Kapitel 8 - Kieran
--Kieran--
Am Tag nach Cassians Eröffnungsfeier werde ich von meinen zweifelnden Gedanken überwältigt.
Meine erste Theorie, Cassian selbst könnte für die blauen Flecken auf Jules Haut verantwortlich sein, verwerfe ich. Der Fotograf hatte eine zu sanfte, ausgeglichene Ausstrahlung, die nicht mit dieser rohen Gewalt zusammenpassen will, die ich dem Täter zuschreibe.
Noch dazu scheint Cassian mit seiner schlanken Statur, schon rein physiologisch betrachtet, Jules unterlegen. Jules besuchte regelmäßig ein Fitnessstudio - er hätte die Kraft gehabt, sich Cassian gegenüber zu wehren. Auf Cassians Haut war keine einzige Andeutung einer Verletzung zu entdecken gewesen, die auf einen Kampf hätte hindeuten können.
Du hast dich doch nur von seinem Lächeln einlullen lassen, meldet sich eine kritische Stimme zu Wort, die ich sofort verdränge.
Ich liege ermattet bis zum Nachmittag in meinem Bett und öffne immer wieder die Mail, die mir Cassian noch gestern Nacht zukommen ließ. Im professionellen Ton formulierte er ein Angebot, das sich zu gut liest, um abgelehnt zu werden.
Ich würde mehr verdienen, als in meinem vorherigen Arbeitsverhältnis. Ich hätte einen unbefristeten Arbeitsvertrag - eine absolute Rarität in der Branche - und es gäbe mehr Urlaubstage.
Nichts spricht gegen dieses Angebot.
Doch sobald ich einen Entwurf für die Antwort öffne, fühlt es sich an, als lege sich eine feste Schlinge um meinen Hals.
Vielleicht verrenne ich mich. Vielleicht wäre es vernünftiger, mit Jules zu reden, wenn er bereit dazu ist.
Also beschließe ich zu warten. Aber das Warten rückt nur die Leere in den Fokus, die Jules mit seinem Auszug hinterlassen hat.
Und diese Leere beginnt sich in meinen Gedanken auszudehnen, um mich vollkommen zu entwurzeln.
Diese Leere macht mich müde.
Auf einen müden Tag folgt der nächste und darauf folgen viele weitere Tage.
Um nicht weiter grübeln zu müssen, versuche ich zu lesen. Ich verbringe einen halben Vormittag damit, ein Foto von mir und meinem aktuellen Roman zu schießen, welches ich auf mein Social Media Profil hochlade. Es ist das erste Foto in der Sammlung, auf dem man mein Gesicht sieht.
Ich starre das Bild an und mein ernstes, digitales Spiegelbild starrt mit dunklen, toten Augen zurück. Ich überlege das Foto zu löschen und lasse es dennoch, wo es ist.
Die Tage ziehen bedeutungslos an mir vorbei und manchmal vergesse ich, was war und was sein wird.
Er kommt nicht zurück. Du bleibst allein.
Weil ich mich nicht zu lange im Lesen unterbrechen will, lasse ich mir meine Einkäufe liefern. Ich geh nur noch für den Müll aus dem Haus.
Ich kann schwer einschlafen und es dauert Stunden, bis mein Geist sich der Traumwelt hingibt. Wenn ich nicht schlafen kann, sitze ich auf meiner Matratze und sehe auf das andere Bett, auf dem noch immer Jules blau karierte Decke liegt. Ich halte die Luft an, um die Traurigkeit abzuwehren, die sich in meiner Brust brennend hinauskämpfen will.
Ich versuche all die gemeinsamen Momente, die ich mit Jules in den letzten Jahren erlebt habe, zu vergessen.
Ich höre auf die Tage zu zählen. Viel zu bald bewegt sich mein Kontostand auf Null zu. Die Kartons der Tiefkühlpizzen stapeln sich im Flur und irgendwann bemerke ich, dass mir der Appetit verloren geht.
An den schlechten Tagen nehme ich Sprachnachrichten auf, in denen ich Jules anflehe, zurückzukommen.
An guten Tagen lösche ich die Nachrichten wieder, obwohl hinter ihnen sowieso nur ein Häkchen klebt, das mir sagt, dass Jules unseren Chat nicht einmal mehr öffnet.
