Kapitel 35 - Younes
--Younes--
Nach einem Monat mit Kieran als meinen Mitbewohner, werde ich das erste Mal mitten in der Nacht von seinem Schluchzen aus dem Schlaf geholt.
Mein Herz schlägt wild in meiner Brust, während ich noch im Halbschlaf einen Moment brauche, um den fremden Laut einzuordnen. Dann stehe ich auf und betrete ohne Zögern Kierans Zimmer.
Er weint tatsächlich im Schlaf, stelle ich fest, als ich mich vorsichtig auf seine Bettkante setze. Dann lege ich meine Hand auf seine Schulter und rüttele ihn sanft.
"Kieran, wach auf. Du hast einen Alptraum", sage ich laut und wiederhole die Worte, bis Kieran die dunklen Augen öffnet. Er zuckt zusammen, als er mich sieht und versteht, warum ich bei ihm bin.
"Tut mir leid", schnieft er in seine Decke, unter die er sein Gesicht vergräbt. Meine Hand liegt noch immer auf seiner Schulter. Ich lasse sie einen weiteren Moment liegen, in der Hoffnung, ihn damit beruhigen zu können.
"Ich habe auch manchmal Alpträume", erzähle ich. "Möchtest du darüber reden?"
Kieran zögert einen Moment, bevor er sich in seinem Bett aufsetzt. Er mustert mich abschätzend.
"Wovon träumst du, wenn du Alpträume hast?"
Nun zögere ich. Doch mir wird klar, dass Kieran sich mir gegenüber nicht weiter öffnen wird, wenn ich ihn nicht ebenso ein wenig Vertrauen schenke.
"Ich träume vom Tot meines Vaters", antworte ich schließlich mit einem Flüstern. Es ist so still um uns, dass Kieran mich dennoch versteht. Die Worte hinterlassen ein Schweigen, in dem ein Knoten in meinem Hals wächst. Ich räuspere mich und versuche Kieran ein Lächeln zu schenken, das die schwere Stimmung vertreiben soll.
Er wendet den Blick ab. Seufzend streicht sich mein Mitbewohner die wirren schwarzen Haare aus der Stirn. Selbst in der Dunkelheit der Nacht kann ich die Erschöpfung erkennen, die sich auf dem blassen Gesicht abzeichnet.
Als ich schon glaube, dass er nicht mehr antwortet, durchbricht seine vom Weinen noch brüchige Stimme die Stille.
"Du verschweigst mir etwas Wichtiges über Cassian. Ich muss wissen, wovor du mich wirklich gewarnt hast."
Kierans Direktheit überrumpelt mich und der Knoten in meinem Hals wird fester.
"Ich habe dir bereits gesagt, worum es geht", sage ich. Ich kann dir meine Gedanken nicht anvertrauen, weil ich nicht weiß, ob meine Einschätzung dem heutigen Cassian überhaupt gerecht wird. Ich würde Kieran nur unnötig Angst machen.
- Er hat bereits Angst, stelle ich keine Sekunde nach meiner gedanklichen Entschuldigung fest. Kierans Blick fliegt suchend über mein Gesicht.
"Ist etwas vorgefallen?", frage ich leise und bemerke zu spät, dass ich mit meiner Frage eine erste Andeutung mache.
Kieran schüttelt langsam den Kopf.
"Seine Kamerafrau dachte, Cassian habe mir das angetan", erklärt er und weist auf sein Gesicht, auf dem selbst im Dunkeln die Spuren des Angriffs zu sehen sind.
Seine schwarzen Augen, so dunkel wie die Nacht, die uns umgibt, lassen mich nicht los. Ich gebe mich ihren Anblick hin, einzig um zu vermeiden an das zu denken, was zwischen mir und Cassian vor so vielen Jahren vorgefallen ist.
"War es in Ordnung, dich zu wecken?", frage ich, nach unerträglichen Sekunden Stille, die auf meine Erklärung wartete. Die Enttäuschung über mein Ausweichen ist sofort deutlich auf Kierans Gesicht abzulesen. Ich schiebe meine Gewissensbisse beiseite.
"Ja, danke. Es tut mir leid, dass du meinetwegen wachgeworden bist."
"Ich habe einen leichten Schlaf, mich weckt so ziemlich jedes Geräusch auf", winke ich ab und stehe auf.
"Bis Morgen, Kieran", sage ich, als ich bei der Tür bin.
"Gute Nacht, Younes", höre ich ihn sagen und dann schließe ich die Tür.
Zurück in meinem Bett, legt sich die Bedeutung Kierans Worte schwer auf meine Brust.
Seine Kollegin dachte, Cassian sei schuld an Kierans Verletzungen? Das würde bedeuten, dass bereits etwas in Cassians Team passiert sein könnte. Ich denke an den Mitarbeiter zurück, dessen Arbeitsplatz Kieran einnehmen sollte. Er hat sich von seiner Freundin getrennt und ist zurück in seinen Heimatort gezogen, höre ich Cassians Erklärung wieder in meinen Gedanken.
Nein. Cassian wirkte zu unbekümmert und teilnahmslos in diesem Gespräch.
Ich starre mit klopfenden Herzen an die Decke meines Zimmers, während in mir trotz der Zweifel eine absurde Vermutung heranwächst.
Was ist, wenn es keine Freundin, sondern einen Freund gab und wenn dieser Freund nicht der war, der sich trennte, sondern der, der verlassen wurde?
Und dann stehe ich gedanklich wieder in diesem Fitnessstudio, sehe Kieran seinen Ex-Freund diesen flehentlichen Blick schenken, der nach einer Antwort schrie. Noch dazu dieses Bedauern auf dem Gesicht seines Ex-Freundes, das einfach nicht in die Situation passen wollte. Als hätte er nie vorgehabt sich von Kieran zu trennen ...
Hör auf damit, ermahne ich mich selbst, als ich merke, wie absurder die Vermutungen werden, die sich mein aufgebrachter Geist zusammenreimt. Ich weiß, dass ich mich erneut in fremde Angelegenheiten verstricke - wie schon in meiner letzten Beziehung.
Es geht mich nichts an, versuche ich mir zuzureden. Doch mein Gewissen ist anderer Meinung und lässt mich wieder an jenen Cassian denken, den ich vor Jahren kennengelernt habe; ein junger Student mit zu viel Druck von der Familie, eine tickende Zeitbombe gleich, bei der die Explosion abzusehen war und die dann auch tatsächlich explodierte.
Ich massiere mir die schmerzhaft pochende Stirn, drehe mich dann entschieden in meinem Bett um und schließe meine Augen.
Es dauert sehr lange, bis ich zurück in den Schlaf finde.
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