär's, wenn wir erstmal alles erklären, so dass sie es auch versteht, und nicht nur irgendwelche kryptischen Sätze einwerfen?«

»Was verstehen?« Cass sieht erst Matt an, der sich wieder in seinem Stuhl zurückgelehnt hat, dann mich. Super, dann darf wohl ich die fröhliche Botschaft überbringen.

»Okay Cass, also das klingt wahrscheinlich alles ziemlich merkwürdig, und ganz ehrlich sehe ich auch keinen Grund, warum du uns vertrauen solltest, aber die Sache ist die: HYDRA hat mit außerirdischen Materialien herumexperimentiert und kleine Proben davon verstreut. Frag mich nicht, wieso, das wollen wir noch herausfinden. Anscheinend hast du eine davon berührt, die Kräfte absorbiert und das überlebt. Und das macht dich zur Zielscheibe, falls sie dich schon gefunden haben. Wenn nicht, umso besser.«

»Moment, wie habt ihr mich dann gefunden?«

»Ich hab den Algorithmus, den sie benutzt haben, umprogrammiert und verbessert. Die Sensoren sind auf Strahlung programmiert, zumindest Reststrahlung, die von allen Leuten, die das Zeug absorbiert haben, abgesondert wird.«

»Ich sondere Strahlung ab?«, fragt Cass ungläubig. »Ist das nicht super gefährlich?«

Ich stehe kurz davor, meine Augen zu verdrehen. »Denkst du, deine Kräfte sind harmlos?«

»Naja, weiß nicht.«

»Du könntest Fundamente zum Schmelzen bringen und Häuser einstürzen lassen«, sagt Matt mit Grabesmiene.

»Das würde ich nie tun! Das krasseste, was ich gemacht habe, war, die Kaffeetasse meines Bio-Lehrers zu sprengen. Werd ich dafür jetzt umgebracht?« Sie deutet mit einem Finger auf mich. »Du hast gesagt, diese HYDRA will mich umbringen!«

»Deswegen müssen wir verschwinden. Und die anderen Versuchskaninchen aufsammeln, bevor HYDRA das erledigt.« Ich sehe auf die Uhr, die neben dem Fenster vor sich hin tickt.

»Weg? Und wohin?«

»Ins Unbekannte«, sage ich wahrheitsgemäß, und lasse diesen epischen Satz nachwirken. Matt sagt nichts, er umgreift nur das Glas, das schon lange leer ist, und starrt auf eine undefinierbare Stelle auf dem Tisch. Cass sagt auch nichts. Der Sekundenzeiger der Uhr tickt ungeduldig vor sich hin. Nach zwölf Schlägen schnippt Cass mit den Fingern.

»Alles klar. Gebt mir fünf Minuten.« Ich höre sie die Treppe hochtrampeln und eine Tür aufreißen.

»Sie könnte nützlich sein«, sagt Matt und lässt endlich das Glas los.

»Nützlich wofür? Deine Armee an Teenagern, die du in die glorreiche Schlacht gegen HYDRA führen wirst?« Ich schüttele den Kopf. »Nein Matt, das sind immer noch Menschen, und sobald wird alle zusammengesammelt haben, bringen wie sie an einen sicheren Ort.«

»Sicher für wen?«

»Na für die - Entschuldige Mal, willst du mir unterstellen, ich würde sie wegsperren wollen? Doctor Banner und mein Dad können bestimmt einen Weg finden, sie zu heilen, aber das wird eine Weile dauern.«

Matt steht ruckartig von seinem Stuhl auf. Wenn ich mich auf die Zehenspitzen stellen würde, wäre ich so groß wie er, aber jetzt gerade starrt er mit zusammengezogenen Augenbrauen auf mich herab. Ich halte seinem Blick stand und lasse mich nicht einschüchtern. Nicht von ihm.

