{Wenn das Licht dich nicht blendet}
Zoes Zwillingsbruder war seit einundfünfzig Stunden tot.
Es ist seine Schuld gewesen.
Zoe sah zu der grauen, kaputten Uhr über der Tür in ihrem Klassenzimmer, die genau dreiundvierzig Minuten falsch ging. Der lange Zeiger tickte wie ein Metronom, der Kurze rückte nur ruckartig zur nächsten Zahl und erreichte die vier.
Er hat das Auto gefahren.
Das heißt, dass sie in dreiundvierzig Minuten erst aus diesem stickigen Klassenzimmer rennen und dem Geruch von Connor Phillips, der immer Sport vor Geschichte hatte und auch genauso roch, entkommen könnte.
Er hat am verdammten Steuer gesessen.
Zoe konzentrierte sich auf ihre Atmung, konzentrierte sich auf das Schlucken.
„Lenk dich ab. Das hilft, deine Trauer zu bewältigen!", hatte die Psychiaterin gesagt.
Also versuchte Zoe, sich abzulenken.
Er war derjenige, der den Alkohol getrunken hatte.
Der Zeiger wurde lauter. Connor fuhr sich durch die verschwitzten Haare und gab ein Geräusch von sich, das fast wie eine Art Grunzen klang. Zoe fühlte sich plötzlich sehr beengt. Um sie herum saßen Jugendliche, die mehr oder weniger so taten, als würden sie dem monotonen Monolog ihres Geschichtslehrers da vorne zuhören.
Aber fuck, er ist auch derjenige, der zuerst gestorben ist.
Zoe spürte ihr Gewicht auf ihren Beinen, bemerkte, dass ihre Füße sich bewegten. Connor grunzte wieder, dieses mal mit überraschtem Unterton.
Der Geschichtslehrer bemerkte erst, dass jemand aufgestanden war, als Zoe fast die Tür erreicht hatte.
„Entschuldigung, Miss ähm, Elize! Elize, wo wollen – hey!"
Zoe ließ die Klinke los; etwas in ihrem Bauch krampfte sich zusammen, als sie das Klacken der ins Schloss fallenden Tür hörte.
Es löste sich erst, als sie die Schule verlassen hatte.
Zoe war kein besonders schneller Mensch; beim Aufräumen der Kunsträume war sie eine der letzten, die ihre Pinsel fertig ausgewaschen hatte und auch die Zeit, die sie brauchte, um hundert Meter zu sprinten, ging höchstens noch als durchschnittlich durch. Doch jetzt schien sie innerhalb von Sekunden aus der Innenstadt in den Wald am Rand gelaufen zu sein, dabei war sie nicht einmal gejoggt.
Das Mädchen sah sich wie eine Person um, die genau wusste, was sie suchte; ein Anschein, der der Wirklichkeit entschien, denn Zoe wusste wirklich genau, wonach sie suchte; sie wusste nur nicht, wie das gesuchte Wunder aussehen würde.
Das Schöne war, dass sie es nur wenige Sekunden später herausfinden sollte.
Es begann mit einem Rascheln. Ein armselig wirkender Busch bewegte sich, wobei seine blätterbespickten Zweige aneinander streiften. Oben wiegten sich die dürren Baumkronen in der Luft. Ein ganz normales Bild, würde man denken.
Zumindest, wenn etwas Wind geweht hätte.
Doch jetzt bewegte sich einfach nur alles um Zoe herum, und die sonst so normale Waldsituation bekam etwas absurdes, geradezu furchterregendes.
„Hallo?", fragte Zoe und bemerkte überrascht, dass ihre Stimme zitterte - sie hielt sich selbst eigentlich nicht für eine besonders ängstliche Person. Und nein, natürlich erwartete sie nicht, dass ihr jemand antwortete. Aber was würdet ihr tun, wenn ihr allein in einem Wald stehen würdet, in dem sich Dinge bewegten, die normalerweise still stehen sollten.
„Hallo.", antwortete jemand und Zoe fuhr herum: „Was?"
„Ich habe Hallo gesagt."
„Nochmal: Was?!"
„Was ist so seltsam an einem einfachen Hallo? Du hast doch auch Hallo gesagt!"
„Ja, aber als ich es gesagt habe, war es noch normal."
„Schwachsinn. Was ist denn schon normal? Bin ich normal, wenn ich überall im Mittelfeld mitlaufe oder bin ich dann einfach nur langweilig?"
