Kapitel 26 - Kieran
--Kieran--
Am Abend meines ersten Arbeitstages pocht es schmerzhaft hinter meiner Stirn und meine Augen brennen. Volle acht Stunden habe ich mich durch das Videomaterial des letzten Shootings gekämpft, um es für den Rohschnitt zu sortieren.
Ich kann noch immer Cassians honigweiche Stimme aus den Clips in meinem Kopf widerhallen hören. Sie verklebt meine Gedanken und ich fühle mich eigenartig losgelöst von mir selbst, irgendwie in Watte gepackt.
Während ich im Flur meines neuen Zuhauses den Mantel ausziehe und die Schuhe abstreife, fällt mir dennoch sofort auf, dass etwas anders ist.
Eine eigenartige Spannung liegt in der Luft. Die Tür zur Küche ist geschlossen, weshalb der Flur dunkler ist als sonst. Aus dem Raum dringen die klirrend-scharfen Geräusche von hektisch verräumten Geschirr.
Ich starre die Tür an, die in den letzten drei Wochen meiner Zeit hier, nicht ein einziges Mal geschlossen war und fühle mich plötzlich fehl am Platz und fremd wie ein Eindringling.
Dann verstummt die Geräuschkulisse und die Tür wird aufgerissen. Ich blinzele gegen das helle Licht, das nun in den dunklen Flur strömt. Younes hält abrupt im Türrahmen inne, weil er fast in mich hineingerannt wäre.
"Du bist zurück", sagt er und klingt so verwundert über mein Erscheinen, dass ich mich noch weniger willkommen fühle.
"Kann ich dir beim Aufräumen helfen?", frage ich.
"Warum stehst du im dunklen Flur?", fragt er fast gleichzeitig und betätigt den Lichtschalter für den Flur, den er ohne hinzuschauen findet.
Younes sieht verändert aus. Bisher war auf seinem Gesicht immerzu dieses Lächeln zu sehen, das bis zu seinen strahlenden blaugrünen Augen reichte. Jetzt suche ich vergeblich danach und es nicht zu finden, macht mich eigenartigerweise nervös.
Mein Mitbewohner mustert mich genauso, wie ich ihn mustere – abschätzend und verunsichert.
"Hast du Hunger? Es ist noch etwas Lasagne übrig."
Ich nicke, obwohl ich keinen Hunger verspüre und setze mich an unseren Küchentisch. Ich lasse meinen Blick weiterhin über Younes gehen, der nun die Lasagne aus dem Kühlschrank holt, um mir ein Stück auf einen Teller zu legen.
Er wirkt genauso erschöpft, wie ich mich fühle.
"Wie war dein erster Tag?", fragt Younes und stellt den Teller in die Mikrowelle. Diese Portion werde ich niemals aufessen. Ich bin bereits ein paar Mal in den Genuss von Younes' Kochkünsten gekommen und bisher hat mir jedes seiner Gerichte geschmeckt. Allerdings erinnert mich das in der Mikrowelle aufgewärmte Essen an die weniger appetitlichen Gerichte meines Vaters.
"Gut", sage ich. Younes lehnt sich an die Küchenzeile. Er sieht mich so an, als erwarte er von mir einen ausführlicheren Bericht. Ich verstumme stattdessen.
Ich habe während meiner Arbeit kaum etwas von meiner Umgebung wahrgenommen. Mit den Kopfhörern auf den Ohren verhinderte ich die Versuche von Cassian und seiner Kamerafrau Laureen mich in ein Gespräch zu verwickeln.
Dafür erhielt ich mit den Videos einen tieferen Einblick in Cassians Arbeitsweise. Der Fotograf wird den schmeichelnden Kommentaren zwar gerecht, allerdings ist mir ein Charakterzug aufgefallen, der in den veröffentlichten Videos bisher nicht zur Geltung kam.
Cassian strebt nach absoluter Perfektion. Er gibt sich nur mit dem besten Resultat zufrieden.
Dieses Streben wirkte auf mich wie etwas Zwanghaftes. Weil ich bei dem Selbstbewusstsein und der Überheblichkeit, die der Fotograf mir gegenüber an den Tag legte, etwas anderes erwartet hätte. Außerdem hatte Jules seine Clips über die bisherigen Shootings auf eine stimmige Weise arrangiert, sodass ein großer Teil von Cassians Unterbrechungen für Korrekturen an Frisur, Licht und Kleiderfalten gar nicht thematisiert wurden.
Doch an den Gesichtern des Teams – bestehend aus der Maskenbildnerin des Models, Cassians zwei Licht-Assistenten und dem Model selbst – war zum Ende hin abzulesen, dass sich das Shooting in eine nicht vereinbarte Länge hinzog. Sie wechselten ungeduldige Blicke miteinander, sagten jedoch nichts.
Am Ende des Shootings gab es schließlich einen seltsamen Bruch, verursacht vom Fotografen selbst. Nachdem er das letzte Foto geschossen hatte, verschwand die konzentrierte Miene und er fing an, sein Model und das Team mit Komplimenten zu überhäufen – wieder ganz der Charmeur, den man erwartet.
Das Klingeln der Mikrowelle durchbricht das Schweigen zwischen uns und zieht mich zurück in die Gegenwart. Younes stellt mir die dampfende Lasagne ab und der Geruch nach gut gewürzter Tomatensoße sorgt nun doch für ein hungriges Ziehen in meinem Magen.
Ich widme mich meinem Essen und Younes zieht sich einen Kaffee aus seiner Siebträgermaschine, bevor er sich mir gegenüber auf seinen gewohnten Platz setzt. Mit jedem Schluck, den er von seinem Getränk nimmt, entspannen sich seine Züge nach und nach.
"Es scheint, es wäre heute im Café besonders viel los gewesen", sage ich. Younes lächelt sofort und wischt damit den letzten Rest der Erschöpfung aus seinem Gesicht. Sein Lächeln wirkt zum ersten Mal deplatziert.
"Es war nicht anstrengender als sonst", erzählt er schulterzuckend. "Schmeckt das Essen?"
Ich nicke. Die Lasagne ist nicht so trocken, wie ich sie, nach dem Gang in die Mikrowelle, erwartet hätte.
"Wie war es, mit Cassian zu arbeiten?"
"Ich habe heute nur Material gesichtet."
Younes nickt, doch sein Blick lässt den meinen nicht los, als warte er auf die Antwort, die ich ihm eigentlich schulde.
Es war anstrengend, weil ich spürte, dass Cassian mich immer wieder musterte– zu lange und aufdringlich – auf furchtbar unhöfliche Weise.
"Du solltest vorsichtig sein", höre ich Younes leise sagen und glaube fast, mich verhört zu haben. Ich lege meine volle Gabel wieder ab.
"Wie bitte?"
Younes' Lächeln ist nur noch eine Andeutung und seine sonst strahlenden Augen ermatten.
"Es ist besser, du hältst dich von Cassian fern. Er ist kein guter Mensch."
Seine Worte treffen mich wie ein fester Fausthieb in den Magen. Ich muss sofort an Jules denken; an seine überstürzte Flucht und an diese blauen Flecken.
"Was meinst du damit?", hake ich nach. Ich höre mein Herz in meinen Ohren aufgeregt klopfen, bevor mich ein kurzer Schwindel erfasst.
Doch Younes webt um uns ein tiefes, unangenehmes Schweigen.
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