Kapitel 6 - Younes
--Younes--
"Okay, das ist seltsam, aber vielleicht kennt er ihn", kommentiert Marlaine Cassians plötzlichen Abgang. Ohne Cassians Bodyguards ist der Weg zur Bar nun frei. Sofort quetschen sich einige der Gäste zu uns, um dem Barkeeper ihre Bestellung aufzugeben.
Ich folge Imra, die sich auf eine ruhigere Ecke im hinteren Teil des Ladens zubewegt. Marlaine hält sich hinter mir an meinem Hemd fest, um mich nicht zu verlieren.
Meine Schwester und Marlaine setzen sich auf das Sofa und beginnen über irgendeinen berühmten Gast zu sprechen, den sie an der Bar stehen sehen. Ich lehne mich an die Wand und versuche, einen Blick auf Cassian und den Jungen zu bekommen.
Cassians Verhalten lässt mich unweigerlich an unsere kurze gemeinsame Zeit an der Uni denken. Eine Leidenschaft von Cassian galt ohne Zweifel der Fotografie, eine andere den Kommilitonen um uns herum. Ich vermute, Cassian hat in dem Jungen vor meinem Foto einen neuen Fang für sich entdeckt.
In mir kommt Ärger auf. Ich habe mich nur für Cassian hierher verfrachten lassen, damit wir Zeit miteinander verbringen können. Wir haben uns monatelang nicht mehr gesehen und ich hatte gehofft, mich länger mit ihm unterhalten zu können. Hier zu stehen und zu warten, weckt eine alte Ungeduld in mir. Mir war klar, dass er als Gastgeber nicht viel Zeit für uns würde aufbringen können, doch uns wegen einer Flirterei stehen zu lassen grenzt an Unhöflichkeit.
Ich beobachte schließlich, wie Cassian den Jungen zur Bar führt. Der Schwarzhaarige wirkt in seinem Hoodie jung, vielleicht ist er Anfang zwanzig. Eigentlich nicht gerade Cassians übliches Beuteschema.
Mit der Zeit werde ich immer ungeduldiger und denke an das Café und an all die liegengebliebenen Aufgaben. Hin und wieder werfe ich einen Blick auf Cassian und sein spontanes Date.
"Mir reicht es, ich hole ihn jetzt zurück!", verkündet Imra und springt vom Sofa auf. Ich sehe ihrem dunkelblonden Lockenkopf mit dem bunten Haarband nach, als sie in die Menge taucht. Seufzend lasse ich mich neben Marlaine auf das Sofa fallen.
"Er ist immer noch ganz der alte, auf den alle Welt warten muss", murmele ich vor mich her.
Marlaine hört mich nicht. Es ist zu laut um uns herum und vielleicht ist das auch ganz gut so. Wer weiß, wohin ein Gespräch mit Cassians größter Bewunderin in dieser Situation führen würde. Wir streiten uns selten. Nur hin und wieder an stark besuchten, chaotischen Tagen im Café, wenn sie mir dort als Barista aushilft.
Keine fünf Minuten später ist Imra zurück und zieht tatsächlich Cassian hinter sich her. Er drückt mir ein Bier in die Hand, das ich gar nicht haben wollte. Das ist seine typische Art sich zu entschuldigen.
"Ich dachte mir, wenn jemand so fasziniert vor meinem besten Werk steht, muss ich diese Person ansprechen."
Ich nehme einen großen Schluck vom Bier.
"Was fand er denn so gut an dem Bild?", frage ich.
"Dein Lächeln", verrät Cassian mit einem Blitzen in den Augen. Imra macht ein triumphierendes Quietschen und stellt sich auf Zehenspitzen, als suche sie nach dem Schwarzhaarigen, um ihn sofort in unsere Gruppe zu ziehen. Ich zweifele keinen Moment daran, dass sie das auch bewerkstelligen könnte.
"Interessant", sage ich nur und halte Imra auf, bevor sie sich verdrücken kann. Seit Jahren ist es ihr ein Anliegen, mich zu verkuppeln, damit ich - so ihre Worte - endlich auf andere Gedanken komme.
"Ich habe euch doch erzählt, dass ich einen neuen Cutter suche", beginnt Cassian. Wir nicken automatisch, obwohl keiner von uns eine Ahnung davon hat, welche beruflichen Sorgen ihn in der letzten Zeit umtrieben.
"Jedenfalls stellte sich heraus, dass er ein Cutter ist und aktuell einen Job sucht!"
"Das ist nicht dein Ernst!", ruft Marlaine aus, die natürlich wie gebannt an Cassians Lippen hängt.
"Ein seltsamer Zufall", stelle ich fest. Sofort habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich die Szene an der Bar, als der Junge Cassian sein Handy hin schob, ganz anders interpretierte.
"Ich nenne es Schicksal. Jetzt muss ich nur noch hoffen, dass er meine Einladung zum Vorstellungsgespräch annimmt."
Marlaine lacht. "Warum sollte er nicht? Er war schließlich hier, also ist er ein Fan", wirft sie ein. "Jeder würde als dein Cutter arbeiten wollen."
Cassian zuckt mit den Schultern und wieder ist da dieser nachdenkliche Ausdruck auf seinem Gesicht zu sehen.
"Er war sehr schüchtern", erklärt Cassian, während sein Blick in die Menge geht.
"Na dann wollen wir mal hoffen, du hast deinen neuen Cutter heute gefunden", sage ich und hebe meine Flasche, damit wir anstoßen können. Ich versuche, das Thema zu wechseln und überhäufe Cassian mit Fragen über seine nächsten Shootings.
Während der Fotograf ins Erzählen gerät, denke ich an das zurück, was ich an der Bar beobachten konnte.
Cassians Hand, die sich auf den Arm des Jungen zu legen versuchte und ein Zurückzucken, das selbst aus der Ferne deutlich sichtbar war.
Du hast dich zurecht erschrocken, wende ich mich gedanklich an den jungen Gast.
Es ist besser für dich, du bleibst diesen Fotografen fern.
Doch ich ahne bereits, dass wir den Jungen bald schon erneut begegnen werden.
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