»Ich werde nicht zulassen, dass uns irgendjemand in unserer Freiheit auf irgendeine Weise einschränkt. Wir haben uns das zwar nicht ausgesucht, aber du kannst dir verdammt sicher sein, dass wir uns menschenunwürdig behandeln lassen.«

Wir. Nicht die gesamte Menschheit, nicht er und ich, sondern er und alle anderen Personen mit besonderen Fähigkeiten. »Das werde ich auch nicht.«

»Alles klar ihr Täubchen, von mir aus kann's losgehen!«, ruft Cass von der Haustür aus. Sie hat nicht nur einen zum Platzen vollen Rucksack gepackt, sie hat sich auch noch umgezogen. Gerade krempelt sie die Ärmel ihres schwarzen, mit weißen Streifen karierten Hemd hoch. Dabei klirrt die silberne Kette, die sie an den Hosenbund ihrer schwarzen Jeans gehängt hat. »Ihr wisst gar nicht, wie lange ich auf diese Gelegenheit gewartet habe. Endlich weg von hier.«

Ohne Matt anzusehen, trete ich hinter Cass aus dem Haus. Es ist kurz nach Acht Uhr. Vielleicht schaffen wir es heute, alle zu finden. Kommt natürlich darauf an, wie viele es sind, aber in den HYDRA Akten standen wenige Namen. »Tess? Gib mir den nächsten Standort.«

»Suche wird gestartet... Charleston, West Virginia.«

»Mountain Momma...«, singt Cass und bricht in Gelächter aus. »Sorry, Reflex. Äh, ist das deine Art persönliche Siri oder so?«

»Yep. Meine künstliche Intelligenz. Zum größten Teil selbst programmiert«, sage ich stolz. Ich hoffe, Matt hat unser Ziel verstanden, ich habe gerade wenig Lust, mit ihm zu reden.

»Okay, und wie kommen wir da hin?«, fragt Cass. »Das sind an die 500 Meilen, wenn ich mich nicht täusche. Und ich bin pleite. Judy, sponserst du die Zugtickets?«

»Wir teleportieren«, sagt Matt.

Cass starrt ihn an, die mandelförmigen Augen weit geöffnet. »Wie, so nach dem Motto ›Scotty beam mich hoch‹?«

»Genau so.« Er umgreift unsere Arme, und zu spät fällt mir ein, dass wir Cass nicht vorgewarnt haben.

»Heilige Scheiße, wieso habt ihr mich nicht vorgewarnt?«, bringt Cass unter Würgen hervor. Hoffentlich kotzt sie mir nicht auf die Füße. Sicherheitshalber gehe ich einen Schritt zurück und zerkratze mir dabei die Arme an einem Brombeerstrauch.

»Warum mussten wir uns in ein Gestrüpp beamen?«, fluche ich.

»Sorry, ich hab mir die Koordinaten nicht ausgesucht«, murrt Matt.

Ich ignoriere ihn und entdecke einen rußgeschwärzten Fleck auf dem Boden. Dort muss der Stein gelegen haben. Wir arbeiten uns aus den Büschen heraus und stehen am Rand eines Parks.

»Welcher Idiot kraucht denn durch 'ne Hecke und findet zufälligerweise einen leuchtenden Stein?«, fragt Cass kopfschüttelnd.

Ich habe das GPS-Gerät hervorgeholt und überprüfe die Entfernung. »Tja, das finden wir wohl bald heraus. Nur fünf Minuten von hier. Das ist 'ne High School, glaub ich.«

»Also ein neues Mitglied unserer Gemeinschaft? Cool. Was für Kräfte hat er oder sie wohl?«

Diesmal läuft Cass neben mir, Matt geht hinter uns her. Auch wenn er es nicht sagt, diese 500-Meilen-Teleportation mit drei Personen muss anstrengend gewesen sein. Ich höre das Klappern einer Pillendose, drehe mich aber nicht um. Wenn er nicht mit mir reden will, bitteschön. Schon gar nicht, wenn er mir unterstellt, ich würde sie für irgendwelche Experimente einsperren. Ich gehöre doch nicht zu HYDRA! Ist dieser Matt wirklich der gleiche, der gestern mit mir am Lagerfeuer saß?

»Am Anfang war das ganz schön verrückt«, beginnt Cass ihre Erzählung. »Ich dachte, ich dreh komplett durch. Eine Woche lang habe ich alles eingefroren, was ich berührt habe, Türklinken, Wasserhähne, sogar meine Hausaufgaben. Aber seit ich's kontrollieren kann macht es unglaublich viel Spaß. Zum Beispiel Duschen - immer die richtige Temperatur. Oder auch warme Jacken im Winter.« Sie schnippst wieder. »Bye bye Frostbeulen.«

»Und du hast keine Nebenwirkungen bemerkt?«, fragt Matt.

