Kapitel 11 - Younes
--Younes--
"Du kannst so nicht weitermachen, Youni!"
Meine Schwester stellt den mitgebrachten Karton auf einen der Tische ab und sieht mich mit finsterer Miene an. Ich ignoriere sie und dimme das Licht im mittlerweile geschlossenen Café.
Diese Art von Gespräch haben wir bereits häufiger miteinander geführt und es endete noch nie friedlich. Wir sind allein. Marlaine war vor einer halben Stunde gegangen, somit muss sich Imra nicht zurückhalten. Ich binde meine Schürze ab und setze mich zu ihr an den Tisch.
"Was hast du heute mitgebracht?", frage ich sie und meine damit das Keramikgeschirr in dem Karton. Sie verengt für einen Moment warnend ihre Augen, bevor sie aufsteht, um in den Karton greifen zu können. Das Thema ist für sie noch nicht beendet.
Nacheinander bringt sie ihre neuesten Werke zu Tage. Sie stellt ein farblich aufeinander abgestimmtes Set an Kuchentellern, Espressotassen und Untertellern auf den Tisch. Wie immer sind die Farbverläufe in ruhigen Pastelltönen gehalten.
"Du hast in den letzten zehn Stunden deiner Schicht sicherlich keine einzige Pause gemacht und nichts Vernünftiges gegessen", fährt Imra fort.
Ich unterdrücke ein Seufzen. Seit unser Vater verstorben ist und unsere Mutter sich von uns zurückgezogen hat, kann sie es nicht sein lassen, mich und meine "ungesunde" Lebensweise zu kritisieren. Ich schweige und wende eine der Tassen in meinen Händen, um sie von jeder Seite zu bewundern.
"Zehn Stunden, Younes! Und gestern sah dein Tag genauso aus."
Sie reißt mir die Tasse aus den Händen. Ich hebe in kapitulierender Geste meine Arme.
"Kommt nicht wieder vor, Schwesterherz."
Imra hört natürlich den sarkastischen Unterton in meiner Stimme.
"Wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Weil du nämlich nicht anders kannst, als dich so selbstverachtend zu verausgaben."
Mein aufziehendes Lächeln verliert mit ihren Worten an Kraft.
"Ich arbeite zehn Stunden am Stück, weil ich es will, Imra. Hör auf dir Sorgen zu machen, es geht mir gut. Außerdem habe ich vorhin zwei Stück Kuchen gegessen."
Imra nimmt einen Teil ihrer mitgebrachten Sammlung und geht auf die Holzvitrine zu, in der wir ihr Geschirr bis zur Neueröffnung des Cafés ausstellen. Ich nehme den Rest der Keramik und folge ihr.
"Sie will uns das Geld nicht geben", sagt Imra und nimmt mir die Tassen ab, um sie auf das Glas der beleuchteten Vitrine zu sortieren. Ungläubig sehe ich auf meine Schwester hinab.
"Das Geld steht dem Café zu", sage ich, während sich eine vertraute Wut in mir aufbäumt.
Unser Vater hatte jahrelang Geld beiseite gelegt. Noch vor seinem Unfall verkündete er uns, dass es genutzt werden sollte, um das Café zu renovieren und anschließend an neue Besitzer zu verkaufen – sollte ihm jemals etwas passieren. Ironischerweise starb er zwei Monate später, als hätte er es geahnt, von jener Lawine im Skiurlaub begraben zu werden. Bisher verwaltete unsere Mutter dieses zurückgelegte Geld.
"Sie will, dass das Café bleibt, wie es ist", erzählt Imra weiter. Sie ist diejenige von uns, die mit unserer Mutter reden kann und sie deshalb häufiger besucht, als ich es tue. Wann immer meine Mutter mich zu Gesicht bekommt, zieht sie sich in ihrer Trauer zurück. Wir reden kaum miteinander, essen schweigend und sehen fern. Ich weiß auch nach drei Jahren nicht, wie ich mit ihr umgehen soll.
