15 | Matt | killin' time
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Matt und Judy landen direkt in einem Blumenbeet vor einem Reihenhaus. So unauffällig wie möglich waten sie durch die Petunien und lenken ihre Schritte auf den Gehweg. Schweigend sucht Judy die Route zum nächsten Ziel heraus. Bestimmt zehn Minuten lang vermeidet sie es, Matt anzusehen, indem sie den grünen Punkt auf dem Display verfolgt, als wäre er das Spannendste auf der Welt.
»Können wir – können wir vielleicht zur Apotheke da drüben gehen?«, gibt Matt sich schließlich geschlagen. Die Schmerzen sind unerträglich geworden. So weit und so viel ist er noch nie teleportiert. Ob ihn das auf lange Sicht umbringen kann? Sicher ist er nicht, aber darauf will Matt es auch nicht ankommen lassen.
»Klar«, sagt Judy, ohne aufzusehen. Seit sie Cass' Haus in South Atlanta verlassen haben, ist sie eingeschnappt. Wieso versteht Matt nicht wirklich, aber soll sie doch machen, was sie will.
Jetzt wartet sie vor dem Geschäft, während Matt sich die stärksten Schmerztabletten geben lässt, die nicht verschreibungspflichtig sind. Die Apothekerin sieht ihn mitleidig an, was seine Vermutung nur bestätigt, dass er genauso elend aussieht, wie er sich fühlt. Die Pillen in der orangenen Dose will er sich gut aufheben; er wird sie bestimmt brauchen, falls es noch schlimmer wird. Als er den Laden verlässt fällt ihm auf, dass Judy ihren grauen NASA-Pullover gegen eine Lederjacke getauscht hat.
»Was ist? Die hab ich im Rucksack gefunden. Außerdem ist es warm«, erklärt sie, als müsste sie sich rechtfertigen.
»Unterstützt deinen Ausreißer-Look«, sagt Matt.
Judy sieht ihn schief von der Seite an. »Ganz ehrlich, wenn deine Klamotten ein wenig dreckiger wären, könntest du glatt als Obdachloser durchgehen.«
»Was ist eigentlich dein Problem?«, fährt Matt sie an. Sich Beleidigungen von einem Zwerg anhören zu müssen, noch dazu von Judy Stark, steht ganz unten auf der Liste seiner Lieblingsbeschäftigungen.
»Was mein Problem ist? Genau das hier! Du fühlst dich bei jeder Kleinigkeit direkt angegriffen! Und komm mir ja nicht wieder mit dieser Kräfteschwund-Ausrede, ich glaub dir ja, dass es anstrengend ist, aber kannst du aufhören, die ganze Zeit über angepisst zu sein?« Sie sieht ihn aus tadelnden braunen Augen an, als ein greller Blitz seine Gehirnhälften auseinander zu sprengen droht.
Ein Mann, eine Frau. Beide in Lederkluft. Bewaffnet. Dann eine scharfe Klinge, ein Kreischen und ein Schrei.
»Matt! Matt wach auf! Verdammt nochmal ich rede mit dir, beachte mich!«, holt Judys Stimme ihn aus seiner Trance. »Und du sagst, ich verhalte mich merkwürdig? Was ist los mit dir?«
»Eine Vision. Wir werden verfolgt.«
»Jetzt lenk bloß nicht von Thema ab, Wonderboy.«
Matt sieht sich hektisch um, doch ihre Verfolger müssen sich gut versteckt haben. Er spürt das Eintreffen der Vision in nächster Zukunft. Er umgreift Judys Arm und zieht sie in eine Seitengasse. »Hier entlang.«
»Nein.« Sie schüttelt seine Hand ab. »Ich lass mich von dir nicht rumkommandieren. Ich werde jetzt mithilfe des GPS-Geräts das nächste Mitglied für unseren Club finden, wenn's sein muss auch allein, und du kannst deinen Jedi-Scheiß allein abziehen, okay? Okay.« Sie tritt einen Schritt zur Seite in Richtung Straße, als ein dumpfes Peng ertönt. Die Mauer neben ihnen hat ein Einschlagloch. Judy erstarrt, und blickt mit einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen auf die Stelle, an der sich Millisekunden zuvor noch ihr Kopf befand. »Ich hab meine Meinung geändert«, gibt sie zu und rennt Matt hinterher zu ein paar Mülltonnen. Etwas trifft das Metall.
»Sie schießen auf uns«, sagt Matt atemlos. Genau sowas hat er geahnt und gleichzeitig gefürchtet.