Zoe, die keinerlei Interesse an jeglichen philosophischen Fragen hatte, runzelte die Stirn: „Ist doch egal. Wo bist du?"
„Da, wo du nicht bist."
„Hör auf mit dem Scheiß! Bitte. Wo bist du?", wiederholte Zoe. Sie hörte sich an wie ein störrisches Kind.
„Da, wo du eben nicht bist. Und hör auf zu fluchen."
Zoe lachte laut auf: „Wie bitte?"
„Hör auf zu fluchen."
„Fick dich.", murmelte Zoe.
„Bist du nur Schatten, oder bist du auch Licht?"
„Was?!"
„Ich sagte -"
„Ich weiß, was du verdammt noch mal gesagt hast, ich finde es nur -"
„Unverständlich? Das sehe ich ein. Ich bin übrigens hinter dir, du musst dich nur umdrehen."
Zoe lief es kalt den Rücken herunter, fast erwartete sie, einen Serienmörder mit blutiger Kettensäge und roten Zähnen hinter sich zu sehen, aber als sie sich vorsichtig umdrehte, war da nur ein Lichtkreis.
Einfach nur ein schwebender, gleißend heller Lichtkreis. Man streiche das Wort „nur", denn das wäre pure Verleumdung von großartigen Tatsachen.
„Ach du -", fing Zoe flüsternd und mit großen, runden Augen an, doch der sprechende Lichtkreis unterbrach sie: „Beende den Satz nicht. Bitte. Jedes deiner düsteren Worte ver -"
„Scheiße.", sagte Zoe ungerührt.
„-schlimmert die Energie deines Schattens. Ich sehe nur noch wenig Licht in dir, junger Mensch."
Das Schlucken fiel Zoe wieder schwerer, und sie hatte das starke Gefühl, sich unbedingt vor diesem Lichtkreis verteidigen zu müssen, der sie wohl als Lichtlos bezeichnete, was ihr wie eine üble Beleidigung erschien, obwohl sie gar nicht wusste, wovon der Kreis überhaupt sprach: „Das ist nicht meine Schuld."
„Was ist nicht deine Schuld?"
„Dass ich so wenig Licht habe. Dass ich nicht mehr der „beste" Mensch bin."
„Der „beste" Mensch? Glaubst du, es gibt auch nur einen einzigen Menschen auf dieser Welt, der den Titel „bester Mensch" verdient hat?"
„Okay, dann ... dann war ich halt zumindest ein guter Mensch. Mir ist nur was schlechtes passiert, und dafür kann ich nichts. Gute Menschen können nichts dafür, wenn ihnen schlechte Dinge passieren!"
„Wenn ein guter Mensch es nicht aushalten kann, wenn ihm etwas schlechtes passiert, ohne zu einem schlechten Menschen zu werden, dann ist er kein guter Mensch.", stellte der Lichtkreis nüchtern fest. „Willst du mir nicht jetzt vielleicht lieber eine Frage stellen?"
Zoe stutze. Hatte der Kreis sie gerade zuerst beleidigt und dann zu Neugier aufgefordert?
„Ähm.", machte sie langsam. „Eine Frage?"
„Komm schon. Wie oft hast du schon mal einen schwebenden Lichtkreis gesehen?"
„Und gehört.", murmelte Zoe.
„Oh nein.", sagte der Lichtkreis. „Ich sage nichts."
„Doch, klar sagst du was. Ich kann dich doch hören."
„Etwas mehr Fantasie bitte, Zoe. Ich habe keine Stimme. Ich kann gar keine Stimme haben. Ich spreche durch dich, in dir."
„Okay, das klingt jetzt eklig.", sagte Zoe und meinte, den Lichtkreis in ihrem Kopf seufzen zu hören: „Zoe, ich bin das pure Licht. Ich bestehe nur aus Hoffnung, aus Glück, aus -"
„Wenn du angeblich so hell bist, wieso blendest du mich dann nicht?"
„Dein Schatten blockt mich ab."
„Ha! Dann ist der ja doch zu was gut! Sonst würden meine Augen nämlich unangenehm anfangen zu tränen."
„Lass uns diese Unterhaltung doch stoppen, denn wir bewegen uns im Kreis -"
„Mit Kreisen kennst du dich doch richtig gut aus, oder, kreisförmiges Licht?! Hey, du bist wie so ein Ringlicht! Kann man dich auch für so TikTok-Videos als Lichtquelle -"
„Willst du deinen Bruder wiedersehen?"
