Kapitel 34 - Kieran

--Kieran--

Als ich am nächsten Morgen mein Spiegelbild im Bad erblicke, überlege ich einige Sekunden lang ernsthaft, mich bei Cassian krankzumelden.

Neben den Flecken auf meinem Gesicht, der vertrockneten Wunde auf meiner Lippe, liegen dunkle Schatten unter meinen Augen. Ich versuche alles so gut es geht mit Puder zu überdecken.

Younes begrüßt mich mit seinem vorsichtigen Lächeln in der Küche. Ich bin zu sehr mit meinem Frust beschäftigt und ignoriere ihn. Außerdem schäme ich mich. Ich schäme mich für meinen unkontrollierten Gewaltausbruch. Ich schäme mich für den anschließenden Zusammenbruch, aus dem Younes mich herausholen musste.

Zudem lag ich die halbe Nacht wach, weil ich nur noch daran denken konnte, wie Younes mich berührt hat. Als hätte ich keine anderen Probleme.

Younes räuspert sich leise. Ich sehe zögernd von dem Buch auf, das ich überhaupt nicht lese und das nur dazu dienen soll, von Younes nicht angesprochen zu werden.

"Wie geht es den Verletzungen?"

Ich zucke mit den Schultern. "Ganz okay."

Es ist furchtbar. Alles tut weh.

Als würde Younes meine unausgesprochenen Worte erahnen, schlägt er irgendeine Salbe vor, die gegen Muskelschmerzen helfen soll und die er in der Apotheke besorgen könnte.

"Es ist alles in Ordnung, danke."

Sein Blick ruht einen Moment auf mir und ich erwidere ihn stumm, während ich mich nicht daran zu erinnern versuche, wie seine Finger sich auf meine Haut angefühlt haben ... Vorsichtig, sanft und wunderbar warm ...

Mein Gesicht wird plötzlich heiß und ich stehe abrupt von meinem Platz auf. Ich schiebe mir den letzten Rest meiner Toastscheibe in den Mund und stelle das Geschirr eilig in den Geschirrspüler.

"Ich muss los, sonst komme ich zu spät", murmele ich noch, bevor ich aus der Küche und von diesen blaugrünen Augen fliehe.

Während der Busfahrt, auf dem Weg in Cassians Büro, versuche ich meine Gefühle einzuordnen.

Das letzte Mal, als mich eine Berührung derart durcheinander bringen konnte, hatte mich Jules auf unserem gemeinsamen Sofa in seine Arme gezogen und seine Hand auf meine Hüfte gelegt. Damals genoss ich die Nähe und Intimität, weil ich mich von Jules angezogen fühlte und in seiner Nähe sein wollte.

Mit Younes ... die Nähe im Badezimmer war zu viel gewesen, hatte sogar für Schwindel gesorgt. Und doch wollte ein Teil in mir, dass Younes seine Berührungen fortsetzt.

Kaum ist der eine Typ aus deinem Leben getreten, schwärmst du schon vom nächsten?

Angewidert von mir selbst, verscheuche ich meine Gedanken an Younes.

Ich bin viel zu früh aus der Wohnung geflüchtet, weshalb ich das Büro verlassen vorfinde, als ich die Tür mit dem Schlüssel öffne, den Cassian mir mit dem Vertrag ausgehändigt hatte. Mein erster Gang führt mich zu der Kaffeemaschine. Dann beschließe ich, mich sofort an die Arbeit zu machen. Es ist mein letzter Tag, um das gefilmte Material zu sichten, bevor ich Morgen mit dem Schnitt des ersten Videos anfangen muss.

Eine Stunde später taucht Cassian auf. Ich höre ihn erst dumpf hinter meinen Kopfhörern in der Küche hantieren, bevor er unser gemeinsames Büro betritt.

Ich blicke auf und schenke ihn ein kurzes "Hallo", um mich dann wieder meiner Arbeit zu widmen. Doch natürlich fällt ihn mein Gesicht auf.

"Wow, du siehst echt beschissen aus", höre ich ihn sagen.

"Wie bitte?"

Ich reiße mir die Kopfhörer runter und sehe in haselnussbraune Augen.

"Was ist passiert?", fragt Cassian mich. Wir sitzen einander gegenüber, sehen uns über unsere Bildschirme hinweg an, während ich uns in schweres Schweigen hülle.

"Ich hab mich geprügelt", erkläre ich schließlich. Cassian lacht kurz auf, als hätte ich einen Scherz gemacht. Dann verschwindet die Belustigung aus seinem Gesicht.

"Du meinst das ernst?"

Cassian mustert mich und ich weiß, was er denkt, immerhin habe ich dasselbe über ihn gedacht. Zu zierlich, um jemanden zu verprügeln.

Ohne ein weiteres Wort setze ich meine Kopfhörer auf und versuche mich in das Geschehen der Videos zu vertiefen.

In der Mittagspause betritt Cassians Kamerafrau Laureen das Büro. Cassian und ich hatten uns für einen Kaffee an den Tisch in der Küche gesetzt und die Pause war in ein kurzes Meeting umgewandelt worden.

"Am besten wäre es, du stellst das erste Video diese Woche fertig", beendet Cassian gerade die Ausführung seines Zeitplans, als Laureen in die Küche tritt. Natürlich fallen auch ihr sofort meine Verletzungen auf und mit geweiteten Augen sieht sie zwischen mir und Cassian hin und her.

"Was ist passiert?", fragt sie seltsamerweise an Cassian gewandt. Der Fotograf hebt abwehrend seine Hände.

"Ich habe damit nichts zu tun", erklärt er lachend.

Laureen verengt misstrauisch die Augen und ihr Blick fliegt zu mir.

Mein Herz stolpert erschrocken, während ich zu verstehen beginne, was Laureens Reaktion andeutet.

"Er war es nicht. Ich bin gestern in eine Prügelei geraten", erkläre ich eilig.

Laureens Blick verfinstert sich weiter und sie mustert mich ebenso prüfend, wie Cassian zuvor. Dann wendet sie sich von uns ab, um sich einen Kaffee zu holen.

"Wieso glaubt sie, du hättest mich geschlagen?", frage ich Cassian flüsternd. Er zuckt mit den Schultern.

"Ich hab keine Ahnung. Ich würde dir doch niemals wehtun!", antwortet er mit einem festen Blick, der mich beruhigen soll. Doch innerlich zittere ich und denke an Jules Verletzungen zurück. Laureen ist da offensichtlich anderer Meinung.

Vielleicht ist es die Tatsache, dass ich gestern körperlich angegriffen wurde, die dafür sorgt, dass sich plötzliche Angst in mir regt.

Angst vor Cassian.

Als Laureen mit ihrem Kaffee an den Tisch kommt, entschuldige ich mich und kehre an meinem Arbeitsplatz zurück.

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