Kapitel 28 - Kieran

--Kieran--

Am zweiten Arbeitstag bin ich glücklicherweise allein im Büro. Cassian und Laureen sind mit einem potenziellen Auftraggeber verabredet und verkündeten am Morgen, den ganzen Tag unterwegs zu sein. Ich versinke erneut im Videomaterial, bis ich am späten Nachmittag von einer Nachricht meines Vaters unterbrochen werde.

"Ich war bei Jules Eltern."

Er schlägt vor, dass wir uns auf seiner Arbeit im Krankenhaus treffen und ein paar Stunden später sitze ich vor der Klinik an einem der Tische des Besuchercafés.

Es dämmert bereits, doch nach einem sehr sonnigen Tag ist es noch immer angenehm warm. Wie so oft, wenn ich meinen Vater auf dem Klinikgelände besuche, lässt er mich warten. Nach einer halben Stunde des Wartens treiben meine Gedanken zurück zum gestrigen Abend.

Zurück zu Younes. Zurück zu diesen grünblauen Augen und diesem schiefen Lächeln.

Zurück zu dem Moment, in dem er mir klarmachte, was Cassian mit seinem Flirten in der Regel beabsichtigt.

Mir geht Younes' leises Lachen nicht aus dem Kopf. Er hatte mir etwas zu sagen versucht, nur fehlten mir offenbar die Mittel, um zwischen den Zeilen zu lesen und zu begreifen. Mit seinem Lachen schien es, als mache er sich über meine Begriffsstutzigkeit lustig.

Und dabei fing ich gerade an, dich zu mögen ...

Ich sehe meinen Vater schließlich mit flatternden Kittel aus dem Krankenhaus laufen und winke ihm zu. An meinem Tisch angekommen drückt er mich kurz, dann hebt er die Hand, um der Kellnerin des Cafés ein Zeichen für die Bestellung zu geben.

Am liebsten würde ich ihn ohne Umschweife sofort auf seinen Besuch bei Jules Eltern ansprechen, doch mein Vater kommt mir mit seinen eigenen Fragen zuvor. Ich erzähle in Kurzfassung von den vergangenen Wochen mit Younes als neuen Mitbewohner und berichte von meinen ersten Tagen bei Cassian.

"Du siehst immer noch sehr müde aus", stellt er schließlich fest, als wir an unseren gebrachten Kaffees nippen.

"Mir geht es gut", murre ich. Ich kann genau erkennen, wie er mit seiner Musterung versucht, das, was er sieht, mit seinen Patienten und ihren Krankheitsbildern abzugleichen.

"Mhm", macht er nur mit seinem sorgenvollen Stirnrunzeln, dessen Anblick mich sofort wieder wütend macht.

"Warum hast du Younes von den Alpträumen und dem Schlafwandeln erzählt? Es kommt seit Jahren nicht mehr vor. Weißt du, wie peinlich das für mich war, als er mich darauf angesprochen hat?"

Am Rande nehme ich den keifenden Ton in meiner Stimme wahr und ein Teil von mir schämt sich sofort für diesen kindischen Ausbruch. Das Stirnrunzeln meines Vaters vertieft sich.

"Jules erzählte mir vor Monaten, beides wäre wieder häufiger vorgekommen."

Jules hat was getan? Ich kann mich nicht einmal daran erinnern!

"Das stimmt nicht", wehre ich schwach ab. Warum hat Jules mir nichts davon erzählt?

"Er hat es dir also nicht erzählt und du kannst dich nicht erinnern", fasst mein Vater meine Gedanken zusammen.

"Wie war es jetzt bei Jules Eltern?", frage ich ausweichend. In meiner Brust sticht es schmerzhaft. Was für ein Freund warst du eigentlich, Jules? Wen habe ich all die Jahre über vertraut?

Mein Vater starrt mich schweigend an und ich weiß, dass er weiter auf meine Träume und auf das Schlafwandeln eingehen möchte. Doch etwas in meinem Blick hält ihn davon ab, weiter nachzubohren.

"Es geht Jules gut. Er hat eine eigene Wohnung in der Nähe seiner Eltern gefunden und arbeitet jetzt in einem Fitnessstudio."

"Hast du mit ihm gesprochen?"

Mein Vater schüttelt den Kopf. Dann wirkt es einen Moment so, als wolle er die nächsten Worte lieber zurückhalten.

"Er hat seinen Eltern gesagt, wenn du bei ihnen auftauchst, dürfen sie dir seine neue Adresse nicht nennen."

