11 | Matt | the boy and the girl
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»Es gibt noch mehr Leute, die so sind wie ich«, wiederholt Matt. »Und Hydra will sie finden. Deshalb müssen wir es vor ihnen tun.«
»Wir?« Judy verschränkt ihre Arme. »Nein, was du als erstes tust, ist, uns zurück in die Zivilisation zu bringen.«
»Dort werden sie uns finden.«
»Hör zu, also erstmal wissen wir nicht, ob sie tatsächlich nach mir suchen, und du kannst dich notfalls tarnen.«
Matt sieht das Mädchen an; in ihren Augen steht Entschlossenheit, aber auch Trotz. Ein Teil von ihm fragt sich, warum er sie überhaupt mitgenommen hat. Mal davon abgesehen, dass sie freiwillig ihre Sachen gepackt hat. Er hat sich auf eine längere Diskussion eingestellt, und wie's aussieht kommt diese jetzt.
»Ich dachte nur, für's erste wären wir hier sicherer. Um-«
»Um was zu tun, Kriegsplanung?«
»Wir können niemanden davon erzählen, verstehst du das?« Dadurch würden sie nur noch mehr Leute in Gefahr bringen. Höchste Priorität hat die Mission, die Anderen zu finden. Sollte es welche geben. Und den Grund, warum ihnen diese Fähigkeiten gegeben worden, vor allem wie.
Judy bleibt stur. »Wie sollen wir sonst mehr über die ganze Sache herausfinden? Ich brauche eine bessere Internetverbindung, dann kann ich auch die Daten vor SHIELD auswerten. Und HYDRA.« Sie nimmt wieder ihr Handy in die Hand, das kaum mehr als eine Glasscheibe ist. Hochmoderne Technik.
Matt denkt an sein eigenes: drei Jahre alt mit schwachem Akku, was urplötzlich eine Videochat-Funktion erhielt, als Judy mit ihm telefoniert hat. Er war verschwitzt vom Training, unterwegs nach Hause, und sie adrett gekleidet und frisiert in der Oper. Sowas kann sie sich bestimmt öfters leisten.
»Vielleicht gibt es SHIELD noch. Dieser ganze ›es ist gefallen‹-Kram war bestimmt nur metaphorisch gemeint, sonst-«
»Kapierst du das nicht?« Matt verliert ein Stück seiner Fassung und packt sie an den Schultern, wie vor einigen Tagen, als er sie wegen seiner Visionen warnen wollte. Doch sein Zimmer mit den dunkelblauen Vorhängen, dem ungemachten Bett und den Avengers-Postern ist nun meilenweit entfernt, und er ist sich nicht sicher, ob er es jemals wieder betreten wird. Er ist hier, an der Atlantikküste Maines, mit Tony Starks Tochter, die ihn überrascht und verärgert anstarrt. »SHIELD wurde zerstört, aber HYDRA ist nicht mit ihnen untergegangen. Geschwächt, ja, aber genauso gefährlich wie vorher. Mit diesem Algorithmus und den Helicarriern als Massenvernichtungswaffen, von dem deine KI erzählt hat, wollten sie ihre Feinde alle auf einmal auslöschen. Denkst du, Tony Stark wäre nicht dabei gewesen? Oder du selbst?«
Er lässt sie los, oder vielmehr entwendet sie sich seinem Griff und geht einen Schritt rückwärts.
»Du bist paranoid, Wonderboy«, sagt sie kopfschüttelnd. »Hast du Pillen dagegen?«
Matts Geduld, die vorher schon Kratzer bekommen hat, reißt nun endgültig. Es war eine bescheuerte Idee, Judy in die Sache einzuweihen. Sie überhaupt mitzunehmen. Was war das nur für ein Impuls, der ihn dazu bewegt hat? Ihre Art geht ihm schon jetzt auf die Nerven, aber ohne sie wird er es nicht schaffen, die Anderen zu finden. Wortlos schnappt er sich seinen Rucksack und dreht dem See den Rücken zu.
»Hey, Augenblick!«, ruft Judy entrüstet.
Matt überlässt es ihr, ihm zu folgen, so wie vorhin auf der Lichtung. Und sie wird es tun, kein Zweifel. Keine zehn Meter später hört er ihre Schuhe in schnellen Schritten auf dem steinigen Boden knirschen. Er grinst in sich hinein. Sie will sich nichts vorschreiben lassen, aber irgendwie werden sie schon miteinander klarkommen, und wenn er sich dafür in einen Igel verwandeln müsste, um sich einfach zusammenrollen zu können.
»Ich kenne jemanden, der hat mir auch erzählt, dass bei SHIELD krumme Dinge vor sich gehen«, sagt Judy. »So ziemlich das Gleiche wie du. Denkst du, er könnte auch von HYDRA manipuliert worden sein?«
Was heißt hier ›auch‹, denkt Matt. »Vielleicht gehört er auch einfach zu denen«, antwortet er. Sie erreichen den Waldrand und er lenkt seine Schritte auf einen kleinen Pfad.
