Kapitel 27 - Kieran

--Kieran--

Für ein paar kurze Herzschläge überlege ich, Younes von Jules zu erzählen. Doch je länger das Schweigen anhält, desto mehr werde ich von meinen Emotionen eingenommen. Als sich der mir vertraute feste Klumpen in meinem Hals bildet, wende ich mich ab und stopfe mir ein letztes Stück von der lauwarmen Lasagne in den Mund.

Ich habe vermutet, dass mit Cassian irgendetwas nicht stimmt. Doch dies nun auch von Younes zu hören, der sich gestern noch als einen Freund des Fotografen vorgestellt hat, lässt die erste Vermutung zu einer beängstigenden Erkenntnis auswachsen.

"Gestern hast du noch in hohen Tönen von ihm gesprochen", merke ich an. Mir ist übel. Ich schiebe den Teller von mir, auf dem noch die Hälfte der Portion übrig ist.

"Gestern waren er und ich auch noch Freunde. Heute sind wir im Streit auseinandergegangen."

"Worüber habt ihr euch gestritten?"

Younes nimmt meinen Teller und steht vom Tisch auf, um das Essen mit Frischhaltefolie abzudecken. Es macht mich nervös, sein Gesicht nicht mehr sehen zu können. Als er sich wieder zu mir umdreht, fängt er sofort meinen Blick auf.

"Erscheint dir diese Konstellation nicht etwas seltsam?"

"Welche Konstellation?", frage ich, verwirrt von seinem viel zu ernsten Blick.

"Du als Cassians neuer Mitarbeiter, ich als dein Mitbewohner und dazwischen die Freundschaft zwischen mir und ihm?"

Ich denke zurück an diesen Moment, als Cassian auf der Ausstellung neben mir aufgetaucht war und wie nachdenklich er wirkte, als ich ihm meinen Namen sagte. So als hätte er ihn schon einmal gehört.

Wieso sprach er ausgerechnet mich auf seiner Party an, wo doch so viele andere Gäste seine Bilder bewundert hatten?

- Weil er wusste, wer du bist.

Mir wird erneut schwindelig. Ich schüttele meinen Kopf.

Das ist alles völlig absurd.

"Zufälle", antworte ich schulterzuckend auf Younes' Anmerkung.

Younes setzt sich seufzend auf seinem Stuhl zurück. Er fährt sich durch die goldblonden Haare und scheint zunächst hin- und hergerissen. Dann trifft er eine Entscheidung.

Sein Blick bohrt sich unangenehm intensiv in meinen.

"Cassian datet Männer", beginnt er.

"Was hat das mit eurem Streit zu tun?"

Younes sieht mich an, als wäre ich schwer von Begriff und würde das Offensichtliche übersehen.

"Er hat mir gesagt, dass er sich für dich interessiert."

Mir entkommt ein merkwürdiger Laut aus meinem Mund, der fast wie ein Schluckauf klingt. Hitzeschauer ziehen sich durch meinen Körper, mein Gesicht wird heiß.

Cassian hat mich heute angestarrt. Minutenlang. Ich verdränge die Erinnerung und versuche mich wieder auf Younes zu konzentrieren.

"Und wieso hat das ein Streit ausgelöst?"

Younes scheint von meiner Frage irritiert. Sein Blick fliegt über mein Gesicht, sucht und sucht. Dann bricht er plötzlich in ein leises Lachen aus.

"Hör auf, mich auszulachen!"

Younes Lachen wird zu einem entschuldigenden Lächeln. In dem einen Moment spüre ich noch die Wut in mir rumoren, dann verpufft sie sofort, um für etwas anderes Platz zu machen. Tiefe Scham. Ich stehe von meinem Platz auf.

"Kieran, bitte bleib hier."

Der Ton in seiner warmen Stimme ist plötzlich wieder viel zu ernst.

Ich bleibe stehen, drehe mich um.

"Auch wenn es für die Öffentlichkeit anders erzählt wird, ist Cassian nicht an eine langfristige Beziehung interessiert."

"Was geht mich das an?", frage ich in einem bissigen Tonfall, der mir schnell peinlich ist.

Und dann verstehe ich es.

"Oh", sage ich nur, nicht gerade geistreich, während mir erneut furchtbar warm wird.

Cassian flirtet, um mich in sein Bett zu holen.

"Deshalb meinte ich, du solltest ihm lieber fernbleiben."

"Das erklärt trotzdem nicht, warum ihr euch zerstritten habt", sage ich, um von mir abzulenken. Younes schmunzelt erneut auf diese Weise, die mich glauben lässt, er mache sich über mich lustig.

Irgendetwas entgeht mir hier.

"Ich habe Cassian darauf hingewiesen, dass es unangebracht ist, mit seinem Mitarbeiter zu flirten. Und daraufhin haben wir uns zerstritten."

"Ich kann auf mich selbst aufpassen", presse ich, nun wieder wütend, hervor. Das passiert, wenn man den Menschen zu viel von sich offenbart. Sie kommen einem ungefragt zu nahe.

Younes sieht mich an, als hadere er mit seinen nächsten Worten.

"Cassian kann sehr ... einnehmend sein. Du kennst ihn noch nicht auf diese Weise."

"Du glaubst also, ich falle auf den erst besten Flirtversuch rein?"
Und was lässt dich so sicher sein, dass ich ebenso auf Männer stehe?

"Das ist nicht das, was ich damit sagen wollte."

Dann sag doch, was du sagen wolltest!

Mir wird klar, dass Younes etwas Grundlegendes verschweigt. Er weiß etwas, das er sich nicht zu erzählen traut und damit bestätigt sich erneut mein erster Eindruck von Cassian.

Bevor ich gedanklich wieder zu Jules und seinen Verletzungen abdrifte, stürze ich mich auf das, was sich in Younes Gesicht abzuspielen scheint. Ich sehe Bedauern in seinem Blick.

"Es tut mir leid, wenn ich dir erneut zu nahe getreten bin. Aber es war mir wichtig, dich über Cassians Interesse aufzuklären."

"Danke", sage ich, inzwischen wieder etwas besänftigt. Younes ist nicht das Monster in dieser Geschichte. Dennoch kann ich nicht verhindern, dass in mir eine gewisse Wachsamkeit gegenüber meinem Mitbewohner aufkeimt.

Dieses Lächeln, das ich auf dem Bild der Ausstellung zum ersten Mal gesehen habe, zeigte Younes ohne diese Maske, die er sich andauernd aufzusetzen versucht.

Hätte ich dieses Lächeln nicht kennengelernt, würde ich meinem Mitbewohner das immerzu fröhliche Strahlen im Gesicht vielleicht abkaufen und all diese Zwischentöne überhaupt nicht wahrnehmen.

Du bist nicht ehrlich zu dir selbst. Wie soll ich dann glauben, dass du mir gegenüber ehrlich bist?

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