»So sehr es dich überraschen wird, ich hab's bemerkt!« Judy legt eine Hand auf ihre Brillenbügel. »Tess, Analyse!«
Die Stimme ihrer KI ist gerade so laut, dass Matt mithören kann. »Den Einschlagwinkeln zu urteilen schießen sie aus dem dritten Stock, kleines Kaliber, wahrscheinlich Handfeuerwaffen.«
»Wie kommen wir jetzt von hier weg?«
»Es befindet sich eine Tür am hinteren Teil des Gebäudes, Entfernung zehn Meter, geschätzte benötigte Zeit: 1,8 Sekunden.«
»Das könnten wir schaffen«, meint Matt, als etwas unter der Mülltonne hindurch auf sie zurollt. Es ist etwas kleiner als faustgroß und aus Metall. Judy und Matt starren das Objekt eine endlos lange Sekunde an, bis Judy einen Fluch ausstößt, zur Seite hechtet und Matt mit sich reißt. Sie schaffen es vielleicht sieben Meter weit, bis das Ding – wie Matt jetzt erst realisiert, eine Granate – explodiert und die Mülltonne in die Luft sprengt.
»Gern geschehen.« Judy befreit sich aus Matts Griff und rennt zur Tür, die sich wundersamerweise öffnen lässt. Matt stolpert hinter ihr ins Gebäude und verriegelt die Tür. »Die haben nicht nur Pistolen, sondern auch Handgranaten«, stellt Judy entsetzt fest.
»Was haben wir?«, fragt Matt. Was, wenn ihre Verfolger durch diese Tür kommen? Wer sind sie überhaupt? HYDRA? Und wie haben sie sie gefunden? Bestimmt hat Matt mit seiner Teleportation irgendwelche Sensoren ausgelöst und damit alle in Gefahr gebracht. Er und Judy müssen es unbedingt hier raus schaffen und die anderen warnen.
»Hey, Wonderboy«, ruft Judy und wirft ihm eine merkwürdige Konstruktion zu.
»Was ist das?«
»'Ne Waffe. Hab ich aus dem Kram hier zusammengebaut. Wenn du den Hebel runterdrückst, schießt es Schrauben ab. Hier, nimm noch welche als Munition.«
Matt betrachtet das Gerät, das augenscheinlich aus einer Zange, zwei Inbusschlüsseln, einem Gummiband und einer Menge Draht besteht. »Ich bin noch unschlüssig, ob das eine unglaublich geniale oder eine unglaublich bescheuerte Idee ist.«
»Wahrscheinlich beides. Purer Selbstmord.«
»Und was machst du?«
Judy greift nach einer Metallstange, die neben der Werkzeugkiste steht, und wiegt sie in der Hand. »Mal sehen, ob die bösen Jungs Lust auf Baseball haben.«
Matt hat auch einen Vorschlag. »Mach deinen Rucksack leichter, dann können wir besser rennen«, sagt er und wirft einige Sachen hinter das Regal neben der Tür. Den Kram werden sie sowieso nicht brauchen. Als auch Judy ihren Rucksack entleert hat, stellen sie sich Rücken an Rücken, Judy mit dem Gesicht zur Tür, Matt mit wachsamem Blick für die leere Lagerhalle hinter ihnen. Sie liegt in Dunkelheit. Und Stille.
»In solchen Momenten kommt in Filmen immer leise Musik mit Trommelschlägen«, murmelt Judy.
Matt umgreift seine provisorische Armbrust fester und wünscht sich, er hätte seine gesamte Kraft nicht nur für die Teleportation aufgebraucht. »Judy, wegen vorhin–«
»Denkt nicht mal dran. Halt bloß die Klappe.«
Etwas bewegt sich über ihnen. Matt schießt in die ungefähre Richtung, glaubt aber nicht, getroffen zu haben. Aber die Präzision dieses Gerätes ist erstaunlich gut. Dann greift der erste von ihnen an. Er landet vor Judy auf dem Boden, diese schwingt die Metallstange wie einen Basketballschläger, doch der Angreifer weicht aus. Gerade als Matt eingreifen will, schlägt ihm jemand hart ins Gesicht. Er schmeckt Blut, und holt instinktiv zum Schlag aus. Der Hieb schlägt der Gestalt die Kapuze vom Kopf, und Matt erkennt die Frau aus seiner Vision. Sie zieht eine Grimasse und feuert zwei Schüsse nach Matt. Er teleportiert sich einen Meter zur Seite, greift nach Judys Arm, die immer noch mit dem Mann zu kämpfen hat, und geduckt rennen sie tiefer in die Halle hinein, die beiden Verfolger dicht auf den Fersen.
