9 • Ciana
In dieser Nacht bekomme ich kein Auge zu. Ständig lausche ich Fenix' gleichmäßigem Schnarchen im Zimmer nebenan, obwohl es sicherlich nicht das Geräusch ist, was mir keinen Schlaf gestattet. Vielmehr plagen mich meine Gedanken und dieses flaue Gefühl im Magen, wenn ich an morgen denke. Sowie an übermorgen. Und an die Tage darauf.
Nach mehreren Stunden habe ich genug von der Grübelei. Ich schleife mich aus dem Bett und zerreiße ein altes Shirt meines Vaters in mehrere Streifen, um meine Hand darin einzuwickeln.
Zeigefinger und Handgelenk solltest du die nächsten Wochen stilllegen - wenn ich nur wüsste, wie. Gebrochene Hände oder Füße werden hier in der Sub Town meist nicht einmal beachtet, es sei denn die Arbeit wird dadurch beeinträchtigt. Bei Adlern sah ich hin und wieder schon einen dickeren Verband und hoffe, dass meine Bemühungen annähernd an das hinkommen, was Xavian mir riet.
Mit nur einer Hand mühe ich mich lange an dem Knoten ab, doch irgendwann verrutscht das Stück Stoff nicht einmal mehr bei der kleinsten Bewegung. Für den kommenden Tag muss es genügen. Ich schaue kurz nach Fenix, doch er ist im Tiefschlaf versunken, also kuschele ich mich wieder zurück in die Decke und kämpfe mit meinen Gedanken.
Ich denke an Janus, der vermutlich gerade an einem neuen Einbruch feilt, wenn er nicht selbst in diesem Moment sein eigenes Leben aufs Spiel setzt. Ich denke an Fenix, der nicht ahnt, welch harte Zeiten uns bevorstehen, aber wie sollte ich es ihm auch beichten, wenn er schon genug Sorgen verkraften muss? Und auch Xavian schleicht sich in meine Gedanken. Nun, da er meinen Namen kennt, ist er eine Gefahr, die Fenix' Untergang bedeuten kann. Doch warum sollte er mich jetzt melden, wenn er mich zunächst gehen ließ? Warum war er überhaupt so gnädig?
Ich war noch nie gut darin, tatenlos zuzusehen, wenn jemand Hilfe braucht. Ja, ich brauche Hilfe, so sehr ich es auch zu verleugnen versuche. Dennoch lege ich sicherlich nicht meine Hand für seine guten Intentionen ins Feuer. Denn daran werde ich mich früher oder später tödlich verbrennen.
Also werde ich Abstand wahren - nichts leichter als das. Er würde niemals selbst Fuß in die Sub Town setzen und ich bin eh aus Janus' Geschäft raus, daher ist das schon einmal kein Problem. Aber was ist, wenn er seine Meinung ändert und mich doch meldet?
Nachdenklich vergrabe ich mein Gesicht im Kissen, reibe meine kalten Zehen aneinander. Ich brauche einen neuen Job. Einen gut bezahlten Job. Dringend. Ich muss Geld für Fenix auf die Seite schaffen, sodass er auch Wochen ohne mich überleben könnte, sollte man mich einsperren und foltern. Allein der Gedanke lässt mich erschaudern, doch ich verbanne ihn. Was Xavian macht oder auch nicht macht, kann ich nicht beeinflussen. Aber ich habe im Griff, ob ich mich in Selbstmitleid suhle oder ob ich das mache, worüber ich Macht habe.
So stehe ich beim Aufblitzen der ersten Sonnenstrahlen bereits in der Küche und habe Fenix' Medizin und Frühstück vorbereitet, als er aus dem Bett krabbelt.
"Was ist mit deiner Hand, Cia?"
"Ach das", winke ich belanglos ab und spule die einstudierte Lüge ab. "Habe mich geschnitten. Nicht weiter schlimm. Aber sag, wie geht es dir?"
Und damit habe ich erfolgreich von mir abgelenkt und für ein paar Tage das Tragen des Verbandes gesichert. Besser als nichts, wenn auch noch weit genug entfernt von den Monaten, die mir Xavian empfahl. Ich bringe Fenix zu Alice, dann mache ich mich auf den Weg.