Ich poste jeden Tag ein Foto von mir und meinem Buch, verfasse kleine Texte zu meinem Lesefortschritt. Ich scrolle jeden Morgen durch die wenigen Likes, auf der Suche nach Jules Namen. Früher hat er jedes einzelne Bild von mir geliked und kommentiert.
Das Wetter zeigt sich grau und regnerisch hinter den Fenstern, als ich an einem Nachmittag von einem vertrauten Geräusch sofort aus meiner Isolation gerissen werde.
Ein Schlüssel, der im Schloss herum gedreht wird.
Ich stolpere mit klopfenden Herzen in den Flur. Erst als die Tür aufgeht, fällt es mir wieder ein: Jules hat seinen Schlüssel verloren.
Es ist mein Vater, der die Tür nun hinter sich schließt. Die Überraschung übertüncht den bitteren Schmerz der Enttäuschung. Vorerst.
"Hallo", begrüße ich ihn und gehe an ihm vorbei in meine Küche. Wie immer, wenn er zu Besuch ist, schalte ich meinen Wasserkocher an, weil ich weiß, dass er nach einem Tee fragen wird.
Mein Vater arbeitet als Krankenpfleger im Nachtdienst und seit meine Mutter mit ihrem neuen Mann die Stadt verlassen hat, ist er nur noch am Arbeiten. Sechs Tage die Woche.
"Ich habe dir geschrieben", erzählt er und lässt sich auf einen der zwei Küchenstühle fallen. Die Schlüssel landen klirrend auf dem Tisch. Ich zucke bei dem Klang zusammen. Auch Jules hatte die Angewohnheit, den Schlüsselbund auf den Tisch abzulegen.
Ich konzentriere mich darauf, eine saubere Tasse zu finden, gebe es schließlich auf und spüle meine vom Morgen ab. Währenddessen berichtet mein Vater auf meine Nachfrage hin von seinen vergangenen Arbeitswochen. Ich höre nur halb hin, während ich zu verstehen versuche, warum mein Vater aufgetaucht sein könnte. Üblicherweise verabreden wir uns vorher.
"Warum bist du hier?", frage ich, als er endlich eine Pause macht und an seinem Tee nippt. Statt zu antworten, zieht er sein Handy aus der Hosentasche und zeigt mir das Bild, das ich zuletzt von mir und meinem Buch hochgeladen habe.
"Was ist damit?", frage ich.
"Es fällt dir nicht auf?"
Ich schüttele ratlos den Kopf. "Liegt es am Buchtitel? Ich weiß, du wolltest Mal, dass ich mich einem anderen Genre widme, aber–"
"Kieran, was ist passiert?", unterbricht er mich sanft.
Nein. Ich kann das nicht. Noch nicht. Ich stehe von meinem Platz auf und fülle erneut den Wasserkocher auf, um dem forschenden Blick zu entkommen.
"Du siehst auf deinen Fotos furchtbar traurig aus."
Das war's. Ein paar Worte reichen schon und meine mühsam aufrechterhaltene Selbstkontrolle gerät ins Wanken.
Er hat mich nicht wie sonst gefragt, wo Jules sich herumtreibt. Er hat mich nicht gefragt, wie es ihm geht.
Weil er weiß, was es anrichten kann, wenn man verlassen wird. Und weil ich mit meiner Isolation in ein ihm sehr vertrautes Muster verfallen bin.
"Ich lösche sie wieder", verspreche ich über das Rauschen des Wasserkochers hinweg.
"Deine Texte darunter sind nicht schlecht, auch wenn sie einige Rechtschreibfehler aufweisen."
Mein Gesicht wird warm. Ich war mir sicher, keine Schreibfehler in meinen Texten übersehen zu haben.
"Liest sowieso niemand."
Ich fülle seine Tasse auf, in der schon ein neuer Teebeutel hängt.
"Kieran, setz dich."
Ich bleibe stehen und hefte meinen Blick auf die Welt hinter dem Küchenfenster. Sich im Wind wiegende Äste, tänzelnde Blätter, vorbeiziehende, graue Wolkengebilde.
Drückende Stille im Raum.
Mein Vater sagt irgendwann etwas über meine Mutter und ihren Weggang. Sie hatte uns mitten in der Nacht verlassen, um nie wieder etwas von sich hören zu lassen. Derselbe eiskalte Bruch im Gewohnten.
"Du glaubst, Jules kommt nicht wieder?", frage ich, um ihn in seiner mahnenden Rede zu unterbrechen. Sein Blick hält mich fest.