Judy bemerkt einen Lichtschalter an einem Betonpfeiler. »Wenn wir schon kämpfen müssen, dann wenigstens mit ein bisschen mehr Licht.« Sie schlägt mit der flachen Hand auf den Lichtschalter. Sofort erhellt flackerndes Neonlicht die Halle. Das hier muss wohl eine Art Sägewerk gewesen sein. Viel Zeit zum Umsehen bleibt ihnen nicht, denn nicht nur sie können ihre Angreifer jetzt besser erkennen, sie haben ihnen im Gegenzug auch einen Vorteil verschafft.
Judy rennt in die eine Richtung, Matt in die andere. Der Mann zieht zwei Messer und greift den Jungen an. Matt weicht hauptsächlich aus, doch dank seines Trainings kann er seinem Gegenüber einige gut gezielte Schläge verpassen. Trotzdem ist klar, dass dieser kein Amateur ist, sondern ein sehr gut ausgebildeter Assassine. Matt ist erschöpft. Nur eine kleine Pause... Als der Mann zum nächsten Schlag ansetzt, schließt Matt die Augen und teleportiert sich hinter einen Pfeiler. Er kann den wütenden Aufschrei seines Gegners hören, das Echo hallt in dem hohen Raum wider.
Atmen. Er zwingt sich zu Atmen. Seine Fingernägel bohren sich in das weiche Fleisch seiner Hände als er diese zu Fäusten ballt. Diese Leute gehören zu HYDRA und sind gekommen, um ihn zu töten. Nein, nicht um ihn zu töten, sondern zu foltern, und um die anderen zu finden. Um keinen Preis wird er sich gefangen nehmen lassen. Niemals wieder.
Ein Aufschrei reißt Matt zurück in die Realität. Judy. Wenn ihr etwas zustößt, wird er nicht nur von HYDRA, sondern auch von Tony Stark gejagt werden, und vor ihm hat er beinahe sogar noch mehr Angst. Ein Schuss fällt, gefolgt von einem metallischen Geräusch.
»Unsere Anweisungen sind, sie nicht zu töten!«, raunt der Mann wütend.
»Das Mädchen ist gewöhnlich«, sagt seine Partnerin.
»Das ist Starks Tochter, als Geisel ist sie perfekt. Finde sie! Ich nehme mir den Jungen vor.«
Gerade als Matt weiter hinter den Pfeiler zurückweicht, stößt er mit etwas – oder jemanden – zusammen. Er wirbelt herum, doch da steht nur Judy, die Hände in einer Art Karateposition erhoben.
»Oh, du bist es«, sagt sie und senkt die Arme. »Gut zu wissen, dass du die ganze Zeit hinter dieser Säule gestanden hast.«
»Wo ist dein Baseballschläger?«
»Wie's aussieht wollte Mrs. Smith nicht mitspielen. Wir müssen den Ausgang finden.«
»Die werden uns folgen.« Matt späht zwischen den Regalen hindurch.
»Hast du 'nen besseren Plan?«, zischt Judy.
»›Den Ausgang finden‹, das nennst du Plan?«
»Hey, ich steh hier ein wenig unter Zeitdruck.«
Ganz in ihrer Nähe wird ein Regal umgestoßen. Judy rennt in die entgegengesetzte Richtung los, Matt folgt ihr. Sein Gehirn arbeitet auf Hochtouren an einer Idee, hier rauszukommen. Als sie an der nächsten Ecke zum Stehen kommen, wird ihm die Stille in der Halle bewusst.
»Da ist die Tür«, sagt Judy und nickt in Richtung Notausgangsschild. Zwischen ihnen liegt ein von Regalen gesäumter Gang. Etwa ab der Mitte liegt ein großes Sägegerät auf dem Boden, wahrscheinlich wurde es einst genutzt, um größere Stücke zu schneiden. »Und los.«
»Nein, Judy, das ist–« ›eine ganz schlechte Idee‹ wollte Matt sagen, aber er bekommt nur den Ärmel ihrer Lederjacke zu fassen, bevor sie aus ihrem sicheren Versteck tritt. Sofort stürzt sich die weibliche Angreiferin auf sie und wirft Judy um, sodass ihr Kopf hart auf dem Boden aufschlägt.