Doch so sehr ich mich auch bemühe, die Hälfte der verfügbaren Jobs kann ich aufgrund meines Geschlechtes streichen, ein weiteres Viertel durch meinen Analphabetismus. Die Bäckerin schüttelt ebenfalls den Kopf, als sie meine verletzte Hand erblickt. Auch beim Metzger oder Schmied gehe ich leer aus. Kaum setzt die abendliche Dämmerung ein, die Zeit, bei welcher ich normalerweise den letzten Feinschliff an Frisur oder Maske vornehme, bevor es vor die Adleraugen geht, kehre ich bei der Post ein.
"Hi." Ich setze mein Lächeln auf, obwohl meine Chancen gleich Null sind. Ich kann nicht lesen - wie soll ich dann hier behilflich sein?
"Ciana, schön dich zu sehen!" Rosalie empfängt mich mit einem aufrichtigen Lächeln und schafft es, meinen Trübsal in den Wind zu schlagen. "Wie geht es dir? Und Fenix?"
"Gut", quetsche ich hervor und meine genau das Gegenteil. Aber sie merkt es nicht. "Ich hätte mal eine andere Frage: sucht ihr hier Verstärkung?"
Rosalie, eine Frau im mittleren Alter und einer verkratzten Brille auf der Nase, legt bedrückt den Kopf schief.
"Tut mir leid, Ciana, wir sind aktuell überbesetzt. Bin gespannt, wer hier demnächst rausgeworfen wird, wenn wir einander noch länger auf die Füße treten."
"Okay, kein Problem." Riesen Problem. Damit wäre meine letzte Hoffnung dahin. Nun bleibt nur noch irgendeine Fabrik unter Hand eines Adlers - genau das, was mir meine Eltern immer ersparen wollten.
"Aber vielleicht kann dich deine Post ein wenig aufheitern."
Verblüfft reiße ich die Augen weiter auf. "Meine Post?" Habe ich die monatlichen Kosten nicht schon abgedeckt? Für Fenix' frische Medizin musste ich heute bereits die letzten Taler zusammenkratzen - ich bin am Ende. Am meisten mit meinen Nerven.
"Ein Paket aus der Main Town. Ich hole es geschwind."
Sie eilt in die Kammer hinter der Theke und stöbert durch die unzähligen Kartons, die dort bis zur Decke getürmt sind, derweil mein Puls rast. Ein Paket? Normalerweise bekomme ich nur Briefe, wenn überhaupt. Ich zahle immer pünktlich, um es Fenix zu ersparen, mir Mahnungen vorlesen zu müssen. Aber aus der Main Town? Der Direktor wird mir wohl kaum noch irgendetwas schicken, daher kann es nur von Einem kommen.
"Hier." Rosalie schiebt den Karton zu mir, doch ich greife nicht zu. "Heute Morgen erst dort weg und schon hier. Da hat wohl jemand ein paar Taler mehr fließen lassen."
Das Herz hämmert wild in meinem Brustkorb.
"Vermutlich", murmele ich daher und schaffe es mit einem "Danke dir" gerade bis zum Tisch in der Ecke, bevor meine Beine unter mir nachgeben können. Was zur Hölle will Xavian von mir? Lauert dort drin eine Drohung für mich? Aber würde dafür nicht ein Brief genügen? Es sei denn er ahnt, dass ich nicht lesen kann und braucht ein ganzes Paket voll, um mich an meine Schuld zu erinnern.
Ich reiße die Schnüre zur Seite, nehme einen tiefen Atemzug und wappne mich für das Schlimmste. Dann öffne ich die Box - und blicke meinem Stiefel entgegen.
Wie bitte?
Er zahlt dafür, um einer Einbrecherin ihren Schuh wiederzubringen? Und gibt damit den einzigen Beweis, dass wirklich ich dort war, aus der Hand?
Gut, womöglich braucht er keinen Beweis, solange er meinen Namen hat. Immerhin scheinen für die Ashfords selbst unter den Adlern andere Regeln zu gelten. Aber dennoch ist dieses Paket ... verwirrend. Wie alles an ihm.
Rosalie lugt zu mir. "Alles in Ordnung, Ciana? Du bist so blass."