"Du solltest hier nicht auf ihn warten."
Mein Körper fängt an zu zittern, während ich noch versuche, mein Schluchzen zu unterdrücken. Mein Vater steht auf und dann hält er mich in seiner warmen, vertrauten Umarmung. Bewahrt mich vor dem endgültigen Fall.
Ich lasse los und weine die Tränen, die ich über einen Monat zurückgehalten habe.
Und dann erzähle ich von Jules überstürzten Auszug. Ich muss ihm nicht sagen, was ich für Jules die Jahre über empfunden habe, er weiß es längst, da ich mich ihm gegenüber als erstes geoutet habe. All die Jahre über hat er versucht, mir Mut zu machen, um mich auch Jules gegenüber zu öffnen.
Ich habe zu lange gewartet und viel Zeit mit meiner naiven Träumerei verbracht, wird mir nun klar.
Ich erzähle nichts von den blauen Flecken und als ich das Jobangebot erwähne, lasse ich dabei aus, dass es sich um Jules alten Arbeitsplatz handelt. Natürlich ermuntert mein Vater mich dazu, dem Vorstellungsgespräch zuzusagen.
"Du kannst in eine schönere Wohnung ziehen", argumentiert er und lässt seinen Blick durch die von mir vernachlässigte Küche gleiten. Das Geschirr stapelt sich und in dem kleinen schmalen Raum fällt die Unordnung umso mehr auf. Ich schäme mich zum ersten Mal seit Tagen für mich selbst.
"Ich will hier nicht weg", sage ich schnell. "Außerdem dauert es Monate, bis ich eine Wohnung finde."
Inzwischen habe ich mich meinem Vater gegenüber an den Tisch gesetzt und tunke selbst einen Teebeutel in heißes Wasser.
"Du könntest dir auch eine neue WG suchen. Das wäre günstiger und du ... kommst vielleicht auf andere Gedanken."
Ich sehe von meiner Tasse auf. Ich weiß schon, welche Worte ihm eigentlich auf der Zunge lagen.
Du wärst nicht mehr so allein.
"Ich habe kein Problem damit allein zu sein", behaupte ich stur. Es ist natürlich sinnlos. Mein Vater muss die Unordnung in der Wohnung nicht ansprechen - es reicht ein Blick mit gerunzelter Stirn zur Küchentheke. Ein weiterer mustert mein Gesicht.
"Die Wohnung ist zu klein und dunkel für dich. Such dir doch eine WG in der Nähe deiner neuen Arbeit."
Er hat einen wunden Punkt angesprochen. Mir gefiel die Wohnung noch nie. Sie ist mit ihren 40 Quadratmeter und nur einem Zimmer für zwei Personen schon immer zu klein gewesen. Aber es ist auch die alte Studentenbude meines Vaters. Ihm zu sagen, dass es mir hier nicht gefällt, habe ich nie fertig gebracht. Ich wollte ihn nicht verletzen. Und mit Jules in diesen vier Wänden fühlte sich alles heller und wärmer an, einfach weil er da war.
"Ich werde die Wohnung sehr schnell an jemand anders vermieten können", fügt er hinzu.
"Und wenn Jules doch zurückkommt?"
Mein Vater geht nicht auf meine Frage ein, schenkt mir nur seinen mitfühlenden Blick.
"Ich kann bei seinen Eltern vorbeischauen und mich erkundigen, wie es ihm geht."
Mein Vater und Jules Vater sind ebenso miteinander bekannt, doch der Kontakt zwischen den beiden beschränkte sich bisher noch auf Einladungen zu Geburtstagen.
"Seine Eltern wohnen zwei Stunden von hier auf einem Dorf, warum solltest du–"
"Lass das meine Sorge sein, Kieran. Versprich mir nur, dass du dich um eine WG kümmerst."
Ich nicke, obwohl mir der Gedanke an eine neue WG noch ein Ziehen im Magen bereitet.
Mein Vater verabschiedet sich, lässt es aber nicht bleiben, den fast mannshohen Stapel Pizzakartons im Flur zu kritisieren.
Ich brauche einen ganzen Tag, um die Unordnung zu beseitigen. Am Abend öffne ich erneut einen Entwurf für die Antwort an Cassian. Es fühlt sich zum ersten Mal seit Tagen richtig an, ihm zu antworten.
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