Und ab da sieht Matt rot. Ungeachtet der Tatsache, dass sie größer, kräftiger und besser ausgebildet ist, tritt Matt ihr gegenüber. Zorn lodert in ihm auf, der alle seine Sinne vernebelt, alle anderen Gedanken unterdrückt. Viel bekommt er in den folgenden Minuten nicht mit, nur dass er schließlich die Frau mit einer Hand würgt, und mit seiner linken Faust auf ihr Gesicht einschlägt. Erst als sich das Weiße ihrer Augen nach vorne dreht, und sie bewusstlos zusammensackt, kommt er wieder zu Sinnen.
Matt starrt auf seine blutigen Knöchel. Auch seine Jacke hat Blutspritzer abbekommen, sein eigenes und das der Frau. Benommen dreht er sich um und sieht Judy mit dem Mann ringen. Sie liegt auf dem Boden vor der Sägemaschine und tritt nach ihm, Verwünschungen keifend, mehr wütend als ängstlich. Matt teleportiert sich direkt hinter den Mann und tritt ihm in die Seite, woraufhin der aufkeucht, taumelt, aber den Griff um Judys Oberarme nicht lockert. Er versucht, Matt mit seinen Schultern zu Seite zu stoßen, erwischt dabei aber den Hebel, der das Sägeblatt in Bewegung setzt, gefährlich nah an Judys Kopf. Sie schreit, doch diesmal liegt pure Panik in ihrer Stimme.
Matt bemerkt eine Pistole auf dem Boden liegen, die vermutlich im Kampf heruntergefallen ist, und überlegt nicht lange. Um genau zu sein überlegt er gar nicht, er greift danach und drückt ab. Die erste Kugel trifft den Mann in die Schulter, die zweite und dritte gehen daneben, die vierte wird in seinem Oberkörper versenkt. Der fünfte Schuss trifft ihm knapp über seinem Ohr. Er sackt zusammen. Das grauenvolle Kreischen der Säge dämpft sowohl die Schüsse als auch das Geräusch des leblos zusammensackenden Körpers.
Judy kriecht zur Seite, außer Reichweite der Klinge. Matt senkt die Waffe nicht, er wartet darauf, dass sich der Körper des Mannes bewegt; aber dieser gibt keine Lebenszeichen von sich. Geistesgegenwärtig betätigt Matt den Hebel der Säge, und es wird wieder still in der Halle.
»Er ist... er ist tot«, sagt Judy.
»Er wollte dich verletzen.« Matts Stimme klingt fremdartig in seinen eigenen Ohren.
»Ich... ich weiß.«
»Ich musste es tun. Ich kann nicht – ich kann nicht zulassen, dass–«
»Ich versteh das, okay?« Judy stockt, klopft sich den Staub von der Hose und blinzelt mehrfach. »Dieses Arschloch wollte mich umbringen. Du hast mich gerettet. Ich habe nur... nicht damit gerechnet.«
»Du hast keine Angst?«
»Vor dir?« Sie schnauft auf und verzieht den Mund zu einem kleinen Lächeln. »Träum weiter.«
Matt zwingt sich zu einem Grinsen, dann lässt er die Pistole neben dem leblosen Körper des Mannes auf den Boden fallen. Was hat er getan?
Judy richtet sich auf. »Bloß weg von hier, bevor er anfängt zu schimmeln.«
Die Tür ist zum Glück nicht verschlossen, jedenfalls nicht von innen. Draußen erwartet sie das helle Licht eines Sommermittags und einige Passanten, die sie mit schiefen Blicken mustern. Matt blickt an sich herunter. Er wischt sich das Blut aus dem Mundwinkel. Dann sieht er zu Judy. »Deine Haare«, sagt er erstaunt.
»Wonderboy, ich wurde gerade mehrfach angegriffen und niedergeschlagen, also erwarte bitte nicht, dass meine Haare perfekt gestylt sind, guck dich doch mal an.«
»Nein, sieh doch.« Er deutet auf das Schaufenster der Zoohandlung, vor der sie stehen bleiben.
Judy starrt ihr Spiegelbild an, dann betastet sie vorsichtig ihre eigenen Haare. Auf der rechten Seite wurden sie auf Schulterhöhe abgesäbelt, links sind sie nach wie vor brustlang. Ihr Mund öffnet sich zu einem »oh«, vielleicht ist es auch ein stummer Schrei des Entsetzens, wer weiß. »Ich sehe aus wie von 'nem Affen frisiert«, sagt sie tonlos.
»Von einem experimentierfreudigen Affen«, meint Matt und kassiert dafür einen Schlag gegen die Schulter ein.