»Was? Nein, das glaub ich nicht.« Judy läuft jetzt schräg hinter ihm, da der Weg ziemlich schmal ist. »Aber ich bin mir sicher, dass bei der Gala auch einige zwielichtige Gestalten anwesend waren.«
Die Gala. Auf der Tony Stark und Pepper Potts die Iron League vorgestellt haben, und auf der er erkannt hat, dass Judy das Mädchen aus seinen Visionen war. Alles im Nachhinein in der Zeitung, natürlich. Solche Partys sind nichts für einfache Leute, sondern nur für reiche Geschäftsmänner und Politiker.
»Kann sein, dass die jetzt tot sind«, sagt Matt.
Judy schüttelt den Kopf, und als der Pfad breiter wird, holt sie das Stück zwischen ihnen auf. »Brooklyn meinte, SHIELD macht Experimente mit - mit Leuten mit besonderen Fähigkeiten. Sie haben, oder hatten, das Zepter, und den Tesserakt auch. Das war dieser blaue Würfel, der-«
»Und Brooklyn ist dieser potenzielle HYDRA-Agent?« Von der Seite spürt er ihren vorwurfsvoll-genervten Blick.
»Er ist William Nicholsons Sohn, vielleicht kennst du den und seine Firma Nicholson Enterprises.«
Matt würde gerne den Kopf schütteln, aber dann würde Judy ihm auch noch davon erzählen, und darauf kann er gerade dankend verzichten. Noch dazu kündigt sich der altbekannte Kopfschmerz wieder an, der schleichend hinter seinen Schläfen pocht. Judy redet inzwischen weiter von Brooklyn, Doctor Banner, irgendeinem Van Vries, Brooklyn, außerirdische Energien, Brooklyn, der Iron League, Brooklyn...
»Wieso rufst du den Typen nicht einfach an und fragst ihn?«, schlägt Matt schließlich vor, als er es nicht mehr ertragen kann.
»Äh, wie? Nach dem Motto ›Hey, nur so aus Neugier, gehörst du zu HYDRA?‹«
Sie schüttelt den Kopf, und hätte Matt in diesem Moment nicht nach dem weiteren Verlauf des Pfades nach rechts geguckt, wäre ihm die zarte Röte auf Judys Wangen nicht aufgefallen. Innerlich verdreht er die Augen. Sie ist also in diesen arroganten Schnösel verschossen. Super. Eigentlich könnte es ihm egal sein, aber aus irgendeinem Grund ist es das nicht. Er wünscht sich nur, dass die Kopfschmerzen verschwinden.
Der Pfad gabelt sich. Nach links hin besteht er weiter aus festgetretener Erde, breit genug für zwei Leute. Der rechte Weg hingegen ist zugewucherter und hat einen steileren Anstieg, ist aber dennoch sichtbar. Judy wendet sich automatisch nach links, und sieht sich dann nach ihm um. »Was ist?«
»Ich glaube nach Somesville ging es nach Nordwesten«, erinnert sich Matt.
»Was bist du jetzt, Pfadfinder? Komm schon, man sieht doch, dass der Weg befestigter ist, also gehen hier öfters Menschen lang.«
»Ja, aber...« Er macht eine kurze Pause, verdrängt das stetige Pochen in seinem Kopf. Er erinnert sich an etwas, was sein Vater seine ›Wandererdevise‹ genannt hat: »Two roads diverged in a yellow wood, and I, I took the one less travelled by...«
»And that has made all the difference«, beendet Judy den Satz. Sie sehen sich für einen Moment an. Dann schnauft sie leise lachend auf, Matt schmunzelt. »Du bist nicht der Einzige, der dieses Gedicht lernen musste.«
Stimmt, Mom unterrichtet Judy, ruft er sich in Erinnerung. Und dieses Gedicht ist eines ihrer Lieblinge, auch wenn er sich nicht an den Namen des Autors erinnern kann. Als er an seine Mom denkt, verblasst sein Lächeln wieder. Sie wird sich Sorgen machen, wenn er heute nicht aus der Schule kommt. Aber je weniger sie weiß, desto besser.
»Wieso kannst du uns nicht einfach in die nächste Stadt teleportieren, Wonderboy?«, fragt Judy.
Schon wieder dieser nervige Spitzname. Gedanklich macht er sich eine Notiz, ihr auch einen zu verpassen. Er betrachtet sie, nicht zu aufdringlich natürlich, wie letztens im Central Park. Aus ihrem unordentlichen Dutt haben sich einige Strähnen gelöst, die ihr teilweise ins Gesicht hängen. Ihre haselnussbraunen Augen sehen ihn abwartend forschend an, die Art, wie sie ihre Mundwinkel hebt, wirkt schon fast arrogant. Es erinnert Matt an Tony Stark - immerhin ist sie ja auch seine Tochter. Vermutlich hat sie seine zynisch-egozentrische Art geerbt, was Einiges erklären würde. Er seufzt. »Nein, wir gehen rechts lang.«
Judy folgt ihm, aber nicht ohne Protest. Während sie den steilen Pfad erklimmen, murmelt sie vor sich hin. »Hey, weißt du, was Spaß machen würde? Sich einfach in einem Wald zu teleportieren, um dort stundenlang herumzuwandern, Großartige Idee, wirklich-«
Matt hört ein dumpfes Geräusch. Er dreht sich um, läuft aber langsam rückwärts weiter. Die Milliardärstochter ist über eine Wurzel gestolpert, und rappelt sich jetzt fluchend wieder auf.
