10.3 | Alyssa | world gone mad

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Alyssa Davis ist nicht leicht zu täuschen. Als Redakteurin der Schulzeitung der Greenville Senior High School ist es ihre Aufgabe, alles vor allen anderen zu wissen. Mit größter Professionalität geht sie Gerüchten nach, führt Interviews oder lungert vor dem Büro des Schulleiters herum, um Informationen über mögliche Verweise zu erhaschen. Immer dabei hat sie ihre Kamera, die sie zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt bekommen hat.

Nichts, na gut, fast nichts entgeht ihren Augen und Ohren.

Aber beginnen wir dort, wo Alyssas Tag gewöhnlicherweise beginnt: Mit dem Weckerklingeln. Nur, dass ihr Wecker heute nicht geklingelt hat. Aus diesem Grund stolpert sie gerade aus dem Haus, ein Erdnussbutter-Sandwich im Mund und ihre Schultasche um eine Schulter gehängt. Im Bus lässt sie sich auf ihren Stammplatz in der Mitte fallen. Dieser Platz hat den Vorteil, dass man den gesamten Bus sowohl nach vorne als auch nach hinten überblicken kann. Jetzt bemerkt Alyssa, dass sie in der Eile ihre Jacke vergessen hat. Der Tag fängt ja gut an.

Zwei Stationen später steigt Chester ein. Sobald er Alyssa auf ihrem Platz entdeckt, breitet sich ein Lächeln auf seinem noch sommerlich gebräunten Gesicht aus. »Na Sherlock, heute schon ein paar Intrigen aufgedeckt?«

Chester ist das, was viele als ›schwulen-besten-Freund‹ bezeichnen würden, aber seine Persönlichkeit nur auf diese Eigenschaft herunterzubrechen wäre falsch. Mit Alyssa befreundet zu sein hat einen klaren Vorteil: Sie entscheidet, was die anderen zu hören bekommen. Sie entscheidet, worüber und über wen getuschelt werden darf. Natürlich hat das maßgeblich zu Chesters Coming-Out beigetragen. Jetzt ist das keine große Sache mehr.

»Ich bin an einem Fall dran«, sagt Alyssa und rutscht auf den Platz am Fenster. »Hab gehört, dass Miss Kingston jetzt mit der Schuldkröte anbändelt.« Sie sieht die Schlagzeile schon vor sich: Englischlehrerin und Hausmeister - ein modernes Romeo und Julia. Es wäre amüsant.

»Du könntest auch 'ne Umfrage starten, wie viele Schüler bei Tests spicken«, schlägt Chester vor.

»Keine schlechte Idee. Eine Person hätte ich dafür schon gefunden.«

»Hey, ich mach das nur ab und zu.«

»Dann könnte ich aber auch gleich dich als Schreiber für die Modekolumne einsetzen.«

»Alles nur das nicht... Hast du die Kamera für die Probe dabei?«

Alyssa deutet auf ihre Tasche. Wenigstens daran hat sie in der Eile noch gedacht.

In den Schulkorridoren ist nichts Spannendes los. Aus Erfahrung weiß Alyssa, dass die neue Pärchenbildung meistens erst im zweiten Semester beginnt, und bis zu den Examen haben sie noch einen Monat Zeit. Dann beginnt der Stress, die Burnouts und - was am wichtigsten ist - der Homecoming Ball. Wer geht mit wem? Wer organisiert? Wer wird welches Kleid tragen? Auf dieses Event freut sich die Journalistin in Alyssa besonders. Sie macht sich eine Notiz, die verschiedenen Aufgaben beim nächsten Treffen der Schülerzeitung anzusprechen.

Doch jetzt muss sie erstmal den langweiligen Geschichtsunterricht ertragen. Ihr Lehrer, Mr. Jonas, versucht immer zwanghaft ›cool‹ rüberzukommen. Gerade sitzt er auf dem Lehrerpult und erzählt von den amerikanischen Unabhängigkeitskriegen.

»...jedenfalls hatte Großbritannien dann richtig Stress mit den Kolonien, die dachten sich nämlich: ›Ey, wir bezahlen keine Steuer mehr, Alter!‹«

Alyssa kann förmlich sehen, wie die gesamte Klasse mit den Augen rollt, ein paar lassen ihren Kopf auf den Tisch fallen. Im Unterricht sind schon einige sehr schöne Schnappschüsse entstanden. So wie letzten Sommer, als jemand gefragt hat, auf welchem Kontinent Australien liegt, und Mr. Barns eine halbe Stunde lang an der Tür stand und durch das kleine Milchglasfenster in den Gang hinausgestarrt hat.

In der Mittagspause setzt sich Alyssa zu ihren Freunden. Sie nennt sie zwar Freunde, aber seitdem Chloe mit Doug zusammen ist, hängt sie viel weniger mit ihr ab.