»Was soll's.« Seufzend bindet sich Judy die Haare so zusammen, dass es nicht komplett bescheuert aussieht. »Am Besten wir finden jetzt die nächste Person und danach eine Schere, um das wieder halbwegs in Ordnung zu bringen. Und wehe du lachst, sonst sorge ich dafür, dass du nachts aus Versehen an Haselnüssen erstickst.«
Judy scheint nicht mehr ganz so wütend auf Matt zu sein wie vorhin. Er hat ihr immerhin das Leben gerettet, irgendwie. Dieses Hochgefühl flaut langsam ab. Matt hat gerade jemanden umgebracht. Und nicht nur das, er hatte auch wieder einen dieser Wutanfälle. Es ist jedes Mal, als würde eine unsichtbare Macht von ihm Besitz ergreifen, ein unbändiger Hass. Doch wenigstens sind sie die beiden Agenten jetzt los. Wer auch immer sie geschickt hat, diese Leute haben es auf die Teenager abgesehen. Sie müssen noch vorsichtiger sein. Und sich beeilen.
Judys Schritte verlangsamen sich erst, als ein moderner Rundbau in Sicht kommt. Die Buchstaben über dem Eingang identifizieren es als öffentliche Bibliothek.
»Wow, also das nenne ich Bibliothek«, sagt Judy anerkennend.
Matt sieht sich um. Ihre Begeisterung kann er nicht ganz teilen, aber objektiv betrachtet hat dieses Gebäude schon etwas Schönes an sich. Modern, viel Glas... und Bücher. Matt bekommt das GPS-Gerät in die Hand gedrückt, während seine Begleiterin an ihrer Brille herumhantiert. Wahrscheinlich benötigt sie die Brille nichtmal, wäre da nicht jeder mögliche Schnickschnack eingebaut.
»Können wir nochmal über vorhin reden?«, fragt Matt, als sie die mit Bücherregalen gesäumten Gänge entlanggehen.
»Nope. Nicht jetzt.« Judy sieht in jede Lesenische.
»Und wann dann? Dann blockst du nur wieder ab.«
»Ich blocke ab? Das ist das erste Mal, dass du das Gespräch suchst. Und du weißt schon, dass wir gerade fast umgebracht wurden?«
»Ich meine das davor.«
»Was wovor? Ah, du meinst das Gespräch – oder sollte ich lieber Auseinandersetzung sagen – vor der Apotheke. Oder das bei Cass? Oder das im Wald?« Judy bleibt stehen und verschränkt die Arme.
»Judy...«
»Nein, nicht schon wieder.«
»Wie soll ich dir denn alles erklären, wenn du genau das tust, was du immer tust? Willst du mir überhaupt zuhören?« Matt hält ihrem wütenden Blick stand. »Du musst das verstehen. Schon als ich bei HYDRA war haben sie mir grauenhafte Dinge abverlangt, aber dieses pausenlose Teleportieren ist neu für mich. Und anstrengend. Ich – ich weiß echt nicht, wie lange ich das noch durchhalte.« Und das ist die Wahrheit. Natürlich will Matt alle Leute finden, die mit den Proben in Berührung gekommen sind, aber dass es so kräftezehrend wird, hat er sich nicht vorgestellt.
Judy stößt einen Seufzer aus – vielleicht ist es auch ein Fluch, schwer zu sagen – und dreht ihren Kopf zur Seite. »Okay, ich kauf dir die Mitleidsnummer ab. Aber die Aktion in Cass' Haus verzeih ich dir immer noch nicht, damit das klar ist. Und jetzt lass uns weitergehen, wir sind nah dran.«
Matt spürt Erleichterung, als er Judy weiter folgt. Die Situation zu klären ist schwierig, und es hat ihn größte Überwindung gekostet, es überhaupt anzusprechen. Niemand würde verstehen, was er gerade durchmacht.
»Das ist sie«, flüstert Judy und deutet mit einer Kopfbewegung um die Ecke. Matt wirft einen interessierten Blick zu dem Mädchen, das in einer Tischecke sitzt und mit konzentriertem Blick etwas in ein Notizbuch schreibt. Er macht einen Schritt nach vorne, wird aber von Judy zurückgehalten. »Hey, ich bin dran. Wenn du das wieder mit deiner einfühlsamen Art versuchst, rennt sie uns noch weg.«
»Du redest sowieso nur um den heißen Brei herum.«
»Wonderboy, ich warne dich...« Sie wirft ihm einen drohenden Blick zu, dann nähert sie sich dem schreibenden Mädchen. »Hi«, sagt sie. »Ich bin–«
»Judy Stark. Iron Man's Tochter.« Das Mädchen sieht auf und wirft ihre dunklen Locken zur Seite. »Ich verfolge die Nachrichten«, fügt sie hinzu.
