Kapitel 3 - Kieran

--Kieran--

Ich fühle mich sofort fehl am Platz und auf beschämende Weise underdressed, sobald ich den umfunktionierten Laden in der Berliner Innenstadt betrete.

Ein Mann in einem altmodischen Sakko mit Fliege um den Hals bietet mir ein Glas Sekt an, das ich mir von einem Tablett nehme. Ich bin froh um den Alkohol und muss mich zusammennehmen, nicht sofort das ganze Zeug hinunter zu kippen.

Es ist sehr hell und sehr laut. Nach drei Wochen Isolation von der Außenwelt sind all meine ohnehin schon sensiblen Sinne schnell aufs Äußerste strapaziert. Ein paar Mal stoße ich gegen die eine oder andere Schulter, werde rot und entschuldige mich.

Ich sollte wieder gehen!

Ich habe schon immer versucht, solche Veranstaltungen zu meiden. Früher zerrte mich meine Mutter zu einigen Partys dieser Art und ich habe diese Feierlichkeiten damals zu hassen begonnen. Die oberflächlichen Gespräche, in denen es zu oft nur darum ging, sich selbst aufpoliert darzustellen, erschienen mir als die ödeste Zeitverschwendung überhaupt.

Unter den Massen an Gästen kann ich Cassian nicht entdecken und es geht nur schleppend vorwärts. Ich erkenne ein paar Portraits wieder, die an den Wänden hängen und fühle mich für ein paar Augenblicke nicht mehr ganz so fehl am Platz.

Glücklicherweise streift der Kellner im Sakko erneut meinen Weg. Lächelnd nimmt er mein leeres Glas ab und reicht mir ein gefülltes. Der Alkohol hinterlässt ein brennendes, aber wunderbar warmes Gefühl in meinem Bauch.

Inmitten des lauten Stimmengewirrs versuche ich mich auf die Fotos und ihre Wirkung einzulassen, um mich irgendwie zu beruhigen. In diesem aufgekratzten Zustand kann ich Cassian auf keinen Fall gegenübertreten.

Ich schiebe mich, gemeinsam mit ein paar anderen Interessierten, von Bild zu Bild, während die meisten der Gäste mit sich selbst und den anderen wichtigen Personen im Raum beschäftigt sind.

Kurz macht mich die Tatsache, dass sich nur eine Handvoll Gäste vor den Bildern wiederfinden, wütend. Ich muss daran denken, wie viel Aufwand Cassian in seine Shootings investiert. Die Würdigung seiner Arbeit kommt auf dieser Veranstaltung definitiv zu kurz.

Bald schon meine ich, den roten Faden zu entdecken, der sich durch Cassians Bilder zieht. Vor weißem Hintergrund sind Frauen und Männer einzeln abgelichtet, in den unterschiedlichsten Stoffen und Formen gekleidet. Anhand ihrer Mimik und Körpersprache und in Verbindung mit den Farben und Mustern ihrer Kleidung entsteht eine immer andere Stimmung beim Betrachten.

Ich denke an Spaziergänge durch die Jahreszeiten.

Ich schreite durch knallbunte Frühlingswiesen.

Bade im warmen Meer unter tiefblauem Himmel.

Friere das erste Mal seit langem im kühlen Windzug und spüre nasskalte Flocken auf-

Ich bleibe abrupt stehen und eine Frau, die sich hinter mir hergeschoben hat, murmelt eine genervte Bemerkung, bevor sie sich an mir vorbei schiebt.

Irgendetwas an diesem letzten Foto der Reihe fesselt meinen Blick. Irritiert versuche ich meine Gedanken zu sammeln und mustere das Werk.

Ein junger Mann mit goldenem Haar, in dem sich Schneeflocken verirrt haben.

Blaugrüne Augen, die sich dem Betrachter oder der Betrachterin mit ihrem direkten Blick aufzudrängen scheinen.

Ich weiß nicht, ob es ein fröhliches oder ein trauriges Lächeln ist, welches die Lippen ziert. Seine Arme hat er von sich gestreckt, sein Kopf ein wenig zur Seite geneigt. Es wirkt, als tanze er und fordere dabei zum Tanzen auf.

Sehe ich in seine Augen denke ich an warmen Sommerregen, doch sein Lächeln und die Schneeflocken in seinem Haar lassen mich wiederum an jene kalten, stillen Wintertage denken, an denen man glaubt, die Welt halte den Atem an, während dichte Flocken fast lautlos hinab fallen und alles Laute bedecken ...

Was auch immer dieses Bild für eine Jahreszeit auszudrücken versucht - irgendetwas in mir gerät in Ungleichgewicht, während ich in das Gesicht des jungen Mannes blicke.

Und für einen gefährlichen Moment droht die Traurigkeit mich erneut in ihre Klauen zu bekommen.

Doch dann höre ich ein leises Räuspern. Ich reiße meinen Blick nach einer gefühlten Ewigkeit von dem Bild los.

Und sehe direkt in Cassians haselnussbraune Augen.

Sofort schießt mir brennende Hitze ins Gesicht und mein Herz beginnt einen stolpernden Lauf.

Wieso stehst du hier? Warum ausgerechnet neben mir, während der Raum um uns voll ist mit Menschen, die dich sehen wollen?

"Wie findest du das Foto?", fragt er mich mit diesem einnehmenden Lächeln, das im echten Leben noch umwerfender ist. Ich sehe zurück zu dem Werk, ohne es allerdings wirklich zu sehen.

"Es ist das Beste aus der Reihe", sage ich nach einigen zähen Sekunden des Schweigens.

"Er ist ein Freund von mir, weshalb mir dieses Foto auch sehr wichtig ist", erklärt er. Ich bilde mir ein, seinen Blick auf mich zu spüren und sehe zurück in Cassians Gesicht. Er sieht mich tatsächlich an. Mustert mich.

"Wie heißt du?", fragt er unvermittelt.

"Kieran."

Meine Stimme ist heiser und weil ich mich für den kratzigen Ton schäme, breche ich unseren Blickkontakt wieder ab.

Mein Gesicht ist heiß, mein Herz rast, in mir schreit alles nach Abbruch.

Er wiederholt meinen Namen und klingt dabei nachdenklich.

"Darf ich dir einen Drink anbieten, Kieran?"

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