»Nein, gar nicht. Also, bis auf die Dinge-Einfrier-Sache. Ich meine, wenn ich 'nen ganzen See einfrieren, oder riesige Tresore zum Schmelzen bringen würde - dann bestimmt schon.«

Matt verfällt wieder in Schweigen. Das Schulgelände wirkt verlassen, als wir wenig später dort eintreffen.

»Okay, also entweder platzen wir in irgendeinen Unterricht rein, oder wir warten, bis die Stunde vorbei ist«, schlage ich vor.

»Kann ich mit 'nen Kaffee holen?«, fragt Cass. »Ohne Koffein steh ich das nicht durch, glaub mir.«

»Ich warte hier«, sagt Matt knapp und setzt sich auf das Geländer, dass den Parkplatz von der Straße trennt.

Nachdem wir einen Laden gefunden haben, der Espresso in normal-großen Kaffeebechern verkauft (darauf hat Cass bestanden), gehen wir den Weg zurück zur Schule. »Was gibt es Besseres auf der Welt?«, seufzt Cass glücklich in ihren Becher hinein.

»Tee?« Ich schlürfe an meiner heißen Schokolade. Natürlich hatten sie keinen Tee im Angebot.

»Was bist du, Engländerin?«

»Stolze Britin aus West-London, Schätzchen«, gebe ich in meinem besten britischen Akzent zu Besten. In der Zeit hier in Amerika habe ich ihn mir kaum abgewöhnt, dachte ich zumindest, deswegen bin ich überrascht, dass Cass es nicht schon vorher bemerkt hat.

»Hä? Aber dein Dad ist doch Amerikaner?«

»Ich bin in London aufgewachsen. Größtenteils zumindest. Teils auch in Südafrika und Australien.«

»Wow, cool. Ich war noch nie außerhalb von Georgia.« Sie trinkt noch einen Schluck. »Was geht eigentlich bei Matt ab? Ist der immer so mies drauf?«

»Das ist nur wegen der Teleportation, sagt er. Das ist anscheinend sehr kräfteraubend und macht aggressiv. Aber solange er nicht Amok läuft, ist alles gut.«

Wir erreichen die Schule gerade als es klingelt. Matt sitzt immer noch auf dem Geländer, nicht mehr leichenblass, aber mit einer Miene aus Stahl.

»Folgender Plan«, schlage ich vor: »ich geh rein, suche Mitglied Nummero vier und hole ihn oder sie ohne großes Aufsehen da raus.« Keiner der beiden anderen hat etwas dagegen einzuwenden, und ich glaube Cass ist froh, ihren Espresso in Ruhe austrinken zu können. Ich mische mich unter die Schüler. Tess analysiert durch die Brillengläser die Strahlungswerte und scannt jeden ab, an dem ich vorbeigehe.

»Treffer gefunden

Ich verstecke mich hinter einem Snackautomaten, suche nach meiner Zielperson und warte auf den richtigen Moment. Es ist ein Junge, der mitten im Gang steht und sich mit einem blonden Mädchen unterhält. Nein, eher streitet.

»Bleib bloß weg von mir, Zachary«, keift sie und stolziert wütend davon. Ein paar der Leute um sie herum werfen ihnen belustigte Blicke zu. Ah, ein neues Thema für den alltäglichen Schulklatsch. Das ist einer der Dinge, die ich vermisse. Wenigstens muss das der arme Zach nicht mehr lange erdulden, sobald wir ihn hier rausgeholt haben, kommt er vielleicht nicht mehr zurück. Wie vor den Kopf geschlagen steht er im Gang.

Es klingelt zum Unterricht, die Schüler strömen in die Klassenräume. Als Zach an mir vorbeikommt, packe ich ihn am Arm und bugsiere ihn aus der Eingangstür, bevor er es sich anders überlegen kann.

»Wow, hey, was soll das?«, fragt er empört, reißt sich los und stolpert drei Stufen hinunter.

»Wir müssen mit dir reden«, erkläre ich.

»Sorry, kenne ich dich?«

»Hoffentlich nicht. Wenn du nun so nett wärst...«

Irritiert folgt er mir zum Rand des Parkplatzes, wo Matt und Cass warten. Von den beiden wird er als Begrüßung nur scharf gemustert.

»Vertickt ihr Drogen? Ich nehm' keine... mehr. Also lasst mich in Ruhe mit dem Zeug.«

»Nein, wir sind auf einer Mission«, sagt Cass, was ihr einen noch verständnisloseren Blick einbringt.