Zoes Gesichtszüge erschlafften nicht nur, sie stoben auseinander. Ihr Mund klappte nach unten, die Augenbrauen schossen hoch auf die Stirn. Das hatte sie sich gerade nur eingebildet, nicht wahr? Es war nicht möglich, ihren toten Bruder zu sehen.
Ihren Zwillingsbruder, von dem sie sich nicht richtig verabschiedet hatte – zumindest nicht in dem Umfang, wie sie es im Nachhinein gerne gewollt hatte.
Die Wunde in ihrem Hals, die laut ihren Eltern und der Psychiaterin eigentlich in ihrem Geist steckte, aber es fühlte sich für sie eben so an, als wäre sie in ihrem Hals, heilte nicht und Zoe war sich sicher, dass dieses eiternde Loch auch nur heilen würde, wenn sie endlich die Chance hatte, abzuschließen.
„Sie nicht zu hart mit dir, Zoe. Du musst nicht sofort weiter. Du musst nur in Erwägung ziehen, an ein weiter zu denken.", hatte die Psychiaterin ihr gesagt und dabei mit ihrem Lächeln vermutlich ein paar Gletscher geschmolzen. Doch Zoe hielt den Kram, den andere ihr sagten, für Schwachsinn.
Niemand war in ihrer Situation, niemand konnte sie verstehen. Sie hatte das gute Recht, nur noch ein Schatten zu sein, denn niemand konnte ihr schließlich Licht bringen – zumindest ihrer Meinung nach.
„Ich denke, das ist ein ja.", hörte sie den Lichtkreis, und dann bewegte er sich auf sie zu und für einen kurzen Moment glühte Zoes Haut wie goldenes Feuer, bevor sie im Nichts stand.
„Wo bin ich?", fragte sie und sah reflexartig auf den Boden – doch im Nichts gab es nichts, also gab es auch keinen Boden. „Ach du -"
„Zoe, bitte."
„Scheiße. Also, wo bin ich?"
„Du bist im Nichts."
„Lustig."
„Nein, nicht lustig. Du hast geschätzte fünf Minuten, bis du wieder hier raus solltest, bevor du selbst auch noch zu nichts wirst."
„Ziehst du mich dann wieder raus, ohen dass ich was machen muss?"
„Nein, Zoe. Du musst das Nichts eigenständig wieder verlassen. Lauf einfach rückwärts und dreh dich dabei nicht um, damit deine Realität nicht Teil des Nichts wird."
„Das habe ich jetzt nicht verstanden."
„Nicht schlimm. Es ist nichts, was man verstehen muss."
Zoe sah sich reflexartig etwas um, aber das war ziemlich langweilig, denn da war ja schließlich nichts im Nichts, was sie sehen konnte. Unter ihr: Nichts.
Über ihr: Nichts.
Rechts neben ihr: Nichts -
„Zoe."
Links neben ihr: Ihr toter Zwillingsbruder. Nur, dass der jetzt erschreckend lebendig aussah.
„Kevin.", keuchte sie überrascht auf und lief auf ihn zu, die Arme ausgebreitet. Doch sie lief durch ihn hindurch, lief geradewegs ins Nichts.
„Vorsicht!", sagte Kevin lächelnd. Zoe konnte nicht anders, als zurück zulächeln: „Du lebst!"
„Oh nein. Ich bin im Nichts, Zoe. Hier gibt es kein Leben."
„Doch. Ich bin schließlich da."
„Du bestehst hier aus nichts, Zoe. Im Nichts besteht alles aus nichts. Wenn du nicht schnell genug zurückkehrst, bleibst du auch für immer Nichts. Sagt zumindest diese eingebildete Stimme, die hier irgendwo rumhängt."
Zoe wedelte mit der Hand, wischte so seine für sie doch wohl unbedeutenden Worte aus ihrem Kopf: „Kevin, ich hab dich vermisst."
„Das verstehe ich.", sagte er, auf seine unverkennbare Kevin-Art und fuhr sich durch die furchtbare Frisur, die seine Freunde alle von ihm kopiert hatten.
Zoe lachte, aber das tat sie eigentlich nur, um nicht in Tränen ausbrechen zu müssen.
„Wie läuft das Leben dort draußen ohne mich?", fragte Kevin und verschränkte seine Arme. Zoe schniefte: „Ähm ... nicht besonders gut. Sie haben dein Auto auf den Schrotthof gebracht. Es war total hinüber nach dem Unfall."
Kevin senkte den Kopf: „Verdammt. Ich hab das Ding geliebt."
„Ich weiß."