Vor Schock, Erleichterung, Ungläubigkeit - ich kann es nicht definieren. Immerhin muss ich mir keine neuen Stiefel kaufen, denn mit den ungefütterten Sommerschuhen, die ich seit dem Einbruch notgedrungen trage, wäre ich niemals über den Winter gekommen.
Eilig nicke ich und will gerade wieder das Paket verschließen, als mir ein kleiner Zettel unter den Schnürsenkeln auffällt. Obwohl ich mir keine großen Hoffnungen mache, ziehe ich ihn hervor und falte ihn in einer besorgniserregenden Ungeduld auseinander.
Doch als ich auf einen Salat an Buchstaben blicke, zugegeben in einer äußerst sauberen Handschrift, und nicht einen davon codieren kann, schlucke ich enttäuscht. Hatte ich mir tatsächlich Hoffnungen gemacht, dass da etwas gezeichnet sein könnte? Etwas, was mir keine Hürde darstellt?
Niemals werde ich Rosalie, Janus, Alice oder gar Fenix die Notiz eines Adlers zeigen, wenn ich nicht einmal ahne, was sich darin verbirgt. Warnt er mich davor, niemals wieder einen Fuß in die Main Town zu setzen? Macht er sich über meinen gescheiterten Diebstahl lustig? Oder fragt er besorgt nach, wie es um meine Hand steht?
Ich schüttele den Kopf über die Absurdität meiner Gedanken, raffe alles zusammen und verlasse das Gebäude. Dabei bin ich so in meine Gedanken vertieft, dass ich nicht weiß, wie oft mein Name bereits fiel, bis ich Anya bemerke. Sie steht auf dem Gehweg neben einer bereits angezundenen Laterne und winkt mir energisch zu.
"Hey, Ciana!"
Ein kurzer Blick von links nach rechts, doch wenigstens war ich aufmerksam genug, um zu realisieren, dass ich nicht gleich von einer Kutsche überfahren werde. Zugegeben, von denen gibt es hier in der Sub Town eh so wenige, dass man sie vermutlich an einer Hand abzählen könnte.
"Dich habe ich ja schon ewig nicht mehr gesehen, Cat!", zieht sie mich gleich mit meinem Spitznamen auf, aber ich freue mich zu sehr darüber, meine Kindheitsfreundin nach Jahren wieder einmal zu sehen, als dass ich sie darauf anspreche. "Erzähl - was hab ich verpasst? Abgesehen davon, dass du es sogar geschafft hast, zu schrumpfen."
"Kann nichts dafür, dass du schneller wächst als Efeu", entgegne ich und werde von ihr mit schallendem Lachen in die Arme gezogen. Es ist nicht die Umarmung, nach der ich mich sehnte, keine von denen, in denen man sich fallen lassen und öffnen will, aber doch ein letzter Lichtblick an diesem trüben Tag. Wäre da nicht diese Parfumwolke, die mir in der Lunge brennt. "Wo treibst du denn bitte in der Sub Town Parfum auf?"
Sie kichert, tritt zurück und fährt sich durch ihre perfekt gestylten, blonden Haare. Erst jetzt fällt mir auf, dass ihr Mantel aus echtem Pelz besteht und die Stiefel poliert sind. Unsicher runzele ich die Stirn. Hat sie sich in die Main Town eingeheiratet? Das würde zumindest ihre schnieke Erscheinung und die Abwesenheit der letzten Jahre erklären. "Na, in der Main Town gekauft. Soll ich mich etwa mit dem Kanalduft von hier einsprühen?" Sie verdreht die Augen und beugt sich verschwörerisch zu mir. "Glaub mir: mit dem richtigen Job bleiben uns die Türen zu den Geschäften der Main Town nicht verschlossen."
"Du wohnst nicht in der Main Town?"
"Um Gottes Willen, Cat, bloß nicht! Die Adler sind widerwärtig. Aber sie zahlen gut. Das erlaubt mir ein sorgenfreies Leben." Sie zuckt mit den Schultern, doch es wirkt nicht gleichgültig, vielmehr ratlos. "Irgendjemand muss unsere Familie ja aus dem Dreck ziehen. Wer könnte das besser als die einzige Tochter unter vier Söhnen?"