Ich lehne mich mit verschränkten Armen an das Geländer. »Matt, du bist dran, ich hab vorhin erklärt.«

»Wie heißt du?«, fragt dieser kurz angebunden.

»Zachary O'Brian. Und mit wem habe ich die Ehre?« Er ist ein Stück kleiner als Matt, auch wenn er älter sein muss, und versucht vergeblich, einige Zentimeter größer zu wirken.

»Du hast besondere Kräfte. Und HYDRA will dich höchstwahrscheinlich umbringen, deswegen musst du mit uns mitkommen.«

Sehr sensible Annäherung, danke Matt.

Zach starrt ihn eine Weile lang unsicher an, die Augenbrauen fast bis zum Haaransatz hochgezogen. »Hey Leute, keine Ahnung wer ihr seid, aber ich will mit Typen wie euch nichts zu tun haben, also Tschau.« Er dreht sich um, aber Matt teleportiert sich direkt vor ihn, sodass er zusammenzuckt. »Heilige Mutter Maria-«

»Ich meine das ernst. Du bist in Gefahr.«

Cass meldet sich zu Wort. »Ich weiß es klingt verrückt, aber er sagt die Wahrheit. Also, was kannst du?«

»Ich-« Seine Augen huschen nervös hin und her. Er fährt sich durch seine Haare, eine dieser lächerlichen vorne-lang-und-an-den-Seiten-kurz Frisuren. Keine Ahnung, wie man das nennt.

Irgendwie kann ich ihn verstehen, vor allem weil Matts Erklärung jetzt nicht so vertrauenserweckend war. Aber er muss den Ernst der Lage verstehen. Seine eisblauen Augen treffen auf mich, und wider Willen durchfährt mich ein Schauer.

»Gedankenlesen«, bringt er stotternd hervor. »Das ist es.« Er erwartet wohl, dass wir anfangen zu lachen. Als es keiner tut, entspannt er sich sichtlich. »Ohne Scheiß? Ihr glaubt mir?«

»Wir sind wie du, auf irgendeine freakige Art«, sagt Cass und hebt eine Hand. »Ich kann Temperaturen von allen möglichen Objekten manipulieren.«

»Teleportation und Gestaltenwandeln«, sagt Matt.

Zach sieht zu mir.

»Oh nein, ich bin nur für die Organisation der ganzen Party hier verantwortlich. Keine Superkräfte für mich.«

»Und wie - was habt ihr jetzt vor?«

»Wir bringen uns in Sicherheit vor HYDRA. So schnell es geht.«

Matt sieht die Straße entlang, auf der keine Menschenseele unterwegs ist. Und selbst wenn hätten sie nur eine Gruppe plaudernder Teenager vorgefunden, nichts Verdächtiges.

»Wohin als nächstes?«, befrage ich mein Handy.

»Greenville, South Carolina. 400 Meilen.«

Matts Gesicht verliert jegliche Farbe. Trotzdem nickt er und atmet tief durch. »Haltet euch an den Händen.«

»Halt Wonderboy, 400 Meilen mit vier Personen? Das wird dich umbringen. Vielleicht solltest du lieber 'ne Pause machen«, sage ich.

Energisch schüttelt er den Kopf. »Mir geht's gut, ich krieg das hin.«

»Du bist uns keine Hilfe, wenn du im Koma liegst.«

»Es geht schon.«

»Hey, wartet doch kurz«, werden wir von Cass unterbrochen. »Es müssen doch nicht alle zum nächsten Ort beamen, oder? Außerdem wird mir kotzübel davon.«

Sie hat Recht. Das wäre auf jeden Fall effizienter. Es reicht, wenn zwei von uns weitersuchen, und die anderen beiden zumindest aus der Stadt rausfahren, weg vom Ort des Geschehens, wo HYDRA sie finden könnte. Ich erkläre meinen Plan den anderen. Und da Cass sich beharrlich weigert, noch einmal zu teleportieren, und der Frischling wie es aussieht genauso wenig Lust darauf hat, bin ich wohl die Auserwählte. Außerdem habe ich auch das GPS-Gerät.

»Was denkst du, wie viele noch übrig sind?«, frage ich Matt, nachdem sich Cass und Zach zur nächsten Bushaltestelle begeben haben.

»Keine Ahnung«, antwortet er. »Hoffentlich mehr als in HYDRAs Gefangenschaft.«

»Willst du die etwa auch noch befreien?«

Matt schweigt, aber das ist als Antwort mehr als genug.

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