„Wieso habt ihr es nicht gerettet?"
„Ich ... ich weiß es nicht.", sagte Zoe kleinlaut und fühlte sich plötzlich schuldig, obwohl sie dafür gerade eigentlich keinen wirklichen Grund hatte. „Mum und Dad haben alles so schnell entschieden. Sie wollten ... sie mussten so vieles tun. Sie mussten deine Beerdigung planen und sie mussten ... sie mussten deinen Sarg auswählen. Und die Blumen. Sie waren blau, obwohl Mum und Dad violette haben wollten, aber die violetten waren vertrocknet, also mussten sie noch schnell die bestellen, die irgendwie übrig geblieben waren."
Kevin verzog das Gesicht: „Typisch Mum und Dad. Kriegen nie was auf die Reihe."
Zoe zuckte mit den Schultern, sie war zu schwach, um ihre Eltern jetzt zu verteidigen. Das Nichts saugte die Kraft aus ihr heraus.
„Was ist mit Peter, der neben mir saß? Wie gehts ihm? Ich wette, der alte Loser hat nichts abbekommen -"
„Er ist tot.", unterbrach Zoe ihn. „Genau wie du. Er ist angeschnallt gewesen und er hat geweint. Er hat so sehr geweint, weil du tot warst und er hat versucht uns Dinge zu erzählen, aber da war zu viel Blut, da waren zu viele Glassplitter, und dann war er tot. Mum und Dad wollten zu seiner Beerdigung gehen, aber die Eltern von Peter haben sie ausgeladen. Sie meinten, sie könnten ihre Trauer gerade nicht ertragen, obwohl die auch berechtigt wäre, weil sie es nicht ertragen könnten, dass der Mörder ihres Sohnes auch betrauert wird -"
„Was ein Schwachsinn.", sagte Kevin. „Alles Loser. Die ganze Familie. Es war nicht meine Schuld, verdammt noch mal."
Doch. Oh doch, Kevin. Du bist der einzige, der an irgendetwas schuld ist. Und genau das begriff die störrische Zoe in dem Moment endlich. Ja, es war in Ordnung traurig zu sein - aber ihr Bruder war nicht als der Heilige gestorben, als der er in den letzten zwei Tagen in ihrem Kopf gelebt hatte.
„Ich habe das Gefühl, dass ich auch nicht um dich trauern darf. Weil ... weil du doch das Auto gefahren hast."
„Verdammt, Zoe. Ich dachte, du wärst auf meiner Seite! Ich dachte, du würdest wenigstens checken, dass ich einfach nur Pech hatte! Ich hab an dem Abend halt kurz die Kontrolle verloren, und -"
„Du kannst gehen.", sagte die Stimme des Lichtkreises plötzlich laut in ihrem Kopf. „Geh einfach rückwärts."
„Kevin?", sagte Zoe leise, doch ihr Zwillingsbruder bemerkte sie nicht: „Mir passieren immer die schlechten Dinge, weißt du?! Ich bin immer der Schuldige, dabei hatte ich doch auch einfach nur -"
„Kevin, ich muss jetzt weg, ich -"
„Ich hatte verdammt noch mal doch einfach nur Pech. Ich bin ein guter Mensch, ich habe es verdient zu -"
„Leb wohl. Oder, na ja, wohl eher sei weiterhin als Toter so gut wie es dir möglich ist tot.", murmelte Zoe und wollte sich schon umdrehen, als sie sich an den ganzen Rückwärtskram erinnerte. Obwohl sie die Logik des Ganzen immer noch überhaupt nicht verstand, drehte sie sich nicht um, als sie einen Fuß hinter den anderen setzte und dabei sogar noch die Augen schloss.
„Er ist dein Schatten, Zoe. Eure Probleme sind eure Schatten. Macht euch bitte nicht zu euren Problemen.", verkündete der Lichtkreis. „Du kannst trauern, natürlich kannst du trauern! Aber behalte im Kopf, dass du nicht dein Bruder bist. Dass die Fehler deines Bruders nicht deine sind und dass ist für keinen fair ist, wenn du die Opferrolle übernimmst."
Zoe schloss die Augen, blendete die Stimme aus, spürte wieder, wie ihre Haut anfing zu glühen.
Dann zog sie ihre Augenlider wieder auseinander und spürte, wie sich Tränen in ihren Augen bildeten, als das helle Licht vor ihr sie blendete.
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Kurzgeschichte für den Award von Thedarkheart123
Wortanzahl: circa 2230
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