"Das ist absurd", sage ich. "Außerdem gibt es in dem blöden Kaff bestimmt nur ein einziges Fitnessstudio. Ich würde ihn auch so finden", füge ich maulend hinzu.

"Es ist eine Kleinstadt, Kieran."

"Ich fahre hin", beschließe ich, während ich versuche den Schmerz in meiner Brust wegzuatmen. "Und dann rede ich mit Jules!"

"Kieran", versucht mein Vater mich zu beschwichtigen, doch ich ignoriere ihn. In meinem Handy gebe ich den Namen des Dorfes ein. Knapp 12.000 Einwohner. Dann ist es eben eine blöde Kleinstadt.

"Kieran!"

Ich unterbreche mich in meiner Recherche, bei dem nun sehr eindringlichen, mahnenden Ton in der Stimme meines Vaters. Irritiert sehe ich auf.

"Er will den Kontakt nicht. Alles, was du von jetzt an tust, kann dir als Stalking ausgelegt werden."

Mir entkommt ein trockenes Lachen.

"Er ist mein Freund! Ich darf ihn ja wohl besuchen."

Wieder schüttelt mein Vater den Kopf.

"Wie oft hast du ihn angerufen, wie viele Nachrichten hast du ihm geschrieben? Er hat nicht geantwortet. Er hat seinen Eltern verboten, weiterzugeben, wo er wohnt. Das bedeutet, dass er den Kontakt nicht will."

Ich blinzele die aufkommenden Tränen fort.

"Gib ihm noch Zeit, Kieran."

Aber ich vermisse ihn. Ich brauche ihn. Ich fühle mich furchtbar allein ohne ihn.

Meine Sicht verschwimmt und ich greife nach meiner Tasse, um mich mit dem Trinken abzulenken. Mein Kopf dröhnt, während ich die Traurigkeit versuche zurückzudrängen. Ich will nicht noch einmal vor meinem Vater weinen – erst recht nicht, wenn er in seinem blöden nach Desinfektionsmittel riechenden Klinikkittel steckt.

"Younes scheint ein sehr netter Mann zu sein."

Ich zucke mit den Schultern und stopfe mir ein Stück des Kuchens in den Mund. Er schmeckt nach nichts und ich bereue ihn mir bestellt zu haben.

"Ich weiß, dass es nicht richtig war, ihm von deinen Alpträumen und dem Schlafwandeln zu erzählen", gibt mein Vater nun leise zu. Ich sehe ihn an, um mich von meinem inneren Schmerz abzuwenden. Sein schuldbewusster Blick besänftigt mich nicht.

"Warum hast du es dann getan?"

"Weil ich mir Sorgen um dich mache."

Ich widme mich wieder dem Kuchen, stopfe weiter die letzten Stücke in mich hinein.

"Es geht mir gut", sage ich noch einmal, als ich glaube, mich einigermaßen im Griff zu haben.

Ich falle nicht zurück ins damals, füge ich in Gedanken hinzu. Ich weiß, worauf die Sorge meines Vaters fußt.

Als meine Mutter über Nacht verschwand, um uns für immer und ohne ein Wort des Abschieds zu verlassen, hat es uns beide völlig aus dem Leben gerissen. Während sich mein Vater zur Ablenkung in die Arbeit stürzte, versank ich in Selbstmitleid und hätte beinahe alles aufgegeben. Die Ausbildung, die WG, Jules und ... an einem sehr dunklen Tag auch beinahe mich selbst.

Jules hatte es geschafft, mich davon abzuhalten.

"Ich fühle mich nicht, wie damals", füge ich mit fester Stimme hinzu.

Natürlich hat Jules meinen Vater von meinen Alpträumen erzählt. Schließlich mussten sie seit jenem Tag häufig über meine mentale Verfassung gesprochen haben, wird mir nun klar.

Deshalb wirkten sie manchmal so vertraut miteinander.

"Das ist gut", höre ich meinen Vater sagen. Er klingt nicht überzeugt. Ich spüre erneut die Wut in mir auflodern und stehe vom Tisch auf.

"Sind wir dann fertig mit der Therapiesitzung?"

"Kieran-"

"Ich gehe im Café den Tisch bezahlen", unterbreche ich ihn und eile auf den Eingang zu.

Mein Vater folgt mir nicht, seine Pause müsste ohnehin längst vorbei sein.

Ich wische mir im Gehen die Tränen fort und nehme mir fest vor, am Wochenende in Jules Stadt zu fahren.

Dieses Schweigen halte ich nicht mehr länger aus!

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