"Das ist nicht das, was unser Vater wollte", protestiere ich.
Imra lässt resigniert die Schultern sinken. Sie plötzlich so erschöpft zu sehen, tut weh. Meine Schwester ist ein buntes, lautes Energiebündel mit einem sehr ansteckenden Lächeln. Doch davon ist nicht viel zu sehen, sobald es um unsere Eltern geht.
"Ohne dem Geld können wir nicht renovieren", spricht Imra nun die Wahrheit aus. Weder sie noch ich konnten in den letzten Jahren finanzielle Rücklagen aufbauen. Wir haben bereits viel Geld in unsere jeweiligen Unternehmen investieren müssen.
In düsterer Stimmung setzen wir uns zurück an unseren Tisch. Gedanklich gehe ich bereits meine Möglichkeiten durch, ohne zu einer brauchbaren Lösung zu kommen. Ein Kredit: die Genehmigung zu unwahrscheinlich. Ein zweiter Job: neben der Arbeit im Café unmöglich.
"Ich könnte Cassian erneut als Model zur Verfügung stehen", sage ich im Scherz.
"Sehr gute Idee! Du hast nicht gerade wenig von ihm bekommen, oder?"
Ich schüttele lachend den Kopf. "Vergiss es, Imra! Einmal und nie wieder."
"Warum? Das Foto war gut und es gab sogar diesen Jungen, der davon geschwärmt hat!"
Imra lächelt nun wieder und die Stimmung lockert sich. Dann weiten sich ihre Augen, als ihr offensichtlich eine Idee kommt.
"Mein altes Zimmer in deiner Wohnung!"
"Was ist damit?", frage ich irritiert, weil ich gedanklich bei dem Jungen vor dem Foto hängengeblieben bin.
"Du könntest es untervermieten. Vor dem Sommersemester werden viele Studenten nach einer WG suchen. Und da du ja sowieso kaum zuhause bist ..."
"Keine gute Idee, Imra", unterbreche ich sie. Dennoch beginne ich zu rechnen. Ich würde nicht viel für das Zimmer verlangen, weil ich weiß, wie wenig die meisten Studenten und Studentinnen verdienen. Mit einer humanen Miete müsste ich also mindestens ein Jahr jemanden bei mir wohnen lassen, um das Geld für die Renovierung zusammenzubekommen. Der Handwerker sprach davon, dass die alten Leitungen sich vielleicht noch zwei Jahre gebrauchen ließen.
"Für wie wahrscheinlich hältst du es, dass sie bei ihrer Meinung bleibt?", frage ich Imra, obwohl ich die Antwort bereits kenne. Unsere Mutter war schon immer sturköpfig und von Anfang an gegen eine Renovierung.
"Wir sollten uns nicht weiter auf das Geld verlassen."
Ich nicke zustimmend. Dann hole ich mein Handy aus der Tasche. Ich veröffentliche die Info über mein freies Zimmer auf meinem Profil.
"Was tust du da?", fragt mich Imra.
"Die Nachricht über das freie Zimmer posten."
"Du weißt schon, wie schnell das heutzutage geht? In meinem alten Zimmer stehen Möbel, die wir vielleicht erstmal wegschaffen sollten!"
"Ja, das weiß ich. Und wer auch immer das Glück haben wird, mit mir unter einem Dach zu leben, wird das Zimmer so übernehmen, wie es ist", verkünde ich siegessicher.
Als Imra und ich uns zehn Minuten später die Mäntel überziehen, klingelt mein Handy. Es ist Cassian.
"Was verschafft mir die Ehre?", frage ich, sobald ich den Anruf annehme. Er ruft mich so gut wie nie an.
"Ich habe jemanden, der bei dir einziehen kann, Youni. Und du wirst mir nicht glauben, wer es ist."
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