Meine Neugierde ist geweckt, vollkommen. Sie kann sich mühelos über Wasser halten und offensichtlich auch für ihre Familie sorgen. Genau das, was ich für Fenix und mich begehre.
"Darf ich fragen, wo du arbeitest?"
Anya zieht überrascht eine Augenbraue in die Höhe, dann schüttelt sie streng den Kopf.
"Das ist nichts für dich, Cat."
Oh, wenn sie wüsste. Ich bin nach meinen Einbrüchen sicherlich nicht mehr das brave, unschuldige Mädchen von früher.
"Ich brauche einen Job", dränge ich sie und lege einen flehenden Blick auf. "Bitte."
Sie schiebt die Hände in ihren Mantel und wirkt auf einmal distanziert. "Cat..."
"Ich weiß nicht, wie ich nächste Woche etwas auf den Tisch bringen soll, Anya. Du weißt, dass..." Fenix und ich alleine sind, auch wenn sie nicht weiß, dass er an Maladis erkrankt ist. Ich sage es nicht, aber sie versteht das Schweigen.
"Ich weiß." Sie atmet langsam aus, bläst den Dunst hinaus in den Himmel und schaut ihm nachdenklich hinterher. "Ich arbeite in einer Bar. Zwischen der Main und Sub Town."
"Dort zahlen sie besser?", hake ich nach. Vielleicht lassen die Adler aber auch nur mehr Trinkgeld liegen.
Sie weicht meinem Blick aus. "Für gewisse Dienste bekomme ich in einer Nacht schon etwa ein halbes Monatsgehalt meiner Mutter."
"Gewisse Dienste?"
"Cat, hör auf, ja? Ich möchte dich da nicht hineinziehen."
"Du schläfst mit Adlern", stelle ich fest und bin entschlossen, sie erst von meinen Fragen zu erlösen, wenn ich zufriedenstellende Antworten habe. Denn Fenix' Erlösung liegt zwischen der Main und Sub Town und ich bin bereit, alles für ihn zu machen.
Anya vergräbt das Gesicht in ihren Händen, seufzt voller Verzweiflung. "Dass du noch nicht einmal gleich wusstest, wovon ich spreche...Cat, wirklich, es ist einfacher, wenn man erfahren ist. Abgestumpft."
Ich beiße mir auf die Unterlippe. Ja, ich hatte noch keinerlei sexuelle Erfahrung, noch nicht einmal einen ersten Kuss, weil meine Jugend keinen Raum dafür ließ. Vergnügen gab es für mich nicht, nur Fenix und der Kampf ums Überleben. Obwohl ich damit einiges verpasst haben mag, würde ich es immer wieder so machen. Fenix ist meine Familie.
"Mir egal. Ich bin bereit, zu lernen."
Meine Freundin schüttelt den Kopf. "Ciana, du wirst dort zugrunde gehen. Verstehe doch, sie werden dir mit Vergnügen helfen, alles zu lernen."
Ein Schauer läuft mir über den Rücken und wäre wohl das Zeichen, dass ich nicht bereit für solch einen Job bin. Doch er bringt Geld, viel Geld, und ihn kann ich auch mit gebrochener Hand meistern.
Niemand aus meinem Umfeld, abgesehen von Anya, wird jemals davon erfahren, was ich bereit bin zu gehen. Weil ich mich schon jetzt schäme. Weil ich meinen Körper verkaufen werde, doch mehr als das bin ich auch nicht. Ich habe nichts und abgesehen von ein paar Tricks am Tuch kann ich nichts. Somit bleibt mir nur mein Körper.
"Bitte, Anya. Für Fenix. Ich habe nur noch ihn."
Pure Ratlosigkeit spiegelt sich in ihren Augen wider. Sie weiß genau, was mir bevorsteht und das schreckt sie so sehr ab, dass mir fast schlecht vor Angst wird.
"Gut. Ich spreche nachher gleich mit meinem Chef, okay? Wenn wir Bedarf haben, bin ich morgen um dieselbe Uhrzeit wieder hier." Sie wendet sich zum Gehen ab, dreht sich dann aber noch einmal zu mir um. "Aber Cat, sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt."
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