»Wir können eine Pause machen, wenn du willst«, bietet Matt ihr an.
Energisch schüttelt sie den Kopf und klopft sich Erde von den Händen. »Nein, ich will so schnell wie möglich raus aus diesem Wald.«
»Ich hab Kekse.« Bei seiner überstürzten Flucht hat Matt die Küchenschränke nach Proviant abgesucht, und unter anderem zwei Packungen Butterkekse eingepackt. Da er gesehen hat, dass Judy selbst kein Essen mitgenommen hat, nimmt er an, dass sie Hunger haben könnte. Sie einigen sich darauf, bei der nächsten Gelegenheit eine Verschnaufpause einzulegen.
Während Matt in seinem Rucksack nach den Keksen kramt, stellt sich Judy auf den umgestürzten Baumstamm, den sie als Lagerplatz auserkoren haben, und streckt ihr Handy in die Luft.
»Überhaupt kein Empfang«, seufzt sie schließlich und lässt sich neben ihren Rucksack auf die moosüberzogene Rinde sinken.
»Eigentlich müssten wir bald eine Art Felsplateau erreichen. Dann kannst du's ja nochmal versuchen. Keks?« Matt grinst und hält ihr die Packung hin.
Sie nimmt sich gleich mehrere und knabbert an ihnen herum. »Ich spiele Geige«, sagt sie beiläufig und sieht Matt mit diesem hochgezogene-Mundwinkel-Lächeln an. »Mein Fakt des Tages. Du brauchst noch einen zum Ausgleich.«
Er überlegt, denn seine persönlichen Geheimnisse wird er garantiert nicht ausplaudern. »Ich hab Basketball gespielt. Bevor ich von SHIELD - von HYDRA rekrutiert wurde.«
»Groß genug für's Basketballspielen bist du jedenfalls.«
»Das kommt dir nur so vor, weil du so klein bist«, neckt er sie. Sie boxt ihm als Antwort gegen die Schulter, aber nur leicht.
Einen halbstündigen Fußmarsch später erreichen sie die Felsebene, die Matt vorhin erwähnt hat. Er hat sich also doch nicht geirrt. Sobald er die frische Luft um seinen Kopf wehen spürt, atmet er tief ein. Es ist immer noch warm, viel zu warm für seine zwei Jacken eigentlich, aber der Wind, der hier oben weht, sorgt für eine willkommene Abkühlung. Matt sieht zu Judy, die mit geschlossenen Augen am Rand der Felsen steht, die waldigen Berge und den blassblauen Himmel vor sich. Plötzlich lacht sie auf.
»Was ist so komisch?«, fragt Matt.
»Nichts. Wirklich kein Stück unserer Situation ist zum Lachen. Aber - wir stehen auf einem Berg und genießen die schöne Aussicht, während irgendwelche Leute da draußen uns umbringen wollen.« Judy setzt sich auf den Boden, stützt sich auf ihre Arme und lässt den Blick durch die Landschaft schweifen.
Matt sieht in die andere Richtung. »Ich glaub es ist nicht mehr weit bis in die Stadt«, sagt er.
»Wieso kannst du uns nicht bis dorthin teleportieren?« Die Frage klingt nicht fordernd, so wie vorhin, sondern bittend.
Matt zuckt mit den Schultern, den Blick immer noch abgewandt. »Das geht nicht so schnell hintereinander, vor allem nach der langen Strecke von New York bis hierher.« Den wahren Grund verschweigt Matt ihr: Dass er jedes Mal höllische Kopfschmerzen bekommt, und die ganze Prozedur unglaublich kräfteraubend ist. Deswegen ist eine Wanderung durch den National Park in sommerlicher Mittagshitze keine große Hilfe.
Als Judy sich als Erste an den Abstieg macht, schluckt er schnell eine der Tabletten, die er noch im Rucksack hat. Sie wurden ihm zwar von dem HYDRA-Arzt verschrieben, aber bis jetzt gab es noch keine negativen Wirkungen, warum sollte er sich also Sorgen machen?
»Hey, Wonderboy!«, ruft Judy von unten hoch. »Kommst du heute noch oder willst du da oben Wurzeln schlagen?«
Matts Kopfschmerzen werden fast augenblicklich gemildert. Er setzt sich in Bewegung, den felsigen Pfad hinunter und weiter durch den Wald.
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Beim nächsten Mal sehen wir unsere geliebte Judy wieder :)
Mal sehen, wie sich das alles weiterentwickelt... *dramatischer Tusch*
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