Kapitel 38 - Kieran
--Kieran--
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich in die Straße einbiege, in der Cassians Büro liegt. Die Sonne wirft nach meinem Geschmack ein zu grelles Licht in die Welt, und ich blinzele immer wieder dagegen an. Meine Augen brennen von dem stundenlangen Arbeiten vor dem Bildschirm.
Heute ist der Tag, an dem ich ein Feedback für mein erstes geschnittenes Video bekomme. Gestern Abend habe ich die letzten Feinheiten hinzugefügt und das fertige Video über Cassians vergangenes Shooting wie vereinbart in die Cloud geladen. Der Fotograf schrieb mir noch am Abend, dass er heute persönlich mit mir darüber sprechen möchte. Ohne einen weiteren Kommentar.
Seine kurz angebundene Nachricht ließ zu viel Interpretationsspielraum. In meinem nervösen Zustand hatte ich Cassian gestern schon um ein erstes kurzes Feedback gebeten. Er antwortete nicht und in der Nacht lag ich stundenlang wach.
Cassian gab keinen bestimmten inhaltlichen Stil für die Videos vor. Nach der Begegnung mit Jules wollte ich mich gedanklich so weit wie möglich von ihm und seinem Schaffen distanzieren.
Und so entschloss ich mich dazu, das von Laureen gefilmte Material ganz allein aus meinem Blickwinkel zu betrachten. Das Endprodukt ist weit von dem entfernt, was Cassian und Jules einst mit den Videos vorgehabt haben könnten.
Aus Angst, der komplett neue Stil könnte Cassian missfallen, malte ich mir die schlimmsten Gespräche mit ihm aus.
Ich öffne die Tür des Büros mit zitternden Händen. Als der mir mittlerweile vertraute Geruch gemahlener Kaffeebohnen entgegenströmt, zieht sich mein Magen zusammen.
Ich kann das nicht, denke ich panisch doch dann steht Cassian schon im Flur und begrüßt mich mit einem strahlenden Lächeln, das mir sofort einen Teil meiner Aufregung nimmt.
"Guten Morgen, Kieran"
Selbst Laureen schenkt mir eine winzige Andeutung eines Lächelns, während sie mit einer Tasse voll Kaffee in der Hand an mir vorbeigeht, um in das Techniklager zu gelangen.
"Du siehst müde aus", stellt Cassian fest, als wir beide an der Kaffeemaschine stehen und er mir meinen Cappuccino zubereitet.
Ich sage nichts und versuche nur meine widerspenstigen Haare ein wenig zu glätten.
Cassian sieht mit einem schmunzeln von dem Kaffee auf.
"Deine Haare habe ich nicht gemeint. Ich mag sie so wild."
Ich stocke in meiner Bewegung und spüre, wie mir das Blut warm ins Gesicht schießt. Dankbar darüber, meinen Händen etwas zu tun zu geben, nehme ich meinen Cappuccino entgegen und folge Cassian zum Tisch. Sein Laptop steht schon bereit und mein Video ist im Player geöffnet.
Wir setzen uns nebeneinander und ich versuche dabei unauffällig ein wenig von Cassian abzurücken - es entgeht ihm nicht und wieder schmunzelt er.
"Nervös?"
"Schon irgendwie", murmel ich und nehme einen vorsichtigen Schluck vom Kaffee.
"Das Video ist richtig gut. Entspann dich, Kieran!"
Mit einem Lachen legt Cassian seine Hand in beruhigender Geste auf meine Schulter. Ich zähle fünf Herzschläge, dann ist die Hand wieder fort und ich atme weiter.
Bitte lass das hier schnell vorbeigehen.
In der nächsten Stunde teilt Cassian überwiegend seine Begeisterung mit mir und ich entspanne mich nach und nach. Die wenigen Kritikpunkte, die er anmerkt, beschränken sich auf die Auswahl von Musik und Schnittbilder.
Ich bin überrascht. Ich hatte, anders als Jules, meinen Fokus auf die Arbeit zwischen Cassian uns sein Team gelegt und mich weniger auf das Shooting selbst konzentriert, welches in den vergangenen Videos nach meinem Geschmack viel zu viel Raum eingenommen hatte.
Somit wirken die Videos nun nicht mehr vordergründig wie Werbung für Model oder Designermarken. Damit uns trotzdem niemand von den Sponsoren verklagen kann, habe ich, was das Shooting anbelangt, ästhetische Detailaufnahmen von Model und Kleidung miteinbezogen und diese teilweise in Zeitlupengeschwindigkeit eingebaut.
