Kapitel 19 - Kieran

--Kieran--

Die Tage ziehen viel zu schnell an mir vorbei. Ich analysiere erneut die Videos über Cassian, die Jules geschnitten hat und mache mir Notizen zum inhaltlichen Aufbau. Am Mittwochmorgen baue ich mit Younes mein geliefertes Bücherregal auf, um auch den Rest der Bücher unterzubringen.

Mein Vater schreibt mir fast jeden Tag, aber ich antworte ihm auf keine einzige Nachricht. Die Wut darüber, dass er mit Younes über meine Alpträume und dem Schlafwandeln gesprochen hat, ist noch immer nicht abgeschwächt.

Das tägliche Frühstück ist die einzige Zeit in der ich meinen Mitbewohner begegne, da Younes für den Großteil des Tages und bis spät in die Nacht arbeitet.

Younes lässt mich glücklicherweise mit Smalltalk in Ruhe – das morgendliche Treffen beschränkt sich auf ein gegenseitiges "Guten Morgen", was das Zusammenleben für mich um Welten angenehmer gestaltet.

Der Cafébesitzer hat es sich zur Gewohnheit gemacht, in einem dicken Katalog für Inneneinrichtung zu blättern, während wir allmorgendlich zusammen am Tisch sitzen. Sobald Younes aus dem Katalog etwas zu gefallen scheint, knickt er die Ecke einer Seite um. Ich habe meinerseits begonnen, meinen aktuellen Roman mit an den Tisch zu bringen.

Das Buch dient mir allerdings nur als Tarnung. Ich blättere in regelmäßigen Abständen eine Seite um, ohne eine einzige Zeile gelesen zu haben. Der Blonde mir gegenüber zieht weitaus mehr mein Interesse an. Es kommt häufig vor, dass ich mich in meiner Betrachtung verliere und dabei immer wieder an das Foto der Ausstellung denken muss.

Der unangenehmen Frage, was genau mich an Younes so sehr fesselt, versuche ich gedanklich aus dem Weg zu gehen. Sie richtet nur Unruhe an.

Am ersten Samstag unseres Zusammenlebens finde ich Younes ohne den Katalog am Tisch sitzen und dieser kleine Bruch im Gewohnten sorgt für ein Ziehen in meinem Magen. Dann fällt es mir wieder ein: Wir sind heute für die Tour durch das Viertel und den Besuch von Younes' Café verabredet.

Ich überlege einen Moment, ob ich mich der Verabredung wieder entziehen kann, doch Younes' strahlende Miene untergräbt meine zahlreichen Ideen für eine Ausrede.

Nicht einmal das Wetter ist auf meiner Seite. Regen hätte uns vielleicht von dem Spaziergang abgehalten. Stattdessen steht die Frühlingssonne in einem wolkenlosen Himmel, während ich neben Younes hergehe.

Selbst auf diese Tour durch das kleine Stadtviertel hat sich der Cafébesitzer vorbereitet. Ich habe gehofft, wir würden eine halbe Stunde lang unsere Runde drehen und dann das Café betreten. Younes allerdings zieht den Ausflug, wie er unseren Spaziergang ständig nennt, in die Länge.

In meiner Kehle bleibt ein Lachen stecken, als Younes sogar damit beginnt, zu erläutern, welche berühmten Personen in welchem Haus einst lebten oder sogar noch heute in ihnen leben würden. Ich fühle mich bald wie auf einer Touristentour und in den ersten Minuten spüre ich noch Ungeduld in mir. Doch wie so häufig schafft es der warme Klang von Younes' Stimme, mich zu beruhigen. Derart eingenommen folge ich schließlich seinen Erzählungen. Allerdings nur auf der Klangebene. All die Jahreszahlen, Namen und Geschichten ziehen an meinem Verstand vorbei.

Irgendwann spüre ich eine sanfte Berührung am Arm.

"Wir sind da."

Ich wäre einfach am Café vorbeigegangen.

Vor dem Eingang und der großzügigen, bodentiefen Fensterfront sind Stühle und Tische aufgereiht. Ein paar wenige Gäste haben es sich bereits gemütlich gemacht. Ein älterer Mann mit schon weißen Haaren lächelt in unsere Richtung und Younes hebt zur Begrüßung die Hand.

"Er kommt jeden Tag her und bestellt zwei Espressi", erzählt Younes. Dann führt er mich ins Innere seines Cafés.

Ich verstehe sofort, warum Younes sein Café renovieren möchte. Zwar drückt der lichtdurchflutete Raum mit seinen dunklen Möbeln und der hölzernen Bar eine gewisse Gemütlichkeit aus, doch in Verbindung mit den ebenso dunklen Holzdielen wirkt alles etwas altmodisch und aus der Zeit gefallen. Die rustikale Atmosphäre erinnert mehr an eine Bar als an ein Café.

Auch an diesen Tischen haben sich bereits Gäste eingefunden und der Raum ist von den Unterhaltungen und dem Zischen der Kaffeemaschine erfüllt. An der Bar findet sich eine Vitrine mit einer Auswahl hausgemachter Kuchen. Ich denke an die Stapel Backbücher, die sich in Younes' Küche angesammelt haben. Ich bin mir sicher, dass Younes das Backen lange für sich studiert hat, bevor er seine Kuchen zum Verkauf anbot.

"Hallo Youni!"

Die junge Barista mit rotblonden Haaren und Sommersprossen begrüßt Younes, während sie aufgeschäumte Milch in zwei Cappuccino-Tassen füllt. Ich erkenne dasselbe Muster auf dem Schaum, das ich auch bei meinem morgendlichen Kaffee schon oft bewundern durfte.

Sie sind bestimmt mehr als nur Kollegen, wenn sie Younes einen Spitznamen gibt, überlege ich, während ich die Barista mustere.

"Und du bist dann also Kieran. Youni hat uns schon viel von seinem neuen Mitbewohner erzählt", wendet sie sich plötzlich an mich.

Ich spüre, wie mir die Hitze ins Gesicht schießt.

Wir haben in den letzten Tagen kaum ein Wort miteinander gewechselt, wie kann er dann so viel über mich erzählt haben?

Der Cafébesitzer neben mir lacht. Es ist ein wohlwollendes Lachen und passt zu dem warmen Blaugrün seiner Augen. Ich wende meinen Blick schnell wieder ab.

"Keine Sorge, ich habe nur Gutes berichtet. Du bist ein sehr angenehmer Mitbewohner."

Younes lädt mich dazu ein, mir einen Kaffee und ein Stück Kuchen auszusuchen und weil sich nach dem langen Spaziergang in mir tatsächlich eine Ahnung von Appetit eingestellt hat, nehme ich die Einladung an.

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