Kapitel 2 - Kieran
--Kieran--
Es ziehen drei ganze Wochen an mir vorbei, bis ich mich wieder halbwegs lebendig fühle. Zehn erste Tage lang kämpfe ich damit, meine immer wieder aufkommenden Tränen zu unterdrücken.
Zunächst hoffe ich noch, dass er einfach wieder zurückkommt, sich erklärt und entschuldigt.
Ich rufe Jules so oft an, bis ich nur noch auf seine Mailbox lande, auf die ich keine Nachricht hinterlassen kann.
Ich schreibe ihm lange Nachrichten, bis sein Profilbild verschwindet und der Hinweis in unserem Chat auftaucht, dass ich möglicherweise blockiert worden bin.
Nach meiner zweiten Krankmeldung reiche ich die Kündigung ein. Bei dem Gedanken daran, in jenen Schnitt-Räumen zu sitzen, in denen Jules und ich die meisten unserer anfänglichen Gespräche führten und uns immer näher kamen, wurde mir übel.
Mein ehemaliger Ausbilder ruft mich nach meiner Kündigungsmail ein paar Mal an, aber ich ignoriere ihn und irgendwann landet die Bestätigungsmail der Kündigung in meinem Postfach.
Dann beginne ich zu recherchieren.
Cassian Dahl war mir bisher nur ein oberflächlicher Begriff, da ich mich nicht wie Jules für die Fashionwelt interessierte.
Ich war glücklich mit den Aufträgen, die unsere Ausbildungsfirma nebenbei annahm: das Produzieren von Imagevideos für Kleinunternehmen. Beim Schnitt der oft sehr einfallslosen Hochglanzaufnahmen und langweiligen Interviews musste ich mich nie überarbeiten und konnte früher als alle anderen Kollegen und Kolleginnen Feierabend machen.
Wie ich schon von Jules Erzählungen weiß, ist Cassian in den letzten drei Jahren zu einem der erfolgreichsten Fotografen der Berliner Fashion-Szene aufgestiegen. Seine Fotos finden sich bereits auf zahlreichen Social-Media-Accounts und auf Cover bekannter Modemagazine.
Er selbst ist Sohn einer sehr gefragten deutschen Filmschauspielerin, was seinen rasanten Aufstieg in der Fashionwelt erklärt. Mit einflussreichen Kontakten kommt man bekanntlich in der Kreativ-Szene in rasanten Sprüngen bis ganz weit nach oben.
Cassian hat das geschafft, wovon in Berlin viele träumen. Auch Jules eiferte Cassians sagenhafte Karriere nach und ich kann mich noch gut an den Tag erinnern, an dem er mir verkündete, dass er für ein Vorstellungsgespräch in Cassians Firma eingeladen wurde.
Ich habe ihn selten so glücklich erlebt.
In meiner Brust sticht es und ich konzentriere mich wieder auf meine Recherche.
Ich lese alle Interviews, die mit Cassian jemals geführt worden sind. Ich scrolle durch sein Social-Media-Profil. Dann lande ich bei seinem kürzlich aufgebauten Youtube-Kanal und zögere.
In den Credits lese ich Jules Namen. Das letzte Video wurde eine Woche vor seinem Auszug hochgeladen. Es gibt insgesamt sechs zehnminütige Videos, was bedeutet, dass Jules in jeder Woche ein Video hochgeladen hat.
Die Kamera begleitet Cassian bei seiner Arbeit. Während ich die Interviews las, baute sich ein eher professionell-distanziertes Bild des jungen Künstlers auf. Seine Worte waren gewählt, aber ohne Persönlichkeit abgedruckt gewesen. In den Videos bemerke ich zwei wichtige Umstände:
Der erste Punkt: er sieht gut aus. Verdammt gut sogar.
Er könnte selbst vor die Kamera treten und sich fotografieren lassen. Seine braunen Locken umrahmen feine Züge, die irgendwie immer freundlich wirken. Sein Lächeln hat etwas sehr Einnehmendes. Seine Kleidung ist in dezenten Farbtönen gehalten, aber sehr elegant und hochwertig.
Er ist der Typ von Mann, auf den Jules stehen würde, wie ich aus unseren Gesprächen nach gemeinsamen Netflix-Abenden und Youtube-Sessions zu wissen glaube.
Der zweite Punkt: Er ist äußerst charmant und dabei niemals auf jene Weise abgehoben, die man von jemandem wie ihm erwarten würde.
Bei seiner Arbeit hilft er wo er kann. Man sieht ihn auf Leitern klettern, um Lampen anzubringen - obwohl, wie ich während meiner Ausbildung gelernt habe, es bei solchen Shootings ein eigenes Team für die Lichtsetzung gibt. Er drapiert die Kleidung seiner Models, frisiert Haare, schleppt Ausrüstung von A nach B. Und immer lächelt er.
Er gibt immer hundert Prozent und genau deshalb wird er von seinen Fans geliebt.
Ich lese die zahlreichen Kommentare, die sich unter den ersten sechs Videos seines Kanals angehäuft haben. Nach drei Stunden dröhnt mir der Kopf, meine Augen brennen und ich massiere meine steifen Muskeln im Nacken.
Meine erste Theorie, Cassian habe Jules etwas angetan, zerbricht schließlich in ihre Einzelteile.
Ich klappe meinen Laptop zu, lege mich auf den Rücken meines Bettes und starre an die weiße Decke der stillen, leeren Wohnung.
Ich weiß, dass etwas passiert ist. Es muss etwas passiert sein. Die dunklen Flecken, die ich auf seiner Haut entdeckt habe, sprechen dafür. Der Schmerz in seinen Augen spricht dafür.
Er wollte nicht gehen, aber er musste.
Er brauchte Abstand von dem, was passiert war und weil er nicht mit mir darüber sprechen wollte, entschied er sich für diesen drastischen Schritt.
Das ist, was ich mir einzureden versuche. Weil ich nicht wahrhaben kann, dass Jules nichts für mich empfunden haben will. Nicht nach all dem, was hinter uns liegt.
Ich muss herausfinden, was passiert ist. Und da ich Jules Anstellung als Cassians Cutter als einzigen Anhaltspunkt habe, kann ich mich nur darauf stützen.
Er braucht vielleicht einen neuen Cutter, denke ich und suche mit meinem Handy nach der Firma, die Cassian für seine Videoproduktion gegründet hat.
Ich finde natürlich keine Stellenanzeigen, dafür aber unter dem Reiter "News" einen Artikel, der vor einigen Stunden veröffentlicht wurde. Cassian eröffnet seine neue Ausstellung und lädt zu seiner Eröffnungsparty in der Galerie ein.
In drei Tagen.
Irgendwo in meinem Innern tobt ein Kampf. Dort baut sich bereits eine Kälte auf, die den brennenden Schmerz des Verlustes betäuben will.
Ich habe schon einmal jemanden auf diese Weise verloren. - Du bedeutest mir nichts - ist ein bekanntes Echo aus meiner Vergangenheit.
In mir gibt es einen Rüstungsplan gegen das Gemetzel, welches mich versucht davon zu überzeugen, das alles nicht überleben zu können.
Denn ich habe es schon einmal überlebt.
Und ich werde es wieder überleben.
Nur dieses Mal will ich nicht einfach nur drüber hinwegkommen und weiterleben.
Ich will kämpfen, um das, was sich von mir zu entfernen versucht.
Ich werde Jules nicht aufgeben.
Und dafür werde ich als erstes Cassian Dahl kennenlernen.
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