8 • Ciana
Ich sollte nicht Recht behalten - dieser Abend kann noch schlimmer werden. Dabei wirkt Fenix auf den ersten Blick wie sonst auch immer.
"Rate, was wir neu gemacht haben!"
Euphorisch hüpft er durch Alices Wohnzimmer und zieht mich hinter sich her zu der Salzteig-Stadt. Augenblicklich prüfe ich jedes Haus, die verwinkelten Gassen und zeige mit der unversehrten Hand souverän auf die Parkbank neben dem Bach.
"Die hier."
Alice wuschelt Fenix durch die dunklen Haare. "Jetzt haben wir sie aber ganz schön reingelegt, Großer."
Fenix klatscht in die Hände und jubelt mit einer Freude, die mich beinahe meine Sorgen vergessen lässt. Aber nur beinahe.
"Nein", singt er und zieht das Wort in schiefsten Tönen in die Länge.
Ich trete näher an die aufgebaute Stadt auf dem Tisch und erkenne meinen Fehler: sie haben die Bank einfach nur umgestellt.
"Ihr macht es mir wirklich nicht einfach", merke ich an und beginne systematisch, die Stadt von links nach rechts zu durchforsten. Der Briefkasten war schon da, das Schild vor der Bäckerei ebenso - dann sehe ich es. Das feine Stück Salzteig, das vertikal inmitten des Zirkuszeltes angebracht wurde und ein Tuch symbolisiert. Es ist wie ein Schlag in die Magengrube, doch ich fange mich, bevor mir meine Züge entgleisen können. "Ich hab's!"
Fenix freut sich genauso über meinen Erfolg wie über meinen anfänglichen Misserfolg. "Ich musste heute die ganze Zeit an dich denken, Cia. Weiß auch nicht warum. Irgendein dummes Bauchgefühl. Und dann kamen wir auf die Idee, dich zu uns zu holen."
"Das ist..." verdammt gruselig. Fenix ist zwar anhänglich, aber er hat gelernt, mit meiner Abwesenheit umzugehen. Man könnte hingegen meinen, er hat ein Gespür für mein Unbehagen entwickelt. "... euch fantastisch gelungen."
"Und morgen machen wir dann dich!" Fenix zupft an meinem Umhang, damit ich ihn anschaue. Ich zwinge mich dazu, das Lächeln zu bewahren und blicke ihm in die Augen, die ein Ebenbild meiner sind. Nur, dass seine heute voller Lebensenergie sprühen, derweil mich das letzte Fünkchen Hoffnung im Stich lässt. "Und dann brauchen wir noch das Orchester. Oder den Direktor."
Lass mir den bloß vom Hals. Doch das sage ich gar nicht erst.
"Ihr wagt euch aber an zerbrechliche Formen."
"Also bitte!" Empört stemmt mein Bruder die Fäuste in die Seiten. "Wir sind Profis."
Mehr als ich, zweifelsohne. Alice legt Fenix eine Hand auf die Schulter und deutet zu seiner dicken Jacke, die direkt neben der Türe hängt.
"Warum gehst du nicht schon einmal vor, Großer? Ich würde gerne noch mit Ciana reden. Alleine."
Überrascht presse ich meine Lippen aufeinander. Das hört sich nicht gut an. Fenix blickt unschlüssig zu mir, doch ich nicke ihm aufmunternd zu. "Wenn du magst, kannst du schon einmal das Brot schneiden, ja?"
Fenix versteht die verschlüsselte Botschaft dahinter problemlos - wenn er kann, nicht wenn er mag. Ansonsten soll er sich unter seine Decke verkriechen und dort auf mich warten.
Erst als die Tür hinter ihm zufällt, führt Alice mich ins Badezimmer.
"Er hat heute wieder Blut gespuckt."
Als Beweis präsentiert sie mir das Handtuch, das ich ihr für diese Fälle gab, damit sie ihre eigenen nicht opfern muss. Tiefrote, noch frische Flecken tränken den Stoff.
"Viel", stelle ich ernüchtert fest.
"Sehr viel." Alices Blick scheint mich forschend zu durchbohren. "Du solltest die Menge erhöhen."
Schwach nicke ich und kralle mich am Waschbecken fest, als die knallharte Realität auf mich einschlägt. Die Medizin ist fast aufgebraucht und der Lohn diesen Monat fällt aus. Dabei wären es nur noch zwei Aufführungen gewesen, nicht mehr. Dass ich gar nicht erst um das Geld betteln muss, das mir trotzdem zusteht, weiß ich auch.
"Das werde ich", versichere ich ihr, auch wenn ich nicht ansatzweise weiß, wie.
Alice nickt und für einen kurzen Moment scheint sie zu zögern. Doch sie ist kein Mensch, der das herunterschluckt, was einem auf der Zunge brennt. Vielleicht sollte ich mir ein Vorbild an ihr nehmen.
"Alles gut bei dir?"
Aber ich bin nicht Alice und so presse ich ein "Wie immer" hervor, auch wenn mein Körper von einer Emotionsflut heimgesucht wird. Ich könnte mir gerade vor Verzweiflung die Seele aus dem Leib schreien oder den Damm vor meinen Tränen einreißen. Ich könnte...ich bräuchte vor allem eine warme Umarmung. Schutz, Verständnis und Liebe.
Alice auch noch meine Lasten aufzutragen, bringe ich jedoch nicht über mich - ich bin mehr als dankbar dafür, dass sie Fenix zur Seite steht. Und so nehme ich ihr mit einem knappen "Ich wasche es aus und bringe es morgen wieder" das Handtuch ab und fuchtele in Richtung Tür. "Danke dir, Alice."
"Nichts zu danken, Liebes." Sie stützt sich wieder auf ihren Gehstock und gibt mir damit eine Prise Hoffnung, weil ein langes Leben auch hier in der Sub Town möglich ist. Weil sie Falten im Gesicht hat und Narben auf den Armen. Doch sie ist fit, sowohl im Geiste, als auch in ihren Fingern, wobei Letzteres sicherlich ihrer Arbeit am Webstuhl zu verdanken ist. Wenn ich mir ein Leben aussuchen könnte, das ebenso viel Glück im Alter haben sollte, es wäre Fenix. Dabei muss ich froh sein, wenn er diesen Winter überlebt. "Bis morgen."
Ich lächele, obwohl mir nach allem anderen zumute ist. "Bis morgen."
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