Kapitel 1 - Kieran

--Kieran--

Sechs Wochen später.

Ich atme tief ein, halte den Atem ein paar Sekunden an, bevor ich ihn langsam wieder frei lasse. Mein Puls rast weiter und in meinen Ohren rauscht es. Mit zitternden Händen versuche ich verzweifelt Ordnung in meine Haare zu bekommen, doch wie immer sind sie zu widerspenstig.

Ich werde keinen Rückzieher machen! Heute werde ich es ihm sagen.

Mein Spiegelbild wirft mir einen höhnischen Blick zu. Ein Teil von mir glaubt nicht daran, dass ich mutig genug sein werde, um es endlich durchzuziehen. Die Zweifel schnüren mir den Hals zu und schnell wende ich mich von meinem verräterischen Selbst ab.

Es klingelt und der schrille Klang der alten Anlage lässt mich zusammenzucken. Seinen eigenen Schlüssel hat mein Mitbewohner vor ein paar Monaten verloren.

Ich schaffe das!

Ich öffne Jules die Tür zu unserem Haus und höre seine Schritte auf der Treppe, die heute irgendwie hektisch klingen.

Als ich sein Gesicht im faden Licht des Treppenhauses erblicke, weiß ich sofort, dass irgendetwas nicht stimmt.

Wir kennen uns seit drei Jahren, arbeiten täglich zusammen und leben seit Beginn unserer Ausbildung gemeinsam auf vierzig Quadratmetern.

Ich kenne fast jeden seiner Gesichtsausdrücke, aber dieser jetzige Ausdruck ist mir fremd und er macht mir sofort Angst.

Jules Augen sind weit geöffnet, sein Gesicht aschfahl. Er blinzelt kurz, dann stürmt er an mir vorbei in die Wohnung.

"Was ist passiert?", frage ich und folge ihm in unser Schlafzimmer. Unsere Betten stehen getrennt voneinander an den Wänden gegenüber. Ich hatte gehofft, dass sich dieser Umstand bald ändern wird.

Jules wirft den Rucksack auf sein Bett, dann öffnet er seinen Teil des Kleiderschranks. Seine Bewegungen sind fahrig und grob, während er einzelne T-Shirts und Pullover von den Bügeln reißt. Er wirft die Kleidung aufs Bett, teilweise landet sie davor auf dem Dielenboden.

"Jules?"

Meine Stimme zittert. Jules reagiert nicht. Von einem Schwindel erfasst, beobachte ich ihn dabei, wie er zusätzlich seine Reisetasche öffnet und die Kleidung achtlos hineinwirft, ohne sie zusammenzulegen. Seine Hosen stopft er obendrauf.

"Ich werde ausziehen, Kieran. Ich kann das alles nicht mehr."

"Was meinst du? Was kannst du nicht mehr?", frage ich und schäme mich für den schrillen Ton in meiner Stimme. Meine Brust schmerzt.

"Dieser Job. Die Stadt."

In den letzten Wochen wirkte Jules in der Tat abgekämpft und müde. Er hatte einen Auftrag bei dem berühmten Fotografen Cassian Dahl angenommen und war als sein Cutter ständig auf etlichen Shootings zugegen. Die Überstunden häuften sich, doch in unseren Gesprächen zeigte sich Jules kein einziges Mal überfordert. Er schien erschöpft, aber zufrieden.

"Es hat dir doch so einen Spaß gemacht", werfe ich ein.

Jules beginnt seinen Rucksack mit Unterwäsche und Socken zu füllen und knüllt seinen Schlafanzug zusammen. Energisch schließt er den Reißverschluss und das Geräusch lässt mich zusammenzucken.

In diesem Moment wird mir bewusst, dass ich eine solche Szene nicht zum ersten Mal erlebe und das Gewicht auf meiner Brust wird um Tonnen schwerer. Ich versuche meine Tränen wegzublinzeln und mache einige Schritte in den Raum hinein.

"Willst du ... mich verlassen?"

Meine Stimme ist nur ein Flüstern, doch Jules hört sie. Er erstarrt und sieht mich zum ersten Mal wieder an.

Auf seinem Gesicht ist noch immer dieser gehetzte Ausdruck. Seufzend fährt er sich mit seiner Hand über die kurz geschnittenen Haare. Dabei verrutscht der Ärmel seines Pullovers.

Mein Herz scheint einen Schlag auszusetzen, als mein Blick auf einen sehr großen dunklen Fleck fällt. Ich will ihn auf seine Verletzung ansprechen, doch seine nächsten Worte reißen mich fort.

"Es ist vorbei, Kieran."

Ich fange seinen Blick auf, der nun seltsam fest und entschlossen wirkt.

"Was ist vorbei?", frage ich, obwohl ein Teil von mir längst ahnt, wohin dieses Gespräch unweigerlich führen wird.

"Du und ich. Das funktioniert nicht."

Ich schüttele den Kopf. Es kann nicht stimmen. Heute Morgen war noch alles wie immer.

"Ich weiß, was du für mich empfindest, Kieran. Ich weiß es schon sehr lange."

Erneut krampft sich etwas in meiner Brust zusammen. Seine Worte graben sich tief in mich hinein, reißen alle Nähte auf, die einer längst vergangenen Wunde zum Abheilen verhelfen sollten.

Bitte verlasse mich nicht!

Jules seufzt und für einen sehr kurzen Moment huscht ein Schatten von Schmerz über sein Gesicht. Er wendet sich ab, um auch seine Reisetasche zu schließen.

Ich stehe inmitten unseres gemeinsamen Zimmers und kann mich nicht rühren. Erst als Jules seine Taschen hochhievt und in Richtung Tür blickt, stolpere ich ihm in den Weg.

"Bitte nicht. Du kannst nicht einfach so gehen!"

"Es funktioniert nicht! Das zwischen uns muss aufhören", höre ich Jules sagen, doch er bleibt stehen und sieht mich nun deutlich mit vor Schmerz verzogenem Gesicht an. Auch auf seinem Hals entdecke ich plötzlich einen dunklen Fleck.

"Irgendetwas ist auf der Arbeit passiert", spreche ich meine Gedanken aus. "Es geht nicht um uns."

Jules schüttelt den Kopf.

"Ich liebe dich nicht, Kieran. Ich werde es niemals tun. Wir waren Freunde, aber ich habe dich jahrelang in den Glauben gelassen, es könnte mehr werden. Das war falsch."

Wieder stürzen meine Gedanken von dem merkwürdigen Hämatom fort.

Verzweiflung bricht über mich hinein. Im Schnelldurchlauf zucken Bilder unserer gemeinsamen Jahre durch meine Gedanken.

Ich denke an Berührungen und Blicke zurück, die für eine bloße Freundschaft zu intim waren.

Ich denke daran zurück, wie oft ich mich auf unserem Sofa an ihn gelehnt hatte, wie dabei sein Arm um meine Schulter lag, um mich näher zu sich heranzuziehen.

Ich denke an all die vertrauensvollen Gespräche, an unser gegenseitiges Outing ganz zu Beginn unserer Begegnung in der Ausbildung.

Ich liebe dich nicht.
- Aber ich liebe dich.

Mein Blick verschwimmt und von jeglicher Kraft beraubt, lasse ich es zu, dass Jules mich zur Seite schiebt.

Er dreht sich nicht um.

Er sagt kein Wort mehr.

Dann schließt er die Tür und ich breche auf dem Boden unserer Wohnung zusammen.

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