Chester und Joachim setzen sich zu ihnen. Die beiden hatten gerade Sport und riechen dementsprechend so. Denn Duschen wäre ja verschwendete Zeit, in der man sich für's Mittagessen anstellen könnte.

»Halt dich fest, Alyssa, der Coach hat heute mal wieder einen Ball abbekommen, du errätst nie, von wem!«, sagt Chester.

»Chastity«, erwidert Alyssa gelassen. »Ich hab's schon von den Leuten aus ihrem Kurs gehört.«

Chester sieht enttäuscht aus. Was er zurückbekommt, ist ein verschmitztes Grinsen.



Die Probe der Schulband ist langweilig. Das hat Alyssa schon nach fünf Minuten festgestellt. Trotzdem sitzt sie nun seit einer Dreiviertelstunde in der vordersten Reihe des Auditoriums und sieht den vier Leuten zu, die auf der Bühne stehen.

»Alles klar, wir machen Schluss für heute«, sagt Debora, die Gitarristin, schließlich.

Alle nicken wohlwollend. Auch Alyssa hätte beinahe erleichtert aufgeseufzt. Vielleicht wäre sie schon vor einer halben Stunde gegangen, wäre sie nicht um Chesters Willen hier. Seine Schwester Tricia sitzt am Schlagzeug, und die Band braucht unbedingt neue Mitglieder. Alyssa hätte wirklich jemand anderen schicken sollen, Steve vielleicht, oder Kylie. Aber nein, sie musste ja so nett sein und den Job selber übernehmen.

Während der Busfahrt macht sie sich Notizen für den kurzen Artikel in der nächsten Ausgabe. In der Einfahrt zu ihrem Haus steht ein ihr nur allzu bekanntes und verhasstes Auto. Ein Polizeiwagen.

»Mom, ich bin Zuhause!«, ruft Alyssa im Vorbeigehen in Küche. Sie ist schon halb auf der Treppe, als sie zurückgerufen wird.

»Wie war die Schule, Ally?«

Alyssa schließt für einen Moment die Augen, presst die Lippen aufeinander und dreht sich langsam um. Sie hasst diesen Spitznamen. »Hallo Derek. Die Schule war toll.«

»Noten bekommen?«

»Nein.«

»Steht was Besonderes an?«

»Nein.«

»Na dann.« Er lässt die Arme fallen. »Also, deine Mutter und ich gehen heute Abend aus, deswegen fänden wir es schön, wenn du heute Abend vielleicht auf Rosa aufpassen könntest.«

Alyssa nickt, inständig hoffend dem Gespräch zu entkommen. »Klar.«

Derek fährt sich über die dunkle Glatze. Manchmal versucht Alyssa, sich ihn mit Haaren vorzustellen, aber das klappt einfach nicht. Er war wohl schon immer kahl. Als er nichts weiter sagt, dreht sie sich schließlich um und läuft nach oben. In ihrem Zimmer angekommen schließt Alyssa ihre Tür und wirft ihre Tasche aufs Bett.

Derek ist der neue Freund ihrer Mutter. Rosa vergöttert ihn beinahe wie einen richtigen Vater, aber auch nur weil sie erst vier war, als ihr echter Vater abgehauen ist. Außerdem ist er Polizist, das macht ihn nur noch unsympathischer.

Seufzend lässt sich Alyssa auf ihrem Schreibtischstuhl nieder und schlägt ihr Notizbuch auf. Ziemlich weit oben auf ihrer To-Do-Liste steht: mit Caleb skypen, 17 Uhr. Das hätte sie beinahe vergessen. Schnell startet sie ihren Laptop.

»Hey«, grinst ihr das bekannte Gesicht ihres älteren Bruders wenige Minuten später entgegen. Er hat das breiteste und ehrlichste Grinsen, wie Alyssa es bisher bei keinem anderen Menschen gesehen hat.

»Hey Cal. Was macht das College?«

Er hat vor zwei Jahren ein Basketball-Stipendium bekommen, und nun sehen sie sich nur noch zweimal im Jahr; zu Thanksgiving und Weihnachten. Und wenn er da ist, ist die Stimmung angespannt. Alyssas Mom hat seine Basketball-Leidenschaft nie ernst genommen. Genauso wie ihre Abneigung gegen Derek. Manchmal hat Alyssa das Gefühl, dass ihr Bruder die einzige Person ist, die sie wirklich versteht.

»Und du? Immer noch Probleme mit Derek?«

»Das Übliche halt. Er ist immer häufiger bei uns, und dann kommt er immer mit seinem Streifenwagen vorgefahren. Das kann er sich echt sparen. Und er und Mom gehen heute essen, wahrscheinlich wieder in dieses italienische Restaurant, da waren sie diesen Monat schon dreimal.«

»Wow, woher weißt du das?«

Alyssa zuckt mit den Schultern. »Gute Recherche.«

Ein dumpfes Geräusch an ihrem Fenster lässt sie hochfahren. Sie dreht sich in ihrem Stuhl so schnell um, dass ihre dunklen Locken ihr ins Gesicht schlagen.