Das Wichtigste für mich war allerdings, dass Cassian nicht mehr wie ein fehlerloser Halbgott dargestellt wird.
Jules hatte einen eingeschränkten Blick auf seinen Auftraggeber und seine Videos waren eine Ansammlung von Cassians schönsten Momenten - was mir erst bewusst wurde, nachdem ich mir einen Überblick darüber verschaffen habe, welche Fülle an Material Laureen als Kamerafrau eigentlich noch aufgenommen hatte.
"Ich verstehe, warum du so nervös warst", sagt Cassian, nachdem wir die letzten Änderungen besprochen haben. "Es ist das komplette Gegenteil von dem, was Jules zuvor geschnitten hat."
"Und er würdigt endlich mal meine schönen Aufnahmen", wirft Laureen ein, die in der Zwischenzeit ebenso am Küchentisch Platz genommen hat. Sie schenkt mir ein dankbares Lächeln und der letzte Rest Nervosität fällt von mir ab.
"Was war deine Intention, Kieran?", fragt Cassian. Haselnussbraune Augen fangen meinen Blick auf, halten ihn fest. Ich verliere mich einen Moment und unterbreche schließlich unseren seltsamen Blickkontakt. Stattdessen sehe ich auf den Bildschirm.
"Ich wollte einfach nur der Wahrheit möglichst nah kommen", sage ich schließlich und in meinen Ohren klingen meine Worte wie eine lahme Floskel.
"Und genau dafür habe ich dich eingestellt", fasst Cassian zufrieden zusammen. Er klappt seinen Laptop zu und erklärt unser Meeting für beendet. Ich folge ihm zu unseren Bürotischen. Nach all den Komplimenten fühle ich mich so erleichtert, dass es mir vorkommt, als schwebe ich förmlich über den Dielenboden.
Doch dann verpasst Cassian mit einem einzigen Satz meiner gelösten Stimmung einen Dämpfer.
"Nächste Woche steht ein weiteres Shooting an und dieses Mal kannst du alles aus nächster Nähe beobachten."
So bald schon?
Ich muss meine Überraschung überdeutlich in meinem Gesicht stehen haben, denn Cassian mustert mich mit einem belustigten Lächeln.
"Andere würden vor Freude in die Luft springen und du siehst aus, als hätte ich dir deine Kündigung überreicht", stellt er lachend fest.
"Ich habe nicht damit gerechnet, dass so bald schon ein Shooting stattfinden würde", sage ich.
Cassian weist auf den Kalender, der rechts von unseren Tischen an der Wand befestigt ist. Schwarz auf weiß sind dort die Tage des anstehenden, sowie aller weiteren Shootings eingetragen. Wochen im Voraus, wie ich feststellen kann.
"Achso", sage ich, verwundert darüber, dass mir dieser Kalender bisher überhaupt nicht aufgefallen war.
So sehr war ich wohl mit dem Sichten des Materials beschäftigt.
Oder damit, Cassians Blicken auszuweichen...
Erst jetzt fallen mir auch all die anderen Details auf, die das Büro ausmachen; ein Regal voll mit Büchern über Kunst und Fotografie, sowie zahlreiche Urkunden und Auszeichnungen in Bilderrahmen an der Wand, für Cassians bisheriges Werk. Ich entdecke auch das Cover eines bekannten Modemagazins, bei dem Cassians Name auftaucht, in einem goldenen Bilderrahmen.
Wo war ich in den letzten Tagen?
Als ich wieder zum Fotografen sehe, bemerke ich seinen nachdenklichen Blick, der die ganze Zeit auf mir zu ruhen schien, während ich die Einrichtung musterte. Ein merkwürdiges Kribbeln in meinem Bauch bringt mich dazu, meinen Blick abzuwenden und ich setze mich auf meinen Schreibtischstuhl.
Cassian indes bleibt stehen und sieht mich weiterhin an.
"Ich wünschte, ich hätte dich schon viel eher kennengelernt, Kieran."
Die Stimme des Fotografen ist plötzlich eine Spur leiser, als spreche er nur zu sich selbst. Ich traue mich nicht aufzusehen und sage nichts.
Erst als Cassian selbst auf seinem Stuhl Platz nimmt und die Bildschirme mich vor seinen intensiven Blicken schützen, hole ich vorsichtig tief Luft und versuche mich wieder zu sammeln.
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