»Ja, äh«, hört Matt Judy sagen. Er selbst steht immer noch hinter den Bücherregalen und beobachtet die Situation. »Okay, Folgendes:« Matt hört einen Stuhl, der zurückgezogen wird. »Hast du in letzter Zeit einige ungewöhnliche Dinge bemerkt? Wie... ich weiß nicht... kalte Objekte, verdächtige Männer in dunklen Anzügen, merkwürdige leuchtende Steine?«
Ja, sie macht es definitiv besser als Matt. Sehr unauffällige Herangehensweise.
»Nein«, kommt es von dem Mädchen.
»Sicher? Hör zu... Alyssa? Also ich denke, dass du etwas Besonders an dir hast, und das kannst du nicht leugnen, also bitte ich will dir helfen, ehrlich.«
»Und du willst, dass ich nicht weglaufe während du mir die Situation erklärst? So wie die anderen vor mir.«
»Das wäre sehr günstig. Aber woher...?«
Das Mädchen namens Alyssa legt den Stift aus ihrer Hand und sieht Matt durch eine Lücke zwischen den Büchern direkt an. »Zu zweit könnt ihr es bestimmt besser erklären.«
Judys Kopf schwingt herum, und Matt tritt hinter dem Bücherregal hervor. »Kannst du... kannst du durch Gegenstände sehen?«, fragt er.
»Nein, ich hab einfach ein gutes Gehör, das ist alles.« Sie legt die Stifte einen nach dem anderen in ihre Federmappe.
»Wie lange ist das schon so?«, hakt Judy nach. »Ungefähr seit September?«
»Das ist angeboren.« Sie zieht den Reißverschluss zu und widmet sich nun den Heftern.
»Hey, das ist kein Scherz.« Matt stützt sich auf den Tisch.
»Und da ist wieder der Seelsorger«, murmelt Judy.
»Es gibt noch mehr, die das Gleiche durchgemacht haben wie du. Sei ehrlich. Was sind deine Fähigkeiten?«
Alyssa schüttelt den Kopf. »Ich war bei einem Arzt, okay? Der hat mir gesagt, es sei nur eine temporäre Hypersensibilität. Ich bin nicht verrückt.«
Matt stößt die Trinkflasche vom Tisch. Keine Millisekunde nach ihrem Fall hat Alyssa sie aufgefangen und verstaut sie in ihrer Tasche.
»Und das?«, fragt Matt. »Zufall?«
»Ihr wisst gar nicht, wie belastend das ist«, faucht Alyssa. »Jedes verdammte Geräusch, jeder Geruch, alles wird aufs Tausendfache verstärkt. Ich will nur, dass es aufhört. Ich – ich bin eine ganz normale Senior Highschool Schülerin mit sehr guten Noten, ich habe eine Familie, alles ist bestens. Bis auf das.«
Judy wirft Matt einen eindeutig vorwurfsvollen Blick zu. Vorhin hat sie gesagt, Tony Stark würde zusammen mit Bruce Banner eine Heilung finden, doch Matt glaubt nicht dran. Und dieses Mädchen hier hat offensichtlich keine Ahnung, wozu sie fähig ist.
»Schön«, sagt Judy. »Du gibst das mit den Kräften also zu. Und wenn du mitkommst, dann können wir dir helfen.«
»Ihr könnt mich heilen?«
»Wenn du's so ausdrücken willst, von mir aus.« Alyssa scheint noch zu überlegen, während Judy ihr Handy rausholt. Sie tippt eine Weile darauf herum. Dann zeigt sie Matt einen blinkenden Punkt auf dem Display. »Da sind die anderen. Wenn du uns die Ehre erweisen würdest...«
Matt nickt. Seltsamerweise fühlt er sich gerade relativ wohl. Aber das kann schnell umschlagen. Deswegen beeilen sie sich lieber.
»Und du versprichst, dass ich wieder normal werde?«, fragt Alyssa an Judy gewandt.
»Klar. Mein Dad hat letztes Jahr sogar Extremis geheilt, dein Problem zu lösen schafft er sicher auch. Und jetzt gut festhalten. Und Luft anhalten wenn's geht.«
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