»Was war das?«, fragt Caleb und versucht einen Blick in das Zimmer hinter seiner Schwester zu erhaschen.

Alyssa starrt auf ihr Fensterbrett, das aus irgendeinem Grund ein orangenes Leuchten ausstrahlt. »Ich... ich ruf dich zurück. Bye. Hab dich lieb.« Bevor Caleb etwas erwidern kann, klappt sie den Laptop zu und nähert sich dem Fenster. Sie greift nach ihrer Kamera, die auf dem Bett liegt, und schießt ein schnelles Foto durch die weißen Gardinen. Als sie direkt davorsteht, senkt sie das Gerät. Was ist das? Schon hat sie das Fenster hochgeschoben. Von ihrem Zimmer aus kann sie direkt in den Garten der Nachbarn blicken, indem Mrs Bronson meistens damit beschäftigt ist, die Blumen zu gießen, während ihre Enkel im Pool planschen. Jetzt allerdings liegt der gepflegte Rasen im Dämmerlicht eines Herbstabends.

Dieses Halbdunkel wird durch einen orangenen Schein in Alyssas Blickfeld erhellt, der von einem Stein auszugehen scheint. Fasziniert betrachtet sie das Objekt durch den Sucher ihrer Kamera und macht noch ein Foto. Dann, von einer unerklärlichen Neugier erfasst, streckt sie ihre Finger nach dem Stein aus.

Alyssa schlägt mit ihrem Kopf gegen den Fensterrahmen. Doch das ist der geringste Schmerz. Kälte fließt durch ihren Körper, im Wechsel mit Blitzen und Flammen, die sie bei lebendigem Leibe zu verbrennen versuchen. Sie stößt einen gequälten Schrei aus, als unsichtbare Hände sie aus allen Richtungen auseinanderreißen.

Als sie wieder zu sich kommt, ist der Schmerz verschwunden. Alyssa liegt mit dem Kopf auf dem Fensterbrett, die halb heruntergerissene Gardine in ihrer geballten Faust.

»Was war das«, flüstert sie.



Der nächste Tag in der Schule ist die Hölle. Aus einfach jeder Richtung scheinen grausame Geräusche zu kommen, die Alyssas Kopf zu sprengen drohen.

Chester spricht sie an. »Hey!«

Hey, hey, HEY‹, hallt es in Alyssas Kopf wider.

»Hast du am Wochenende etwas vor?«

Hast du am Wochenende hast du am hast du was vor?‹ Sie kneift die Augen zusammen und fasst sich an den Kopf.

Chester verzieht besorgt das Gesicht. »Geht es dir gut?«

Die Tür zu einem Klassenzimmer öffnet sich. Abartiger Lärm dringt in Alyssas Bewusstsein und vernebelt ihre Sinne. »Ich... ich muss...«, murmelt sie, stoppt aber, da selbst ihre eigene Stimme unendlich laut zu klingen scheint. Sie schüttelt Chesters Hand, die auf ihrer Schulter liegt ab, und stolpert nach draußen. Sie rennt über den Schulhof, bis sie zu einer Baumgruppe kommt und sich auf das welke Gras fallen lässt. Sie zwingt sich, ruhig zu atmen, winkelt die Beine an und hält sich die Ohren zu.

Alles ist laut.



»Alyssa, Rosa? Kommt ihr mal bitte runter?« Die Stimme ihrer Mom klingt so klar, als würde sie direkt neben ihr stehen, dabei sitzt sie im Wohnzimmer auf der Couch.

Noch bevor Alyssa hinter ihrer kleinen Schwester den Raum betritt, kann sie das schwere Deodorant von Derek riechen. Noch nie zuvor hat sie diesen Geruch so stark wahrgenommen wie heute. Sie setzt sich auf den Sessel.

»Also«, beginnt Derek. Laut, denkt Alyssa, zu laut »Wir, eure Mom und ich... haben uns gedacht, dass es langsam Zeit ist, den nächsten Schritt zu gehen.«

Alyssa sieht das Lächeln ihrer Mutter, fast so breit und strahlend wie das von Caleb. Sie riecht den Kaffeeatem von Derek, riecht sein Deo, seinen Schweiß, hört seine dröhnende Stimme. Ihren eigenen, stoßweise gehenden Atem. Zu laut. Zu viel.

»Wir werden zusammenziehen«, hallt Dereks Stimme in ihrem Kopf wieder.

Rosa neben ihr stößt ein freudiges Quietschen aus und springt in Dereks Arme. Er lacht und streicht durch ihre dunklen Locken. Ihre Mom lacht ebenfalls auf.

Dann sieht sie Alyssa an. »Was denkst du, Schatz?«

»Ich...« Alyssa atmet tief ein. Alle Geräusche vereinen sich zu einem durchdringenden Piepen. Dann sinkt ihr Kopf nach vorne, und angenehme, dunkle Stille breitet sich aus.

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